Читать книгу DIE VERGESSENE KATHEDRALE (Die Ritter des Vatikan 7) - Rick Jones - Страница 13
Kapitel 7
ОглавлениеSein Name als Vatikanritter war Mordechai gewesen, einst ein Mann der Tugend und der Rechtschaffenheit. Doch nun war er ein Mitglied des ehrwürdigen Kreises, ein gefallener Engel, so wie Pinchas, ein Mann, dessen Gedanken nicht mehr seine eigenen, sondern die seiner Meister waren.
Die vergangenen Stunden über hatte er in einer Bar in Rom gesessen und den Nachrichten gelauscht. Papst Pius hatte die Operation offenbar überstanden, sein Zustand war aber weiterhin kritisch und er lag noch immer im Koma. Seine Vitalwerte verbesserten sich allerdings, und die nächsten vierundzwanzig Stunden würden darüber entscheiden, ob er am Leben bleiben würde oder nicht. Über den Attentäter erfuhr man zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenig. Der Mann blieb gesichts- und namenlos, während die Medien weltweit fieberhaft nach Antworten suchten.
Im Fernsehen spekulierten die Berichterstatter natürlich und stellten wilde Vermutungen darüber an, dass es womöglich terroristische Vereinigungen mit antichristlichen Weltbildern waren, die hinter dem Anschlag steckten. Mordechai konnte nur den Kopf darüber schütteln, wie schnell die Menschen gewillt waren, einen Täter zu finden, ganz egal, ob dieser nun schuldig war oder nicht.
Während er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und sein Whiskeyglas hin und her schwenkte, empfand er nichts, denn er besaß keinen moralischen Kompass mehr, verspürte keine Angst, keinen Mut und auch keine Traurigkeit … oder irgendeine andere Art von Emotion. Er existierte einfach nur und war emotional leer.
Er war genauso wie Pinchas, denn sie beide waren auf diese Art und Weise umprogrammiert worden.
Während der Fernseher weiterlief, schloss Mordechai die Augen und lauschte stattdessen den Stimmen in seinem Inneren … dem Flüstern der Meister, die ihm den Weg wiesen und ihn vorantrieben. Es würde keinen Schmerz, keine Angst und keine Erwartungen mehr geben, denn das Einzige, was für ihn im Leben noch einen echten Wert besaß, war der Glaube an das eine Gesetz und die eine Religion.
Er öffnete seine Augen nun wieder und fuhr behutsam mit der Hand über seine Semtex-Weste, deren Konturen er unter dem Stoff seiner Anzugjacke spüren konnte.
»Eine Herrschaft, ein Gesetz und ein Glaube«, sagte er leise zu sich selbst. Dies war der Weg der ehrwürdigen Meister, der Vorväter der gefallenen Engel.
Er stand auf, legte einige Euroscheine neben sein leeres Whiskeyglas und verließ nun das Lokal. Draußen auf dem Gehsteig kündeten die verblassenden Lichtstrahlen die bevorstehende Dämmerung an. Von dort aus, wo er stand, konnte er das Gemelli-Krankenhaus sehen, das fußläufig erreichbar war.
Hineinzugelangen würde äußerst schwierig werden, das war ihm durchaus bewusst, aber er hatte vorgesorgt. Er musste schließlich nicht direkt am Bett des Papstes stehen, um sein Werk zu vollbringen. Bei der Menge Semtex, die er bei sich trug, würde es genügen, sich lediglich in seiner Nähe aufzuhalten. Denn wenn das Semtex erst einmal gezündet worden war und explodierte, würden die Träger des Krankenhauses geschwächt werden und irgendwann brechen, und das Gemelli-Krankenhaus würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.
»Eine Herrschaft, ein Gesetz und ein Glaube«, sagte er erneut und erregte damit die Aufmerksamkeit eines Passanten.
Mit dem geisterhaften Flüstern der Stimmen in seinem Kopf machte er sich auf den Weg ins Gemelli-Krankenhaus.
Gemelli-Krankenhaus, Rom
Als Teil einer päpstlichen Entourage, die von einem Kardinal angeführt wurde, war Kimball Hayden schließlich in das Krankenhaus eskortiert worden. Das Sicherheitsaufgebot war extrem hoch, überall wimmelte es von der römischen Polizei und Carabinieri. Wegen seiner ungewöhnlichen Kleidung bekam Kimball viele misstrauische Blicke zugeworfen, doch er tat es als zu erwartende Reaktion ab.
