Читать книгу DIE VERGESSENE KATHEDRALE (Die Ritter des Vatikan 7) - Rick Jones - Страница 8
Kapitel 2
ОглавлениеDer Vatikan
Das Büro von Monsignore Dom Giammacio
Monsignore Dom Giammacio bekleidete das Amt des vatikanischen Beraters für Geistliche, die unter Selbstzweifeln und schwindender Überzeugung litten. An diesem Tag war der Gegenstand seiner Sitzung allerdings weniger der Glaube, sondern eher die Erlösung.
Der Monsignore saß schweigend mit seiner Zigarette da und betrachtete den Rauch, der träge an die Decke stieg. So wie in allen Sitzungen mit Kimball Hayden, wartete er geduldig darauf, dass der Vatikanritter sich ihm mitteilte. Als nur noch fünf Minuten der einstündigen Sitzung übrig waren, sagte der Monsignore: »Kimball, es sind nur noch fünf Minuten übrig.«
Kimball seufzte. Der Monsignore beugte sich in seinem Sessel nach vorn. »Kimball«, sagte er drängend.
Der Vatikanritter hasste die Treffen mit dem Monsignore und kam deshalb oft absichtlich zu spät. Der Pontifex bestand allerdings auf die wöchentlichen Treffen und bezeichnete sie als Katharsis … als möglichen Weg, Kimball davon zu überzeugen, dass er die Erlösung trotz seines im Grunde brutalen Naturells dennoch verdiente. Alles, was Kimball tun musste, was er verstehen und akzeptieren musste, war, sich so zu sehen wie ihn die anderen sahen, nämlich als Retter derer, die sich nicht verteidigen konnten. Kimballs Vergangenheit hatte aber einen so dunklen Fleck auf seiner Seele hinterlassen, dass er sie nicht einfach wie die Haut einer Schlange abstreifen konnte.
»Kimball, bitte.« Der Monsignore studierte scheinbar fasziniert die Rauchkringel, die von seiner Zigarette aufstiegen und an der Decke verschwanden. »Verraten Sie mir wenigstens, wie Sie sich gefühlt haben, als Ezekiel eliminiert wurde.«
Kimball zögerte, während die Bilder erneut vor seinem geistigen Auge vorüberzogen. Er erinnerte sich unweigerlich wieder an seine Zeit als Auftragskiller für die Regierung der Vereinigten Staaten, als man ihm befohlen hatte, Senator Cartwright zu töten … und an den Moment, als er seine Klinge über die Kehle des Politikers zog und den Mann ausbluten ließ. Er erinnerte sich außerdem an den Enkelsohn des Senators, der sich währenddessen in einem Schrank unter dem Bücherregal versteckt hatte. Der Junge hatte mit surrealer Langsamkeit mitansehen müssen, wie sein Großvater getötet worden war.
»Wie haben Sie sich gefühlt, als Ezekiel eliminiert wurde?«, wiederholte der Monsignore.
Kimball schloss die Augen. Er sah wieder alles so klar und lebhaft vor sich als wäre es gerade eben erst passiert. Weil er sich schuldig gefühlt hatte, hatte er sich des Jungen angenommen und ihn zu einem jungen Mann aufgezogen und schließlich sogar zu einem Vatikanritter gemacht. Doch am Ende hatte Ezekiel die gelernten Fähigkeiten gegen Kimball eingesetzt, als Vergeltung für den Mord an seinem Großvater. Kimballs eigenes frankensteinsches Monster sozusagen. Seine Schöpfung, die sich schließlich von ihm abgekehrt hatte, um ihren Meister zu töten. Doch es war Kimball gewesen, der am Ende gesiegt hatte.
»Wie haben Sie sich gefühlt, als Ezekiel ausgeschaltet wurde?«, wiederholte der Monsignore unnachgiebig mit tonloser Stimme.
