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Kapitel 5

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Der zweite Attentäter hatte sich derweil in einem Hotel in Rom unweit des Kolosseums versteckt und verfolgte die Nachrichten, die das laufende Fernsehprogramm einfach an sich gerissen hatte. Papst Pius war angeschossen und schwer verwundet worden, aber er lebte noch und befand sich derzeit im Koma – das war zumindest die Spekulation diverser Berichterstatter ausgehend von den Informationen, die über das Krankenhauspersonal nach außen gedrungen waren. Darüber hinaus war allerdings nur wenig bekannt.

»Das wird den Meistern nicht gefallen«, sagte er auf Deutsch zu sich selbst. »Kein bisschen.«

Wie auf ein Stichwort hin begann nun sein Satellitentelefon zu klingeln. Nur eine einzige Nummer war darin eingespeichert. »Ja, ehrwürdige Meister«, meldete er sich.

»Der Papst lebt noch.«

»Aber nicht mehr lange.«

»Das können wir nicht wissen. Bonasero Vessucci ist ein sehr starker Mann. Ein Mann der Überzeugungen. Das weiß ich aus erster Hand.«

»Ja, Meister.«

»Bring es gefälligst zu Ende.«

»Ja, ehrwürdiger Meister.«

Nachdem er aufgelegt hatte, lief der Attentäter zu seinem Schrank, holte einen kleinen Aluminiumkoffer daraus hervor und legte ihn auf das Bett. Darin befanden sich die Einzelteile einer Glock, zusammen mit einem passenden Schalldämpfer, der beinahe so lang wie der Pistolenlauf selbst war. Nachdem er die Teile zusammengesetzt, das Magazin eingelegt und die Waffe durchgeladen hatte, entfernte er das Schaumstoffbett des Koffers, um das freizulegen, was sich darunter verbarg.

Ungerührt betrachtete der Attentäter die Weste. Jegliche Empfindungen oder Gedanken waren nun verstummt. Er reagierte nur noch auf die Wünsche, die man ihm eingepflanzt hatte und die nicht seine eigenen waren. Leben und Tod waren für ihn nicht mehr von Bedeutung, und deshalb empfand er auch keine Furcht.

Er nahm die Weste heraus, untersuchte sie sorgfältig und tastete über die dünnen Pakete Semtex, die daran befestigt waren. Die Drähte waren allerdings noch nicht mit der Zündvorrichtung verbunden. Nachdem er sich die Weste angelegt hatte, kümmerte er sich um die Verkabelung. Als ein rotes Warnlicht die korrekte Verbindung signalisierte, zog er den Draht zuerst zu dem Druckknopf-Auslöser an seinem Arm, dann bis hinunter zu seiner Hand und klebte ihn schließlich mit Klebeband daran fest. Um den Druckknopf betätigen zu können, musste man erst eine Abdeckung zurückklappen. Zu guter Letzt zog er sich ein Hemd und eine Anzugjacke über die Weste und ließ sein Schulterholster unter den Falten des Jacketts verschwinden.

Danach betrachtete sich der Attentäter aufmerksam im Spiegel. Sein Gesicht war jung und schlank, mit hauchdünnen Linien an den Stellen, wo sich einmal Krähenfüße bilden würden. Sein Haar war rabenschwarz und seine Augen waren ebenso dunkel. In ihnen schien nichts mehr zu existieren – kein freier Wille, kein Gewissen und kein Selbsterhaltungstrieb, der für seine Träume oder Beweggründe verantwortlich war … nichts außer einem Vakuum, angefüllt mit Stimmen, die ihm fremdartig und zugleich wohlvertraut erschienen.

Nachdem er seine Anzugjacke glatt gestrichen und auf verräterische Beulen untersucht hatte, die misstrauische Blicke hätten auslösen können, begannen ihm die Stimmen zuzuraunen, dass er den Papst im Gemelli-Krankenhaus mit einer Kugel in die Brust hinrichten musste.

Er spürte das Gewicht der Weste und des Semtex darin und war sich sicher, dass er nicht versagen würde.

Die ehrwürdigen Meister würden äußerst zufrieden mit ihm sein.

***

Nachdem der Meister sein Telefonat mit dem Attentäter beendet hatte, schritt er durch dunkle Korridore unterhalb des Dschungels, die ihren Ursprung in der Sakristei der alten Kathedrale hatten. Hier unten war es angenehm kühl, im Gegensatz zu der beinahe sirupartigen Schwüle an der Oberfläche, wo die Luftfeuchtigkeit nicht selten über achtzig Prozent betrug. Uralte Fackeln säumten die Wände mit ihren knisternden Flammen, die ein seltsames und gespenstisches Licht erzeugten. Jeder Schritt, oder vielmehr jedes Schlurfen über den steinernen Boden, hallte unheimlich von ihnen wider.