Nachdem man ihnen Zutritt in den abgesperrten Bereich gewährt hatte, gestattete man Kimball und den vier Kardinälen die Anwesenheit im Aufwachraum, solange sie den Papst nicht störten. Die letzte Ölung, die von Kardinal Pastore durchgeführt werden würde, war ihnen bereits gestattet worden.
Als sie den Aufwachraum erreichten, entdeckten sie, dass dieser von unzähligen bewaffneten Carabinieri bewacht wurde. Kimball sog jedes Detail in sich auf und fragte sich unweigerlich, wie sich ein geübter Attentäter mit dem geringstmöglichen Widerstand diesem Areal nähern würde, denn das Gemelli war leider keine Festung, sondern nur ein normales Krankenhaus.
Kardinal Pastore bat die Carabinieri gerade, ihnen doch bitte einen ungestörten Moment mit Pius zu gewähren – eine Bitte, der diese sofort respektvoll nachkamen und die Tür hinter sich schlossen.
Bonasero Vessucci war an ein Beatmungsgerät angeschlossen worden. Seine Haut war wächsern und blass, beinahe grau, und sein schlohweißes Haar rahmte seinen Kopf mit strähnigen Locken ein. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, in langsamen Atemzügen. Kimball griff nach der Hand des alten Mannes und umklammerte sie fest. Er spürte die Knochen, und die Finger schienen ihm so zerbrechlich wie ein verwundeter Vogel zu sein. Mit der anderen Hand streichelte er zärtlich über die Wange des Pontifex. »Du schaffst das, Bonasero«, sagte er so leise, dass die Kardinäle glaubten, er hätte nur stumm seinen Mund bewegt.
Der Papst atmete, unterstützt von dem Faltenbalg in dem Beatmungsgerät flach und regelmäßig.
Bonasero, du kannst das schaffen!
Kurz darauf richtete sich Kimball auf und musterte den Raum ausgiebig. »Wir müssen ihn hier rausschaffen«, sagte er dann knapp. »Und zwar sofort.«
»Aber das ist unmöglich«, sagte Kardinal Pastore. »Er ist zu schwer verletzt, um bewegt und transportiert zu werden.«
»Hier ist er nicht sicher«, erklärte Kimball nachdrücklich. »Wenn es da draußen noch jemanden geben sollte, der diese Mission beenden will, könnte sich dieses Krankenhaus als reinstes Pulverfass erweisen.«
»Er wird doch schwer bewacht, Kimball.«
Kardinal Pastore gehörte genau wie die anderen drei Kardinäle im Raum zum Rat der Sieben, einer Gruppe, die über die Existenz der Vatikanritter Bescheid wusste und über ihre Missionen entschied. Deshalb konnte Kimball ihnen gegenüber auch ganz offen sprechen. »Ihr wisst, wer das getan hat, nicht wahr?« Er deutete auf den Papst.
Kardinal Pastore nickte. »Pinchas.«
»Richtig! Ein ehemaliger Ritter des Vatikan. Bis jetzt können wir noch nicht genau sagen, ob noch andere frühere Vatikanritter in diese Sache involviert sind. Aber sollte das der Fall sein, müssen wir unbedingt Vorkehrungen treffen, und das hier ist nun mal ein Krankenhaus und keine Festung. Es gibt hier Schwachstellen, die sich ein Vatikanritter ohne Probleme zunutze machen könnte, trotz des Wachpersonals.«
»Kimball« begann nun Kardinal Kumphry, »der ehrenwerte Kardinal Pastore hat es ja gerade schon erklärt. Papst Pius kann in seinem jetzigen Zustand nicht verlegt werden. Das Risiko, dass er dabei stirbt, ist viel zu hoch.«
»Aber wenn wir ihn nicht verlegen, sorglos sind und glauben, Pinchas hätte allein gehandelt, obwohl er es in Wirklichkeit vielleicht nicht getan hat, wird Bonasero bis zum Morgengrauen so oder so tot sein. All diese Wachleute vor der Tür werden keinen Unterschied machen. Wenn ein Vatikanritter zu Bonasero gelangen will, wird es ihm selbst unter diesen erschwerten Bedingungen gelingen.«
»Kimball, ich vertraue deinem Urteil natürlich«, sagte Kardinal Pastore. »Das tun wir alle, das weißt du. Aber die Umstände zwingen uns nun mal zu dieser Entscheidung. Wenn wir den Pontifex bewegen, wird er ganz sicher sterben. Sollte wirklich noch jemand hinter dem Papst her sein, dann müssen wir uns ihm hier, in diesem Krankenhaus, entgegenstellen.«
So frustriert Kimball über diese Lage auch war, so wusste er insgeheim doch, dass Kardinal Pastore recht hatte. Bonasero Vessuccis Leben hing momentan an einem sehr dünnen Faden, und jede Entscheidung, so klein sie auch erscheinen mochte, konnte diesen Faden zerreißen.
