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VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

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Lever bezieht sich in seinem Buch immer wieder auf den Entdecker der Osteopathie, den US-amerikanischen Landarzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917), sowie den Begründer der Kranialen bzw. Kraniosakralen Osteopathie, William G. Sutherland (1873 – 1954). Deren Interpretation der Osteopathie, die üblicherweise als Klassische Osteopathie bezeichnet wird, unterscheidet sich in wesentlichen Inhalten insbesondere von der angelsächsisch geprägten Mainstream-Osteopathie der Gegenwart. Da aber auch nur wenige deutschsprachige Osteopathen wirklich mit der Klassischen Osteopathie vertraut sind, möchte ich das Vorwort nutzen, um diese hier kurz zusammengefasst darzustellen. Es folgen wie üblich ein paar kurze Hinweise bezüglich der in der Übersetzung gewählten Terminologie. Schließlich – und das mag einigen für ein Herausgeber-Vorwort unüblich erscheinen – auch eine Erwähnung kritischer Punkte zum vorliegenden Werk. Wie immer empfehle ich Ihnen die sorgfältige Lektüre auch dieses Vorworts zum besseren Verständnis des Buchs.

EINE KURZE GESCHICHTE DER KLASSISCHEN OSTEOPATHIE

Als der US-amerikanische Landarzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917) im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts sein in sich geschlossenes naturheilkundliches Medizinsystem der Öffentlichkeit vorstellte, nannte er es Osteopathie. Warum gerade dieser Begriff? Still ging wie alle naturheilkundlich ausgerichteten Behandler seit Hippokrates davon aus, dass im Menschen inhärente Mechanismen zur Selbstheilung existierten und deren leitende Intelligenz höheren Ursprungs sei und jene des Menschen bei Weitem überrage. Diese Annahme bezeichnet ein Kernparadigma des Vitalismus. Folgerichtig zielt der naturheilkundliche Behandlungsansatz nicht auf einzelne Bestandteile (z. B. biochemische Substitutionen) bzw. auf deren Zielobjekte (z. B. Bekämpfung von Krankheitserregern), sondern versucht den Organismus als Ganzes zu unterstützen, damit die besagte Intelligenz sich über die inhärenten Mechanismen optimal entfalten und so Leiden (gr. pathos) überwinden kann. Das therapeutische Selbstverständnis wechselt hierbei vom (Gesund-)Macher bzw. Heiler zum empathischen und demütigen Begleiter der Natur.

Aus medizinhistorischer Sicht ist Stills Ansatz vor allem deshalb so interessant, weil er nicht nur erkannte, dass es die zwei Informationssysteme Kreislauf- und Nervensystem sind, die für den Transport und die Verteilung der Information besagter Mechanismen innerhalb des gesamten Körpers verantwortlich zeichnen. Wohl inspiriert durch den schwedischen Naturwissenschaftler, Mystiker und Spiritisten Emanuel Swedenborg (1688 – 1772) konstatierte er darüber hinaus, dass als Medium für die Verteilung besagter Informationen die fließenden Körperflüssigkeiten (Blut, Lymphe und Nervenwasser, d. h. Liquor cerebrospinalis) essenziell sind.8 Als hervorragender autodidaktischer Anatom und leidenschaftlicher Anhänger von Maschinen erkannte er schon bald, dass dieses Fließen stark vom Zustand des muskuloskelettalen Systems in seiner Gesamtheit abhängt. Dieses Kernparadigma untermauerte er – und das ist tatsächlich einmalig auch im naturheilkundlichen Bereich – ausschließlich mit anatomisch-physiologischen Erklärungsmodellen, die in ihrer Funktionalität und Dynamik geradezu holistisch anmuten und ihrer Zeit weit voraus waren.