Im wahren Leben lautete sein Name Gunter Wilhelm, er war ein ehemaliges Mitglied der Hitlerjugend. Als Teil der strikten Trennung zwischen der Hitlerjugend und dem Jungvolk – die Knaben des Jungvolks waren zwischen zehn und vierzehn Jahren alt, die Hitlerjugend hingegen zwischen vierzehn und achtzehn Jahren – hatte Wilhelm mit sechzehn, als Deutschland den Krieg gegen die Angriffe der Sowjets und der Alliierten zu verlieren begann und beide Organisationen herangezogen wurden, als Truppenführer gedient. Damals hatte er sogar Jungen im Alter von zehn Jahren befehligt, die die Flakgeschütze in der Nähe von Berlin hatten bedienen sollen. Aber die Situation hatte sich immer mehr verschlechtert, und die Jungs waren schließlich nach ganz Deutschland abkommandiert worden, um Suchscheinwerfer zu bedienen, bei der Kommunikation zu assistieren oder auf ihren Fahrrädern Kurierpost zu überbringen. Wer im kampffähigeren Alter war, wurde stattdessen als Soldat an die russische Front geschickt, um sich dort der Roten Armee entgegenzustellen. Auf diese Weise war ihre Zeit bei der Hitlerjugend oft schon mit sechzehn Jahren beendet gewesen. Gunter war daraufhin wie so viele Jungen in seinem Alter gezwungen gewesen, mit Erinnerungen an eine Jugend aufzuwachsen, die ausschließlich aus Tod, Sterben und Blut bestand.

Als der Kampf immer hoffnungsloser wurde und die Schlachten die Jungen zu Heimatlosen mit leeren Augen und schmutzigen Gesichtern verkommen ließ, bewahrte sich Gunter Wilhelm dennoch die Ideologien des Dritten Reiches – Versatzstücke aus Antisemitismus und Eugenik, und dem Versuch, die Qualität des Erbgutes zu erhöhen. Außerdem glaubte er fest an die Ideologie einer Herrschaft, eines Gesetzes und einer Religion … eine kollektiv vereinte Welt, in der es keine eigenen Identitäten oder abweichende Ideen gab, da nur der einen Herrschaft, dem einen Gesetz und dem einen Glauben blind Folge geleistet werden sollte. Aus dieser Überzeugung würde eine alles umfassende Harmonie erwachsen, da alles und jeder eins war. Es würde keine Unterschiede und keine Intoleranz mehr geben, da alle die gleichen Ansichten und Werte teilten und nur die Stärksten in dieser Welt überlebten. Wer hingegen keinen Wert besaß oder geistig oder körperlich eingeschränkt war, würde im Namen der Eugenik einen gnädigen Tod erfahren, um so eine Welt zu schaffen, die reine Perfektion darstellte.

Für jüdischen, katholischen oder protestantischen Glauben war in Wilhelms Welt kein Raum, genauso wenig für Moslems oder jene, denen der islamische Glaube heilig war. Da aber auch das Christentum in seinen Plänen keinen Platz hatte, ebenso wenig wie jede andere Religion, die der einen Herrschaft, dem einen Gesetz und dem einen Glauben widersprach, sehnte sich der älteste Meister des Triumvirats nach einem weltweiten Putsch, basierend auf den Werten des Dritten Reiches. Die Ansichten Hitlers waren nie sehr weit von seinen eigenen Gedanken oder Vorstellungen abgewichen, sodass er die Welt des Führers als seine eigene ansah.

Es würde eine viel bessere Welt sein, dachte er.

Als der Krieg irgendwann verloren und die meisten Kinder verwaist waren, hatte Wilhelm seine Truppe trotzdem zusammengehalten, weil er insgeheim immer noch gehofft hatte, dass das Reich noch nicht ganz verloren war. In den meisten Menschen war dieser Glaube allerdings zu dieser Zeit schon erloschen. Wenn die Jungs in seinen Reihen den Wunsch geäußert hatten, zu gehen, waren sie entweder erschossen oder auf der Stelle erhängt worden, und dabei war es immer Wilhelm persönlich gewesen, der den Abzug betätigt oder seine Hand an der Schlinge gehabt hatte.