Kimball ließ die Schultern sinken. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. »Ich werde Jesaja und Leviticus benötigen«, sagte er nun entschieden. »Allein werde ich das nämlich nicht schaffen können.«
Kardinal Pastore nickte. »Natürlich. Beten wir, dass dies nur ein einmaliges Ereignis war«, sagte er. »Beten wir dafür, dass Pinchas nur auf eigene Faust agiert hat und er irgendwann seinen Weg zu uns zurückfinden wird.«
Kimball verzog die Mundwinkel zu einem bitteren Grinsen. Darauf würde ich nicht wetten.
***
Das Gemelli-Krankenhaus war ein riesiges Gebäude mit mehreren Anbauten, von denen die meisten acht Stockwerke besaßen. Vor den Eingängen zum Haupthaus, der Notaufnahme, der Ambulanz und der Lieferzonen waren ebenfalls Carabinieri positioniert worden, die ihre volle Schutzausrüstung samt Protektoren, Helmen mit konvexen Visieren und Kevlarwesten trugen.
Mordechai beobachtete sie aufmerksam aus der Ferne.
Über mehrere Stunden hinweg, bis zum Anbruch der Dunkelheit hatte er das gesamte Areal ausgekundschaftet, um eine Schwachstelle zu finden. Auf der Rückseite des Gebäudes befand sich ein Personaleingang, der vollkommen unbewacht war. Die Tür selbst war verriegelt und alle vier Minuten fuhr ein Jeep des Sicherheitspersonals auf seiner Runde um das Gemelli-Krankenhaus daran vorbei, deshalb blieb ihm nur ein Zeitfenster von vier Minuten, um in das Gebäude einzudringen.
Verborgen im Schatten konnte er den Jeep hören und sah, wie er sich der Rückseite des Krankenhauses näherte. Als der an dem Seitenspiegel des Jeeps installierte Scheinwerfer die Dunkelheit erforschte, zog sich Mordechai langsam in seine Deckung zurück und wartete, bis sich der Jeep wieder entfernte.
Als dieser schließlich um die Kurve bog, eilte Mordechai auf den Personaleingang zu und legte die flache Hand an das Metall. Die Nacht war warm, das Metall ebenfalls. Er überprüfte nun den Türriegel, der aussah wie eine Art verlängerter Pistolenabzug, den man anheben und aufziehen musste, um die Tür zu öffnen, und stellte fest, dass dieser verschlossen war. Also trat er einen Schritt zurück, musterte den Mechanismus ausgiebig und bemerkte dabei das Schlüsselloch, für das man offenbar eine ganz besondere Art von Schlüssel brauchte.
Ihm blieben noch drei Minuten.
Er sah hoch und ließ seinen Blick an den glatten Wänden hinaufgleiten, die in die oberen Etagen führten – von hier unten war sie unerreichbar. Denn es gab keine Feuerleitern oder Ähnliches, nichts, woran er sich hätte hinaufziehen können.
Also wieder zurück zu dem Schloss.
Er zog die schallgedämpfte Pistole aus seinem Schulterholster, zielte auf das Schloss und feuerte dann zwei Schüsse darauf ab. Das Mündungsfeuer erhellte die Umgebung mit zwei kurzen Lichtblitzen.
Noch zwei Minuten.
Aber die Tür war weiterhin verschlossen.
Er zielte noch einmal sorgfältig, dieses Mal direkt auf das Schlüsselloch, und gab zwei weitere Schüsse ab, und wieder erhellte das Mündungsfeuer das ganze Areal.
Jetzt öffnete sich die Tür kaum wahrnehmbar. Mordechai packte den Griff, zog die Tür auf und betrat vorsichtig das Gemelli-Krankenhaus. Er sicherte seine Waffe, steckte sie wieder ein und durchquerte dann den leeren Verwaltungsbereich, um zur Patientenaufnahme zu gelangen.