Schließlich antwortete Kimball: »Ich habe ihn nicht geliebt, wenn es das ist, was Sie wissen wollen. Nicht so wie ein Vater seinen Sohn liebt, nicht einmal ansatzweise. Aber dennoch habe ich mich um ihn gesorgt.«
»Das beantwortet nicht wirklich meine Frage, oder, Kimball? Versuchen wir es noch einmal. Wie haben Sie sich gefühlt, als Ezekiel eliminiert wurde?«
Kimball warf ihm einen finsteren Blick zu. »Wieso formulieren Sie die Frage dann nicht einfach so, wie sie Sie eigentlich stellen wollen, ohne sie zu beschönigen.«
»Was meinen Sie damit?«
»Sie wissen ganz genau, was ich meine.«
»Sagen Sie es mir. Sie sind schließlich ein aufrichtiger Mann.«
Kimball wusste ganz genau, dass er damit in eine der Fallen des Monsignores tappen würde, aber es interessierte ihn nicht. »Sollte die Frage nicht eigentlich lauten: Wie haben Sie sich gefühlt, nachdem Sie Ezekiel umgebracht haben, einen Menschen, den sie aufgezogen haben, seit er ein kleiner Junge war?«
Der Monsignore blieb regungslos sitzen und ließ sich keinerlei Gemütsregung anmerken. Das einzig Lebendige an ihm schien die Rauchsäule zu sein, die immer noch von der Zigarette zwischen seinen Fingern aufstieg.
»Ich fühlte …« Doch Kimball ließ den Satz unvollendet.
»Sie fühlten was?«
Nach einem kurzen Moment sprach Kimball weiter: »Ich fühlte auf der einen Seite Reue … auf der anderen aber Erleichterung.«
»Reue und Erleichterung. Finden Sie das nicht seltsam? Sind das nicht eigentlich Gegensätze? Reue zu empfinden, weil man einen geliebten Menschen getötet hat, und gleichzeitig darüber erleichtert zu sein?«
»Er war ein Monster«, konstatierte Kimball. »Er hat unschuldige Menschen getötet.«
»So wie Sie, als Sie noch ein Auftragsmörder der Regierung waren, nicht wahr?«
»Nicht immer.«
»Aber manchmal haben Sie doch unschuldige, gute Menschen getötet, habe ich recht? Menschen, die Ihre Mission hätten gefährden können. So wie diese beiden Jungen im Irak.«
Kimball kochte nun innerlich vor Wut. Es sah dem Monsignore gar nicht ähnlich, ihn dermaßen aufzuwühlen. Ihre Beziehung war bislang eigentlich förmlich, auf eine gewisse Art und Weise aber auch herzlich gewesen. Kimball verstand deshalb nicht, was der Monsignore auf diese ruppige Weise zu erreichen versuchte. »Ich war nie so wie Ezekiel!«, stieß er hitzig hervor.
»Sie haben geholfen, ihn aufzuziehen, Sie haben sein Wesen geformt. Wie können Sie also nicht sein wie er?«
Kimball spürte, wie sich die Muskeln in seinem Arm anspannten. »Ich habe mich geändert … er nicht.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich töte nur noch, wenn ich es unbedingt muss, und niemals, weil ich es will. Er hingegen hat getötet, um seine Wut zu bezähmen.«
»Sehr richtig«, sagte der Monsignore jetzt und ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. »Sie haben sich in jemanden verwandelt, der die Schwachen beschützt. Ezekiels Seele hingegen wurde immer schwärzer und verkümmerte schließlich vor selbstgerechtem Hass. Sie beschlossen irgendwann, die Kirche vor Ezekiel zu schützen, dessen Mission es nun einmal war, deren Ende einzuleiten. Sie haben unzählige Leben damit gerettet, Kimball, auch wenn Ihr Einsatz dabei sehr persönlicher Natur war.«
»Ich nehme mal an, dass Sie damit auf etwas Bestimmtes hinauswollen?«
