Читать книгу DIE VERGESSENE KATHEDRALE (Die Ritter des Vatikan 7) - Rick Jones - Страница 10
Kapitel 4
ОглавлениеKimball schlief mit dem Unterarm über seinen Augen, als jemand laut gegen seine Kammertür hämmerte. Das eindringliche Klopfen verkündete Kimball sofort, dass etwas nicht stimmte. Augenblicklich sprang er aus dem Bett und riss die Tür auf. Auf der Schwelle stand Bischof Remaldi, in dessen Augen tiefste Sorgen abzulesen waren.
»Bischof?«, begrüßte ihn Kimball eher fragend.
Ohne seinen Gruß zu erwidern, sagte der Bischof: »Der Generalinspekteur der Vatikanpolizei wünscht Ihre sofortige Anwesenheit.« Die Vatikanpolizei war sowohl das Sicherheitsorgan des Vatikan als auch der exterritorialen Hoheitsgebiete des Heiligen Stuhls.
»Wieso?«
Der Bischof bemühte sich sichtlich, die Fassung zu bewahren. »Haben Sie es denn noch nicht gehört?«
»Ich habe bis vor einer Sekunde geschlafen.«
»Papst Pius …«, stieß der Bischof mühsam hervor. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »… er ist auf dem Petersplatz angeschossen worden.«
Einen Moment lang hatte Kimball das Gefühl, dass ihm das Herz stehen blieb, als sich die Nachricht immer tiefer und schmerzlicher in seine Magengrube bohrte. Zuerst wollte er gegen diese ungeheuerliche Nachricht protestieren, doch als ihm klar wurde, dass er wahrscheinlich nichts weiter als unverständlichen Unsinn hervorbringen würde, stürmte er einfach wortlos aus seinem Quartier, ohne die Tür hinter sich zu schließen.
***
Die Vatikanpolizei war für die Sicherheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, die Grenzkontrollen während der Papstaudienzen, kriminalistische Untersuchungen und klassische Polizeiarbeit im Vatikan zuständig. Außerdem verfügte sie über Verbindungen zu Interpol, zu deren Mitgliedern auch der Vatikan zählte. Zu den spezialisiertesten Einheiten der Vatikanpolizei gehörten zwei Eliteeinheiten – die Gruppo Intervento Rapido, eine schnelle Eingreiftruppe und eine Anti-Sabotage-Abteilung, die Unità Antisabotaggio.
Über der Tür, die in die Halle der Vatikanpolizei führte, war eine Statue des Erzengels Michaels zu sehen, dem Schutzpatron der Organisation. Zufälligerweise war Erzengel auch der frühere Rufname von Kimball gewesen, ein Name, den er später als Vatikanritter allerdings abgelehnt hatte.
Als Kimball die Halle betrat, fiel ihm als Erstes das hektische Treiben der Sicherheitsleute auf. Jeder von ihnen trug eine standardisierte Glock 17 als Pistole und die typische Tracht der Vatikanpolizei. Kimball hingegen trug das Gewand der Vatikanritter. Ein schwarzes klerikales Hemd, einen römisch-katholischen Kragen und von der Hüfte abwärts Militärhosen und Stiefel.
Er begab sich jetzt unverzüglich zum Empfangspult, welches ähnlich wie eine richterliche Kanzel etwas aufragte. Der Offizier sprach Kimball auf Italienisch an. Kimball bat ihn daraufhin, ins Englische zu wechseln, was dieser sofort tat.
»Mir wurde gesagt, dass der Generalinspektor meine Anwesenheit wünscht«, erklärte Kimball ihm. Hinter ihnen herrschte rege Betriebsamkeit. Jene, die hier das Kommando hatten, riefen ständig Befehle in die Halle hinein, um zumindest den Anschein von Ordnung zu erwecken.