Er konnte das Semtex in seiner Weste deutlich fühlen und spürte das Gewicht.
Plötzlich waren die Stimmen wieder da – kalt und gefühllos füllten sie seinen Verstand mit Befehlen.
Seine Pupillen zogen sich auf die Größe von kleinen Punkten zusammen, was bedeutete, dass sein Verstand sich nun ausschließlich auf die vor ihm liegende Aufgabe konzentrierte: Bonasero Vessucci zu finden und ihn zu töten.
***
Die Kardinäle hatten Kimball Hayden mittlerweile verlassen, doch er war nicht allein. An seiner Seite standen seine beiden Lieutenants, Jesaja und Leviticus. Während Jesaja eher drahtig und dünn war, glich Leviticus mit seinen breiten Schultern und dem gewaltigen Brustkorb eher einer kleineren Ausgabe von Kimball.
Vor dem Aufwachraum A, der nun exklusiv dem Pontifex vorbehalten war, standen weiterhin schwerbewaffnete Carabinieri. Der Papst lag regungslos in seinem Bett und atmete nur mithilfe des Beatmungsgeräts. Neben ihm saß Kimball, der noch immer seine Hand hielt und ein leichtes Pulsieren spüren konnte, das unendlich langsam durch die zerbrechlich wirkenden Adern rann.
Kardinal Pastore hatte dem Papst bereits die letzte Ölung verabreicht. Obwohl alle für einen freudigen Ausgang beteten, rechnete man doch insgeheim mit dem Schlimmsten. Alles hatte nun mal sein Ende – und dieses spezielle Ende war untrennbar mit einem glorreichen Neuanfang verbunden.
Natürlich hatte es unter den Kardinälen bereits Diskussionen darüber gegeben, ob man die Kurie einberufen sollte, um die Wahl eines neuen Papstes vorzubereiten, was Kimball persönlich schwer verstörte. Aber er verstand natürlich, dass der Vatikan ein politisches Gebilde war, welches selbst in schwierigen Zeiten seine Pflichten erfüllen musste. Das war durchaus etwas, was er nachempfinden konnte.
Dennoch war es nicht leicht für ihn, diesen Umstand zu akzeptieren.
Als er Leviticus Hand spürte, die sich sanft auf seine Schulter herabsenkte, verstand Kimball sofort, was diese einfache Geste zu bedeuten hatte. Wir sind für dich da, Kimball. Wir wissen, wie du dich gerade fühlst. Was auch passiert – wir werden stets an deiner Seite stehen, damit du diesen Weg nicht allein gehen musst.
Als Leviticus seine Hand irgendwann zurückzog, seufzte Kimball leise.
Über die Jahre hinweg war zwischen Kimball und Bonasero eine Verbindung gewachsen, die so eng war, dass sie wie Vater und Sohn geworden waren. Diese war außerdem von tiefem gegenseitigem Respekt geprägt. Wann immer Kimball gestrauchelt war, war es Bonasero gewesen, der ihn wiederaufgerichtet und ihm erneut den Weg ins rettende Licht gewiesen hatte – etwas, das Kimball auf seiner Suche nach Erlösung bis dahin verwehrt geblieben war.
Kimball spürte nun einen Kloß in seinem Hals und seinen Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. Was soll ich denn nur ohne dich tun?, dachte er. Was? Sag mir, was ich tun kann, Bonasero, um es wieder gutzumachen.
Sein Blick fiel jetzt auf die Beatmungsmaschine, die langsam Sauerstoff in die Lungen eines alten Mannes pumpte, der in seinem Leben nichts als Güte verströmt hatte.
Das hast du einfach nicht verdient, dachte Kimball ein letztes Mal, bevor er Bonaseros Hand vorsichtig neben dessen Körper ablegte. Ich werde die Person finden, die dahintersteckt, das verspreche ich dir.
Kimball stand auf und drehte sich zu Jesaja und Leviticus um, die beide die Kluft der Vatikanritter trugen. »Wir werden wohl für eine Weile hierbleiben müssen«, erklärte er ihnen.
Jesaja sah ihn ernst an. »Vielleicht solltest du ein bisschen schlafen, Kimball. Du siehst müde aus.«
Doch Kimball schüttelte den Kopf. Auf gar keinen Fall würde er in dieser Situation von Bonaseros Seite weichen, ganz egal, ob es Tage oder Wochen dauern würde und wie viel Schlaf ihm irgendwann fehlen würde. »Mir geht es gut«, sagte er so leise, dass es fast wie ein Murmeln klang.