Der Monsignore sah ihn verblüfft an. »Sie hören sich offenbar nicht selbst zu«, meinte er. »Denn Sie haben gerade selbst erklärt, dass Sie sich verändert haben, und zwar aus eigenem Entschluss. Aber Ihre Zunge ist offenbar nicht im Einklang mit Ihrem Gewissen, denn Sie fühlen sich immer noch schuldig für Ihre früheren Taten. Sie glauben noch immer, dass Ihnen die Erlösung verwehrt wird, trotz all der guten Werke, die Sie mittlerweile vollbracht haben. Sie sagen das eine, Ihr Gewissen lässt Sie aber etwas anderes glauben. Wenn Ihr Bewusstsein und Unterbewusstsein irgendwie in Einklang gebracht werden können, werden Sie die Erlösung finden, die Sie suchen. Es liegt also ganz an Ihnen, daran zu glauben, dass Ihre Worte tatsächlich der Wahrheit entsprechen.«
Ich verstehe, dachte er. Sie wollen also, dass ich etwas eingestehe, wofür ich noch nicht bereit bin. Da ich Ezekiel nur getötet habe, um die Kirche zu retten, sollten meine Gefühle für Ezekiel längst abgeklungen sein, da er ja schließlich auf gewisse Weise das Böse verkörpert hat. »Es ist nicht so leicht, sich aus dieser Sache herauszureden«, sagte er schließlich.
Enttäuschung und Frustration verdüsterten das Gesicht des Monsignores. »Die Zeit ist leider um«, sagte er leise. Eine weitere Sitzung, die ergebnislos verlaufen war.
Während er dabei zusah, wie sich sein Patient aus dem Sessel erhob und das Büro verließ, musste sich Monsignore Dom Giammacio eingestehen, dass er langsam nur noch wenig Hoffnung hegte, Kimball Hayden je als etwas anderes, als eine verlorene Seele zu erleben.
Er begann sogar zu glauben, dass die wahre Erlösung für den Vatikanritter stets unerreichbar bleiben könnte. Also betete er für ihn und hoffte, dass es doch noch irgendeine Hoffnung für Kimballs Seele gab und dieser sich am Ende für einen Weg entscheiden würde, der ihn in die Arme des göttlichen Lichts der Liebe führen würde.
Die Antwort auf seine Gebete bestand jedoch nicht in dem Flüstern eines liebenden, verständnisvollen Gottes, sondern nur aus dem Ticken der Wanduhr im Hintergrund.
Der Monsignore saß weiter gedankenversunken da, während der Zigarettenstummel in seiner Hand gefährlich nah an seine Haut abgebrannt war. Schließlich drückte er ihn im Aschenbecher aus, lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und lauschte.
Im Hintergrund fuhren die Zeiger der Uhr fort, in gleichmäßigem Takt zu ticken.
Er betete inbrünstig.
Doch die Uhr tickte unbeeindruckt weiter.
***
Als Kimball Hayden sein Quartier erreichte, ließ er sich auf der Bettkante nieder. Auf der rechten Seite seines Zimmers stand ein Betstuhl mit ein paar brennenden Kerzen, einer Bank, auf der er noch nie gekniet hatte, und ein hüfthohes Podest mit einer Bibel darauf, die er niemals geöffnet hatte. Auf der linken Seite der Kammer befanden sich sein Bett und ein Nachttisch mit einem Stapel Militärhandbücher darauf. Das Einzige, was einen etwas bewohnteren Eindruck vermittelte. Hoch oben in der Mitte der Zimmerwand gab es ein einzelnes Buntglasfenster mit der Darstellung der Jungfrau Maria, die ihm einladend die Arme entgegenstreckte. Zu gewissen Tageszeiten, wenn die Sonne von Osten nach Westen zog, ließen die Sonnenstrahlen ihre Arme in einem beinahe himmlischen Licht erstrahlen, bereit, ihn mit ihrer Wärme zu umfangen, aber Kimball mied ihren Glanz und das Licht stets, weil er sich nicht als würdig empfand, es zu empfangen.