»Und Sie sind?«
»Kimball Hayden.«
Der Offizier nickte daraufhin und tätigte einen Anruf. Nachdem er Kimball angekündigt hatte, drehte er sich zu ihm um und sagte: »Links den Gang hinunter. Folgen Sie einfach den Zeichen bis zu Vernehmungszimmer Nummer Sieben. Sie erwarten Sie bereits.«
Sie? »Danke.«
Während Kimball den Korridor zu Vernehmungszimmer Nummer Sieben entlangschritt, sah er in Gedanken unweigerlich Bonaseros Gesicht vor sich und rief sich all ihre gemeinsamen Momente ins Gedächtnis, angefangen von seiner ersten Begegnung mit Bonasero in einer kleinen Bar in Venedig bis hin zu dem persönlichen Moment, den sie vor zwei Tagen erst in den päpstlichen Gemächern geteilt hatten. An alle Begebenheiten dazwischen erinnerte er sich mit reiner Liebe, denn Bonasero war stets mehr ein Vater für ihn gewesen, als es sein leiblicher Vater je gewesen war. Er war derjenige, der für Kimball immer ein offenes Ohr hatte und der ihm den rechten Weg wies, wenn Kimball mal verloren ging – was leider nicht selten geschah. Als der Bischof ihn über das Attentat informiert hatte, war Kimball nicht imstande gewesen, die furchtbare Wahrheit zu erfassen und hatte das Ganze vielmehr für einen grausamen Scherz gehalten. Doch die Augen des Bischofs hatten nicht gelogen, in ihrer tiefen Schwärze hatte er den Schmerz und die düstere Wahrheit lesen können. Als die Realität Kimball schließlich einholte, verschlang eine rohe und ungezügelte Wut den Vatikanritter. Das Gefühl war so stark, dass er es kaum unter Kontrolle halten konnte.
Er folgte dem Korridor wie angewiesen und erreichte schließlich einen Raum auf dessen Tür Stanza degli interrogatori Sette zu lesen war, eine Sprache, der Kimball immer noch nicht mächtig war. Also erkundigte er sich bei einem Polizisten in der Nähe, indem er auf das Schild am Eingang deutete: »Ist das der Vernehmungsraum Nummer Sieben?«
Der Gardist nickte. »Si.«
»Danke.« Kimball klopfte daraufhin an die Tür und trat sofort ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Im Raum befanden sich der Generalinspektor der Vatikanpolizei sowie zwei ihm bekannte Gesichter des vatikanischen Geheimdienstes, die Jesuitenpriester Pater Auciello und Pater Essex.
Kimball wunderte sich, wieso der SIV in die Sache involviert worden war, da das Attentat doch zweifellos in die Zuständigkeit der Vatikanpolizei fiel.
Pater Auciello winkte ihn heran und wies auf einen leeren Stuhl. Kimball bemerkte das fragende Gesicht des Generalinspektors, der offenbar gerade versuchte, sich einen Reim auf die Zusammenstellung von Kimballs Kleidung zu machen … bis zur Hüfte Priester, doch darunter Soldat.
Pater Auciello reichte dem Vatikanritter die Hand. »Schön, dich zu sehen, Kimball.« Seine Stimme klang seltsam tonlos.
Nachdem er auch Pater Essex die Hand geschüttelt und dem Generalinspektor vorgestellt worden war, nahm Kimball auf dem ihm angebotenen Stuhl Platz, der aufgrund seiner hünenhaften Statur allerdings viel zu klein wirkte.
»Ich wurde soeben von Bischof Remaldi darüber informiert, dass auf Bonasero geschossen worden ist«, sagte Kimball. »Wie ist sein aktueller Status?« Er hatte die Frage kaum gestellt, als er innerlich schon zusammen zuckte, denn obwohl er das Beste hoffte, rechnete er doch unweigerlich mit dem Schlimmsten.
Pater Auciello war ein tiefgebräunter Mann mit schlohweißem Haar und kakaobraunen Augen. »Auf dem Weg ins Gemelli«, antwortete er ruhig, »erlitt der Pontifex einen Herzstillstand.«
Kimball spürte einen unfassbaren Stich in seinen Eingeweiden.
»Aber es gelang ihnen, ihn wieder zurückzuholen«, fügte Auciello hastig hinzu. »Allerdings sind sie nicht sicher, ob er dabei Hirnschäden davongetragen hat, denn anschließend ist er ins Koma gefallen.«
Kimball nickte stumm. Aber immerhin ist er noch am Leben!