Danach lief Kimball im Krankenzimmer auf und ab. Es gab keine Fenster, nur zwei Türen und mehrere Lüftungsschächte, die zu einer Klimaanlage ein paar Etagen unter ihnen führten. Der Raum war gut gesichert, nicht zuletzt wegen der bewaffneten Wachmänner vor beiden Türen und der drei Vatikanritter, die sich im Inneren befanden.
Bonasero Vessucci war vollkommen sicher.
Doch nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können.
***
Von dem Verwaltungsbereich aus begab sich Mordechai jetzt in die Waschküche unter dem Krankenhaus, wo er einen Krankenhauskittel fand, der ihm gut genug passte, um die Semtex-Weste darunter verbergen zu können. Doch diese Verkleidung allein genügte nicht, denn die Wachen ließen nur Schwestern und Ärzte passieren, die den Carabinieri bereits bekannt waren, und das machte die Sache kompliziert. Aber wenn Mordechai es schaffen wollte, den Papst zu töten, musste er sich eben den Gegebenheiten anpassen. Also wechselte er die Richtung und suchte nach einem Schlupfloch.
In dem gegenüberliegenden Krankenhausflügel standen zwei Polizisten Wache, in Schutzmontur und mit Helmen auf dem Kopf. Sturmgewehre hingen vor ihrer Brust, doch die Mündungen der Waffen zeigten zu Boden. Sie waren einander zugewandt und unterhielten sich offenbar, dabei wedelten sie hin und wieder mit der Hand, als wenn sie einen Standpunkt unterstreichen wollten.
Mordechai sah ihnen einen Augenblick lang zu und registrierte dabei ihre Unaufmerksamkeit. Die beiden Carabinieri waren mit allem beschäftigt, nur nicht mit dem eigentlichen Grund ihres Hierseins. Nachdem er sich ein limettengrünes Klemmbrett mit einigen Dokumenten und einen Kugelschreiber geschnappt und den besorgten, aber souveränen Blick eines Arztes aufgesetzt hatte, schritt Mordechai auf die beiden Wachmänner zu. Als ihn eine der Wachen erblickte und ihn mit erhobener Hand aufhalten wollte, rammte Mordechai dem Mann blitzschnell das Klemmbrett gegen die Kehle. Der Rand der Plastikunterlage traf den schutzlosen Bereich unter dem Kinnriemen und zertrümmerte sofort den Kehlkopf des Polizisten. Während der erste Mann mit den Händen nach seinem Hals griff und in die Knie sank, wirbelte Mordechai bereits mit dem Kugelschreiber in der Hand herum und trieb diesen dem zweiten Wachmann mit drei schnellen Hieben tief in den Hals hinein. Dann ließ er von ihm ab, griff nach dem Kopf des ersten Polizisten, der neben ihm kniete, und riss ihn mit einem festen Ruck herum. Die Knochen brachen mit einem hörbaren Krachen. In einer fließenden Bewegung, die wie ein zusammenhängendes Manöver aussah, drehte er sich wieder zu dem zweiten Wachmann um und brach auch ihm das Genick.
Als beide Leichen schließlich auf dem Boden lagen, blickte sich Mordechai kurz prüfend um, zog die beiden Körper in einen nahe gelegenen Lagerraum, nahm ihnen die Ausrüstung ab, zog die Kevlar-Weste von einem der Polizisten über seine Semtex-Weste, nahm dessen Stiefel und Helm und überprüfte danach die Waffe, die sich als eine MP5 herausstellte. Er betrachtete sein Spiegelbild in einer Glasscheibe und fand, dass er nun genauso wie die anderen Carabinieri aussah.
Während er dastand, hörte er die Stimmen der drei Meister in seinem Kopf, deren Geflüster sich allerdings so sehr überlagerte, dass es keinen Sinn ergab. Doch er wusste dennoch, was sie ihm zu sagen versuchten, denn die Befehle, die man ihm in den letzten drei Jahren eingepflanzt hatte, waren immer die gleichen gewesen … es waren stets dieselben Worte gewesen, die ihm erklärt hatten, dass er diese Mission unter Einsatz seines unwichtigen Lebens auszuführen hatte.
Er schloss die Augen.