Doch eines Tages hatte es einen Jungen gegeben, der sich ihm entgegengestellt hatte, ein Dreizehnjähriger, dem offenbar jegliche Grausamkeiten fremd waren und der nie seine Hand gegen einen anderen hätte erheben können. Aber er war ein guter Redner und ein begnadeter Soldat gewesen, dem die anderen vertrauten und folgten, weil er eine vollkommen andere Art von Glauben vertrat als Gunter Wilhelm. Statt Gesetz und Religion ließ er einen Glauben in den anderen Kindern aufflammen, der lange unter den Maximen des Dritten Reiches vergraben gewesen war. Jetzt, wo alle danach trachteten, durch Euthanasie ein perfektes Regime zu bilden, gab er ihnen Hoffnung, in Zeiten, als alles hoffnungslos schien. Er wies ihnen einen Weg ins Licht, heraus aus der obszönen Schwärze des Hitlerreiches.

Das hatte Wilhelm natürlich zutiefst beunruhigt, denn dieses dreizehnjährige Kind untergrub damit seine gesamte Autorität, und er wusste ganz genau, dass sich alle stets jenen Anführern zuwenden würden, von denen sie sich die besten Antworten oder Lösungen erhofften.

Wilhelm verlor daraufhin mehr und mehr an Macht und seine Worte wurden immer unwirksamer. Er hatte sein Team an einen Jungen verloren, der nie wirklich an das Reich geglaubt hatte.

Nur wenige waren ihm letzten Endes geblieben, um an dem Traum des Führers festzuhalten. Die meisten hatten sich von ihm abgewandt und angefangen in Wilhelm den wiedergeborenen Teufel zu sehen.

Als der Krieg schließlich endete und die Kriegsverbrecher aus Deutschland flohen, um in anderen Ländern unterzutauchen, hatte Wilhelm seinen loyalen Gefolgsleuten versprochen, dass er das Dritte Reich wiederaufbauen und zu neuem Leben erwecken würde. Doch all seine Getreuen waren im Laufe der Jahre von Krankheiten gezeichnet oder vom Tod dahingerafft worden, bis schließlich nur noch drei von ihnen übrig geblieben waren … das jetzige Triumvirat.

Tief im Gewirr der Tunnel gab es einen Bereich, der den Meistern als Wohnquartier diente. Die Räume waren großzügig und mit einigem Luxus ausgestattet … ein großes Bett, eine alte Stereoanlage, auf der sich klassische Musik von Bach und Beethoven abspielen ließ, eine Kommode mit feinen Spirituosen und Gläsern, einer umfangreichen Bibliothek und anderen Dingen, mit denen sich die Freizeit ausfüllen ließ. Auf dem Sims eines unechten Kamins, dessen kunstvolle Verzierungen den Kampf der himmlischen Heerscharen gegen die gefallenen Engel darstellten, standen mehrere Fotos, von denen einige allerdings aufgrund ihres Alters bereits vergilbt waren. Wilhelm blieb jetzt vor dem Kaminsims stehen und fuhr mit seinem Finger, der so lang und dünn wie eine Kralle war, über die Bilderrahmen. Auf einem speziellen Bild ließ er seinen Finger ruhen und griff anschließend nach dem Rahmen. Es handelte sich dabei um eine alte Schwarz-Weiß-Fotografie, deren Ränder sich trotz des schützenden Rahmens langsam aufzulösen begannen. In der unteren linken Ecke befand sich außerdem ein weißer Fleck, wo der Film einst Blasen geworfen und sich gelöst hatte. Dem Foto tat es jedoch keinen Abbruch, da sich der Fleck an einer unwichtigen Stelle befand.

Danach fuhr er mit dem Finger über das Bild, das die schmutzverschmierten Gesichter seiner Hitlerjugend-Einheit zeigte. Die Gesichter trugen kein Lächeln zur Schau, nicht einmal eine Spur davon, in das sich eines hineininterpretieren lassen würde. Jeder der Jungen stand stoisch vor den Ruinen Deutschlands. Doch der Blick von einem Jungen schien zu leuchten und im Glanze einer Vision zu erstrahlen, die nicht die Vision Hitlers gewesen war. In diesem Blick lag eine Hoffnung, und er offenbarte eine Seele, etwas, das viele in dieser Gruppe seit langer Zeit nicht mehr erlebt hatten.

Er fuhr mit der Fingerspitze über das Bild und tippte schließlich mit seinem Fingernagel auf die entsprechende Person.

… Tipp … Tipp … Tipp …

Dann hielt er inne und seufzte.

»Franz Kleimer-Schmidt«, sagte er leise. Und dann noch einmal: »Franz … Kleimer-Schmidt.«

Anschließend legte er den Rahmen mit dem Bild nach unten auf den Kaminsims, lief zu seinem Grammofon und gab sich den beruhigenden Klängen Beethovens hin.

DIE VERGESSENE KATHEDRALE (Die Ritter des Vatikan 7)

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