»Der Grund, warum wir dich hierher gebeten haben, Kimball«, begann Pater Essex, der stellvertretende Direktor und britischer Abstammung war, seines Akzents nach zu urteilen, nachdem er sich nach vorn gebeugt und seine Ellbogen auf den Tisch gestemmt hatte, »ist der, dass es der Vatikanpolizei gelungen ist, den Schützen festzunehmen.«
»Genau deshalb verstehe ich auch nicht, was meine Anwesenheit dann hier erforderlich macht«, erwiderte Kimball. »Diese Art der Untersuchung fällt doch ganz klar in den Verantwortungsbereich der Vatikanpolizei.«
Essex nickte. »Das ist vom Grundsatz her richtig, aber in diesem speziellen Fall ist es etwas komplizierter.«
»Warum?«
»Wir sind hier, weil wir wissen, wer der Schütze ist.«
Kimball lehnte sich in seinem Stuhl zurück und dachte nach. Am 13. Mai 1981 war Papst Johannes Paul II. beinahe von Mehmet Ali Ağca umgebracht worden. Der Attentatsversuch war anscheinend auf Anweisung des KGBs in Auftrag gegeben worden, unter Mithilfe der Geheimdienste Bulgariens und der ehemaligen DDR. Spätere Untersuchungen ergaben, dass der KGB den bulgarischen Geheimdienst deshalb mit der Ermordung des Papstes beauftragt hatte, weil dieser öffentlich mit der polnischen Solidarność sympathisiert hatte, die als ernsthafte Bedrohung der sowjetischen Vormachtstellung in Osteuropa angesehen worden war. War dieser Mordanschlag hier ebenfalls politisch motiviert? Kimball hielt das für sehr unwahrscheinlich. Aber aus welchem Grund könnte der SIV sonst hier sein?
»Um wen handelt es sich?«, fragte Kimball neugierig.
»Zuerst einmal wurde der Generalinspektor zur Geheimhaltung verpflichtet. Es ist ihm nicht gestattet, mit irgendjemanden über deine Anwesenheit hier zu sprechen. Aus offensichtlichen Gründen haben wir bestimmte Informationen darüber, wer du bist oder was du tust, der Vatikanpolizei verschwiegen. Er weiß nur, dass du für die Kirche von großer Bedeutung bist.«
Kimball warf dem Generalinspektor, einem kleinen Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und schwarzen Augen, einen intensiven Blick zu. »Wieso tut ihr alle so, als wäre der Kerl gar nicht da? Er sitzt immerhin keinen Meter von mir entfernt.«
»Weil er kein Englisch spricht. Nicht ein einziges Wort. Aber er ist nun mal der Generalinspektor, was bedeutet, dass diese Sache hier in seinen Zuständigkeitsbereich fällt.«
»Wieso kriege ich immer mehr das Gefühl, dass das Ganze auch in meinen Zuständigkeitsbereich fällt?«
»Wegen des Schützen«, sagte Essex ernst.
»Und was ist mit ihm?«
»Dir wird nicht gefallen, was wir dir gleich zeigen.«
»Wieso nicht?«
»Ich denke, es ist das Beste, wenn du es dir selbst ansiehst.«
Essex und Auciello erhoben sich daraufhin. Der Generalinspektor folgte ihnen, und auch Kimball schloss sich ihnen an. Sie verließen jetzt den Raum und betraten einen angrenzenden Korridor, der so schmal war, dass sie ihn nur nacheinander durchqueren konnten. An dessen Ende befand sich ein quadratischer Raum, der in eine Gefängniszelle mündete. Vor der Tür hielten zwei Männer der Vatikanpolizei Wache. Nachdem der Generalinspektor auf Italienisch einen Befehl gebrüllt und wild mit der Hand gewedelt hatte, nickte der erste Wachmann, zog eine Karte über ein Lesegerät und tippte anschließend einen Code in ein Zahlenfeld ein, welches die Verriegelung der Zellentür zurückfahren ließ und diese öffnete. Mit einem leisen Flüstern öffnete sich die Tür und schwang einen Spalt breit auf. Der Wachmann packte den Türgriff, zog sie vollends auf und gestattete Kimball damit einen Blick in die Zelle.
Kaum, dass Kimball die Zelle betreten hatte, erkannte er den Schützen. Er öffnete leicht den Mund zu einem Protest, dann fasste er sich jedoch und trat noch ein paar Schritte in die Zelle hinein. Mit seinen Augen fixierte er unentwegt den Attentäter, der mit gekreuzten Beinen und den Händen auf seinen Knien auf der Matratze saß. Unterschiedliche und widersprüchliche Gedanken schossen Kimball nun durch den Kopf. Er war vollkommen verwirrt und unfassbar wütend, und jegliche Vernunft und Logik schienen ihm abhandengekommen zu sein.
Der Attentäter blickte mit leeren Augen zu ihm auf und sagte: »Hallo Kimball. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich mich freue, dich zu sehen.«
Kimball hätte den Mann am liebsten umgebracht.