Das Flüstern der alten und müden Stimmen klang wie Schlangenhäute, die übereinander glitten, oder wie Sandpapier, das über Holz rieb.
Kurz darauf waren die Worte verschwunden.
Er öffnete die Augen, umklammerte das Gewehr fest mit beiden Händen und machte sich dann auf den Weg, um Bonasero Vessucci zu finden.
***
Der Jeep des Sicherheitsdienstes drehte gerade eine weitere Runde um das Gemelli-Krankenhaus, als dem Fahrer auf der Rückseite des Gebäudes plötzlich auffiel, dass die Tür zum Personalbereich leicht offenstand. Sie hielten den Wagen sofort an. Fahrer und Beifahrer, beide mit Pistolen bewaffnet, stiegen aus dem Jeep und näherten sich vorsichtig und mit gezogenen Waffen der Tür.
Die Tür besaß keinen klassischen Türknauf, sondern einen Spannriegel. Drumherum waren nun Löcher mit nach innen gebogenen Rändern zu sehen, die offenbar von Schüssen stammten. Während der vordere Wachmann die Tür vorsichtig weiter öffnete, meldete der zweite Wachpolizist den Vorfall augenblicklich dem Zuständigen im Gemelli. Er berichtete, dass die Tür durch Schüsse aufgebrochen worden war, die schallgedämpft gewesen sein müssen und daher auf das Werk eines Profis hindeuteten.
Sofort wurden sämtliche Carabinieri im Krankenhaus in höchste Alarmbereitschaft versetzt und patrouillierten nun mit erhobenen Waffen durch die Gänge und führten Ärzte und Schwestern in abgetrennte Bereiche.
Als Kimball im Aufwachraum über Funk von dem Einbruch erfuhr, wurde ihm unmissverständlich klar: Pinchas hat nicht allein gehandelt.
***
Die Notfallbeleuchtung sprang plötzlich an. Das war kein gutes Zeichen, dachte Mordechai auf seinem Weg durch die Krankenhausflure. Als er hörte, wie sich ihm Carabinieri näherten, begab er sich sofort in eine kniende Position und zielte auf die Männer. Seine Treffsicherheit war schon immer tödlich gewesen.
Die erste Welle in Form von vier Polizisten brach jetzt durch die Schwingtüren. Mordechai gab eine Reihe schneller Salven ab, und die Kugeln bohrten sich in die Kehlen der Angreifer oder durchschlugen ihre Visiere und töteten die Männer, bevor sie auf dem Boden aufschlugen.
Danach setzte sich Mordechai sofort wieder in Bewegung, denn er wusste, dass die Schüsse nur noch mehr Sicherheitskräfte zu seiner Position locken würden. Er pirschte geduckt vorwärts und ließ sich von dem Lauf seiner Waffe den Weg weisen. Sein Kopf schwang unaufhörlich hin und her, erst nach links, dann nach rechts, auf der Suche nach weiteren Zielen, die es auszuschalten galt.
Doch die Korridore waren verwaist und die angrenzenden Zimmer leer. Das kam Mordechai äußerst eigenartig vor.
Dann hörte er plötzlich Schritte, die auf seine Position zueilten.
Eilig verschwand er in einem der Zimmer am Ende des Korridors und verriegelte die Tür hinter sich. Binnen weniger Sekunden würden die Carabinieri die Leichen ihrer Kollegen gefunden haben und dann würden sie sofort über Funk Verstärkung anfordern.
Langsam wich Mordechai in den Raum zurück, während er die Waffe weiterhin auf die Tür richtete, und war bereit, sie sofort mit Schüssen einzudecken, wenn es notwendig sein würde. Doch durch den Spalt unter der Tür konnte er sehen, wie mehrere Schatten an dem Zimmer vorbeieilten. Als sie wieder verschwunden waren, wartete Mordechai regungslos wie eine Statue auf die Nachhut, doch diese blieb aus.
Das Zimmer, in dem er sich gerade befand, war ein einfacher Lagerraum voller Bleichmittel und sauberen Laken. Am hinteren Ende gab es eine weitere verschlossene Tür.
Er schob leise den Riegel zurück, öffnete die Tür und entdeckte, dass diese zu einer Reihe weiterer Korridor führte, die ebenfalls leer waren.
Sie wissen jetzt, dass ich hier bin.
Er betrat einen weiteren Gang und musterte seine Umgebung aufmerksam durch das Visier seiner Waffe. Die Aufwachräume befanden sich ganz in der Nähe, im nächsten Komplex.