Als naturheilkundlich und daher nicht-invasiv bzw. nicht-substituierend orientierter Arzt, sowie aufgrund der sehr beschränkten Mittel im US-amerikanischen Grenzland, entwickelte er aus diesen Einsichten einfache manuelle Techniken, um das muskuloskelettale System, also das Rahmenwerk des Körpers, an die individuelle Einzigartigkeit des Patienten anzupassen (nicht: zu korrigieren!).9 Ist dies geschehen, können nach Stills Auffassung die inhärenten und selbstregulierenden Informationen wieder frei durch den Körper fließen und Symptome, Pathologien etc., wo immer sie auch auftreten, beseitigen. Dies geschieht seiner Ansicht nach aufgrund der zugrunde liegenden und dem Menschen weit überlegenen vitalistischen Intelligenz weit besser, als dies ein Mensch durch aktive Bekämpfung einer Pathologie jemals erreichen könnte. In diesem Sinn ist auch Stills berühmter Aussage „Gesundheit zu finden ist Aufgabe des Arztes, Krankheit kann jeder finden.“10 zu interpretieren. Stills Ansatz ist damit durch seine Fokussierung auf Ressourcen, seine Wahrnehmung des Patienten als Menschen in seiner physisch-metaphysischen Gesamtheit und seiner prozessorientierten Vorgehensweise und der salutogenetischen Medizin zuzuordnen. Und da seine manuelle Techniken letztlich über die Hebel der Knochen (gr. osteon) auf den Bewegungsapparat und damit vorrangig indirekt (über vasomotorische Verbindungen) und seltener direkt (bei Kompressionen) auf die Informationssysteme wirken, ergibt sich aus dem bisher beschriebenen der in funktioneller Hinsicht zu deutende Begriff Osteo-pathie. Kurz gefasst:

Stills (vitalistische) Osteopathie => manuelle Techniken => Knochen als Hebel (Osteo…) => Anpassung des muskuloskelettalen Rahmens => ungehindertes Fließen von Blut, Lymphe und Liquor => optimaler Fluss der selbstregulierenden Informationen => maximale Entfaltung der Physiologie => maximale Verdrängung der Leiden (…pathie)=> Heilung durch die Natur.

Abgesehen von der vitalistischen Prämisse sind die in Stills Ansatz berücksichtigten anatomisch-physiologischen Grundannahmen inzwischen vor allem durch Forschungsarbeiten im Bereich der Immunologie, Neurophysiologie und funktionellen Anatomie bestätigt worden. Stills äußerst komplexer Ansatz ist allein schon durch diese klare Benennung anatomisch-physiologischer Zusammenhänge im vitalistischen Ansatz und seine daraus entwickelten manuellen Techniken nicht nur für die damalige Zeit bemerkenswert und visionär. Mit der folgerichtigen Zusammenführung von Anatomie/​Physiologie und der inhärenten Selbstregulationsmechanismen im Körper, sowie durch seine Überzeugung, dass Behandler, Methode und Patient als Teil der göttlichen Schöpfung stets eine Einheit bilden, antizipiert er darüber hinaus auch die Möglichkeit der Verschmelzung all dieser Aspekte. Dass Still mit seiner Klassischen Osteopathie die meisten seiner Zeitgenossen aufgrund seiner komplexen Überlegungen überforderte, liegt auf der Hand. Und so verschwand Stills salutogenetischer bzw. vitalistischer Ansatz innerhalb der Osteopathie schon nach wenigen Jahren wieder und wurde durch eine marktkompatiblere, weil pathogenetisch orientierte Osteopathie ersetzt, die sich auf simple Methoden zur Behandlung vorrangig muskuloskelettaler Symptome beschränkte.

Es sollten mehrere Jahrzehnte vergehen, bis William Garner Sutherland (1873 – 1954) ab Mitte der 1930er Jahre und wohl ebenfalls nachhaltig inspiriert durch Emanuel Swedenborg Stills salutogenetischen bzw. vitalistischen Aspekt wieder aufgriff und um den kraniosakralen Aspekt erweiterte, womit er die sogenannte Kraniale bzw. Kraniosakrale Osteopathie begründete. Sutherland war es auch, der die (innere) Stille und die Verbindung zwischen Behandler, Patient und jener übergeordneten Instanz als essenzielle Bestandteile einer Behandlung erstmalig innerhalb der Osteopathie benannte. Sein berühmtester Schüler, Rollin E. Becker (1910 – 1996), führte diesen Aspekt fort und wurde damit zum Wegbereiter eines der heute umstrittendsten Zweige der Osteopathie – der energetisch orientierten Biodynamischen Osteopathie. Wie auch schon bei Still steht hier die Interaktion zwischen Therapeut und Patient mit all ihren subjektiven Phänomenen wieder Zentrum der Behandlung. Und da diese mit der klassischen Physik kaum oder gar nicht zu erfassen sind, dies aber v. a. von den eher strukturell und pathogenetisch orientierten Osteopathen eingefordert wird, ist es zu einer tiefen Spaltung innerhalb der Osteopathie gekommen. An dieser Stelle kommt nun Robert Levers Buch ins Spiel, das nach Nicholas Handolls Die Anatomie der Potency und Paul Lees Interface die dritte und m. E. weitestentwickelte Monografie zu diesem Themenkomplex repräsentiert und auch als Aufruf zur Versöhnung zu verstehen ist.