Zumindest noch nicht.
Ich muss mir dieses Recht nämlich erst verdienen.
In der Schublade des Nachttisches befand sich ein kleines Fotoalbum – eine altmodische Art, Erinnerungen aufzuheben, aber er besaß keinen Computer, um Fotos digital archivieren zu können. Er begann nun, langsam durch die Seiten zu blättern. Es gab Fotos von seinen früheren Einheiten und von alten Freunden, von denen mittlerweile einige tot waren und andere dieses spezielle Leben hinter sich gelassen hatten und nun Familien besaßen. Außerdem enthielt das Album Fotos seiner neuen Einheit … seiner neuen Familie … den Rittern des Vatikan. Er blätterte weiter und sah die bekannten Gesichter von Jungen, die er nach und nach zu Rittern geformt hatte, zu Kriegern, die ihr Leben dem Schutz und dem Wohlergehen der Kirche und ihrer Anhänger verschrieben hatten. In der Mitte des Albums befand sich die Stelle, nach der er eigentlich gesucht hatte. Er ließ das geöffnete Buch auf seinen Oberschenkeln ruhen. Die beiden Seiten, auf die er nun hinuntersah, waren Ezekiel gewidmet, beginnend mit seiner Rekrutierung als kleiner Junge, Schnappschüssen seines Trainings, bis hin zu dem Tag, als er zum Vatikanritter ernannt worden war. Kimball wurde plötzlich bewusst, dass der Junge nur auf einem einzigen Bild lächelte, und selbst dieses Lächeln schien unecht zu sein.
Habe ich deine Seele denn so sehr gequält?
Mit den Fingerspitzen strich Kimball über Ezekiels Bilder.
Als Ezekiel fünf Jahre alt gewesen war, hatte Kimball dessen Großvater umgebracht. In dem Versuch, sein Gewissen reinzuwaschen, hatte Kimball den Jungen anschließend mit der Unterstützung von Bonasero Vessucci, dem heutigen Papst, aufgenommen, um ihn zu einem Vatikanritter zu formen, obwohl Vessucci immer dagegen gewesen war, weil er in dem Kind eine dunkle Seite vermutet hatte. Trotzdem hatte er sich Kimballs Wunsch gefügt, weil er gehofft hatte, dass es auf diese Weise vielleicht beiden gelingen würde, ihre Wunden zu heilen.
Ezekiel wuchs jedoch mit einem Zorn heran, den er gut zu verbergen wusste und der erst dann an die Oberfläche trat, als er sich für reif genug hielt, selbst zu morden. Er wandte sich daraufhin mit Kampfkünsten gegen Kimball, der zwar sein Mentor, zugleich aber auch der Mann war, der seinen Großvater getötet hatte, und vernichtet ihn beinahe.
Aber es war Kimball gewesen, der am Ende siegreich war, doch letzten Endes hatte er sich gezwungen gesehen, das Kind zu töten, das er selbst zu einem Ritter des Vatikan gemacht hatte.
Kimball schloss die Augen und gab sich dem Gefühl hin, dass Trauer ähnelte, wenn auch nicht von so großer Intensität. Als er die Augen wieder öffnete, klappte er das Fotoalbum zu und legte es vorsichtig wieder in die Schublade zurück. Anschließend ließ er sich auf sein Bett sinken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte das Bild der Jungfrau Maria an, die bereitwillig die Arme nach ihm ausstreckte. Das Licht brach in goldenen Strahlen durch das Buntglasfenster und kleine Staubpartikel trieben wie Feenstaub umher.
Kimball streckte die Fingerspitzen nach den Lichtstrahlen aus, hielt aber wenige Zentimeter vor dem leuchtenden Schein inne. Nach einem kurzen Moment des Nachdenkens zog er sie wieder zurück und starrte an die Decke.
Noch nicht, sagte er sich. Noch verdiene ich deine Gnade nicht.
Irgendwann schloss er die Augen und sank in einen dringend benötigten Schlaf.