Plötzlich hörte er die hastigen Schritte weiterer Carabinieri aus dem Westflügel, die auf ihn zuhielten. Dasselbe aus östlicher Richtung. Sie nahmen Mordechai offenbar in die Zange, flankierten ihn und zwangen ihn auf diese Weise in eine ausweglose Lage. Da dieser Korridor über eine Kurve verfügte, würden die Carabinieri nicht ins Schussfeld des flankierenden Teams geraten, weshalb sie von beiden Seiten das Feuer auf ihn eröffnen konnten.
Die Schritte wurden nun lauter und kamen immer näher. Die Carabinieri hatten ihn beinahe erreicht.
Mordechai überprüfte deshalb hastig den Druckauslöser, der mit den Semtex-Paketen unter seiner Weste verbunden war.
Vor und hinter ihm bezogen die Carabinieri nun Stellung und richteten ihre Sturmgewehre auf ihn. Mehr als ein Dutzend roter Laserpunkte tanzten jetzt über Mordechais Brust und Kopf.
Man befahl ihm, sich zu ergeben, doch Mordechai ignorierte ihre Rufe, stattdessen ließ er seinen Blick schweifen und entdeckte die Kameras in den Ecken des Korridors. Sie haben mich die ganze Zeit über beobachtet.
Weitere Befehle wie der, sich auf den Boden zu legen, wurden nun erteilt, doch Mordechai ignorierte auch diese und blieb genau zwischen den beiden Fraktionen stehen.
Als Antwort hob er schließlich sein Gewehr und feuerte mehrere kurze Salven auf die Männer. Die Kugeln durchschlugen die gewölbten Schutzblenden vor den Gesichtern der Carabinieri. Die Einschläge lösten tödliche Explosionen von rotem Nebel aus, die wie dichte Wolken aus den Männern hervorbrachen.
Drei der bewaffneten Männer sanken so schnell zu Boden, dass bereits alles Leben ihre Körper verlassen haben musste, bevor sie ihren Tod überhaupt kommen gesehen hatten.
Dann eröffneten die Carabinieri das Feuer, unerbittliche Salven, deren Kugeln in Mordechais Weste einschlugen und seinen Körper wie eine willenlose Puppe, die an Fäden befestigt war, herumtanzen ließen. Kurz darauf sank er in die Knie, doch die Schüsse verebbten immer noch nicht.
Eine der Kugeln traf seinen Unterarmschutz, und der Einschlag war stark genug, um ihm die Waffe aus der Hand zu reißen. Mordechai wurde mit weiteren Kugeln vollgepumpt. Die großkalibrigen Projektile ließen ihn wild hin und her zucken, bis schließlich eines der Geschosse eine weiche ungeschützte Stelle an seiner Hüfte traf, eine andere in seine Schulter einschlug und eine dritte ein Loch in seinen Bauch riss, kurz unterhalb der Kevlar-Weste.
Während Mordechai am Boden lag und die Welt sich mehr und mehr um ihn herum zu drehen begann, konnte er wieder die Stimmen hören … das Flüstern … die Gesänge der Meister, die ihn anwiesen, jedes Leben im Umkreis zu nehmen.
»Ja«, flüsterte er. »Ja, natürlich.«
Mordechai konnte den Schalter in seiner Rechten deutlich spüren. Er schloss seine Finger fester um den Zylinder, klappte die Abdeckung zurück und legte den Daumen auf den Druckknopf.
Die Stimmen wurden daraufhin lauter. Die Worte überlagerten sich, bis alles zu einem unverständlichen Lärm zusammenschmolz. Doch er wusste trotzdem, was sie ihm sagen wollten. Es war das, worauf sie ihn vorbereitet hatten, das, was die Meister ihm in den vergangenen drei Jahren tief im brasilianischen Dschungel beigebracht hatten.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Carabinieri mit schussbereiten Waffen auf ihn zustürmten und ihn auf Italienisch anbrüllten, was Mordechai als den Befehl deutete, sich zu ergeben.
Die Polizisten ragten hoch über ihm auf, undeutliche, verschwommene Schemen, die Schulter an Schulter standen. Als einer der Männer Mordechai auf die Seite drehte, um ihm Handschellen anzulegen, drückte Mordechai – der weder Angst, Wut noch irgendetwas anderes empfand – auf den Auslöser.