METAPHYSISCHE BEGRIFFLICHKEITEN

Bei allen Übersetzungen englischsprachiger Werke über die Osteopathie begegnet man Schwierigkeiten in puncto Ausdeutung bestimmter Begrifflichkeiten, insbesondere, wenn sie sich auf metaphysische Sachverhalte beziehen. Sehr häufig werden dieselben metaphysisch relevanten Begriffe in unterschiedlichster Bedeutung verwendet. Um den Lesern hier zumindest eine einigermaßen klare Struktur zu vermitteln, wurden bei der Übersetzung die nachfolgenden Konventionen festgelegt. Hierbei ist es wichtig zu wissen, dass englischsprachige Wörter, die normalerweise klein geschrieben werden, bei Großschreibung auf einen göttlichen Ursprung hinweisen (z. B. Mind statt mind). Da diese Schreibgewohnheit bei Substantiven nicht auf deutsche Begriffe übertragbar ist (sie werden ja bereits groß geschrieben) wurden die entsprechenden Worte in Kapitälchen gesetzt:11

1. Spirit/Mind bzw. spirit/​mind

Spirit (mit großem S im Originaltext) => SEELE, GEIST

Beschreibt den rein ‚himmlischen‘ Anteil der Metaphysik einer Person.

Mind (mit großem M im Originaltext) => INTELLIGENZ, VERSTAND

Eine höhere Intelligenz, die durch den irdisch-metaphysischen Anteil des Menschen (das Mentale) über anatomisch-physiologische Medien, wie etwa das Gehirn, die Körperflüssigkeiten, die Faszien etc. in den Körper vermittelt wird und die Selbstregulation in Richtung Gesundheit bestimmt. Nur dieser Mind kann heilen.

2. spirit/​mind => Mentales

Irdische Aspekte des Menschen, wie Intelligenz und Verstand, aber auch Intuition und Wahrnehmung bzw. Empfindung in Ihrer Gesamtheit.

3. mind => Verstand bzw. Intelligenz

Der rein irdische Aspekte des Mentalen.

POTENCY

Wie besonders in der englischsprachigen Literatur über Osteopathie finden sich auch bei Lever zahlreiche eigene Wortschöpfungen, die vor allem aus der Not heraus entstehen, dass man bestimmte Phänomene und Erfahrungen während des Spürens der Patienten nur schwer fassen und ausdrücken kann. Bei den meisten Begriffen gelingt es eine deutschsprachige Übersetzung zu finden, die den Sinn des Originals treffend ausdrückt. Dies ist bei dem Begriff Potency nicht möglich, weshalb er – wie in allen anderen Büchern von JOLANDOS – nicht übersetzt wurde.

ABWEICHENDE FORMATIERUNGEN

Bezüglich der englischen Originalausgabe wurden einige Umstrukturierungen vorgenommen, um den Inhalt des Buches einerseits übersichtlicher zu gestalten und andererseits den deutschen Sprachgewohnheiten anzupassen. Dies betraf u. a. die Reduzierung der ursprünglich über 1.200 Begriffe in einfachen Anführungszeichen, aber auch die Implementierung eines Abkürzungsverzeichnisses und die Ergänzung des Originaltextes mit Anmerkungen der Übersetzerin, des Lektors und des Herausgebers. Außerdem wurden die Quellenhinweise am Ende der einzelnen Kapitel gesammelt ebenfalls ans Ende des Haupttextes gestellt.

VIER ANMERKUNGEN

Karl Popper12 hat einmal ganz richtig festgestellt, dass eine Theorie umso mehr Wert hat, je mehr Möglichkeiten sie zur vernünftig begründeten Überprüfung bzw. Kritik bietet.13 In diesem Sinn möchte ich betonen, dass es bei der nachfolgenden Kritik nicht darum geht, den Inhalt des vorliegenden Buchs oder seinen Autor zu diskreditieren; vielmehr bietet es neben vielen brillanten und tiefgreifenden Überlegungen zur Osteopathie auch und gerade aufgrund seiner Angreifbarkeit in bestimmten Punkten die unschätzbare Möglichkeit zur selbstkritischen Weiterentwicklung der Osteopathie. Zudem können die nachfolgenden Anmerkungen 1 und 2 nahezu auf die gesamte osteopathische und die Anmerkungen 3 und 4 auf die naturheilkundliche Literatur übertragen werden.

1. Osteopathie und Medizin

Lever schätzt die Osteopathie, wie übrigens die meisten Osteopathen, als Alternative zur orthodoxen Medizin, zumindest aber als Komplementärmedizin ein. Tatsächlich könnte man bei oberflächlicher Ausdeutung von Stills Texten annehmen, dass er die Osteopathie als Gegenmodell zur regulären Medizin ansah, da er die Methoden der ‚heroischen’ Medizin jener Zeit an vielen Stellen kritisiert. Bei vertiefter Textanalyse erkennt man aber, dass Still die Osteopathie stets als integralen Bestandteil der Medizin ansah, wobei er die Philosophie der Osteopathie als Erweiterung (nicht: Ergänzung, d. h. komplementär) des ausschließlich pathogenetischen Denkens um den weit umfassenderen salutogenetischen Aspekt betrachtete. Deutlich zum Ausdruck kommt dies in der Gründungssatzung seiner American School of Osteopathy aus dem Jahr 1892. Dort steht zu den Zielen der Schule:

„Unsere gegenwärtigen Methoden der Chirurgie, der Geburtshilfe und der Bekämpfung von Krankheiten im Allgemeinen zu verbessern.“ 14

Still hatte demnach stets zum Ziel, dass seine Osteopathie fester Bestandteil der Medizin sein sollte und hoffte darauf, dass dies von der regulären Medizin irgendwann anerkannt werden würde. Eine Ausdeutung von Stills Klassischer Osteopathie als Alternativ- oder Komplementärmedizin ist damit aus medizinhistorischer Sicht falsch.

2. Osteopathie – eine neue Medizinphilosophie

Lever behauptet, Still habe eine neue Medizinphilosophie entdeckt. Abgesehen davon, dass die Ausführungen im vorigen Punkt dies bereits widerlegen, wurde sein auf dem Fundament des Vitalismus errichtetes und grundlegend salutogenetisch ausgerichtetes Gedankengebäude bereits in den Hippokratischen Schriften ausführlich beschrieben und diente seit jeher als Grundlage sämtlicher nachfolgender naturheilkundlicher Ansätze; man denke nur an die Homöopathie. Still gebührt allerdings die medizinhistorische Ehre, den salutogenetischen Grundgedanken erstmals mit konkreten funktionellen, anatomisch-physiologischen Argumenten untermauert und damit die vitalistische Medizin der Wissenschaft zugänglicher gemacht zu haben. So stützen zahlreiche Forschungsergebnisse z. B. aus den Bereichen Neurophysiologie, der Immunologie und der Faszienforschung nicht nur Stills Ansatz der Klassischen Osteopathie, sondern zugleich den gesamten naturheilkundlichen Grundgedanken.

3. Osteopathie und Wissenschaft

Im gesamten naturheilkundlichen Bereich, so auch in der Osteopathie und auch in diesem Buch, ist eine mehr oder weniger starke wissenschaftsskeptische Tendenz zu erkennen. Tatsächlich ist die moderne medizinische Forschung aus verschiedenen Gründen auch kritisch zu sehen, allen voran aufgrund der rein berufs- und marktpolitisch motivierten Reduzierung der evidence based medicine (EBM) auf randomisierte Doppelblindstudien (RCTs). Tatsächlich besteht die EBM aber aus drei gleichrangigen Teilen:

 Externe Evidenz (mit RCT als einem möglichen Studiendesign)

 Therapeutische Erfahrung

 Patientenerwartung

Medizinische Wissenschaft, die auf allen drei Säulen ruht, ist demnach absolut begrüßenswert und sollte gerade innerhalb der Osteopathie massiv forciert werden. Viele andere wissenschaftliche Disziplinen, die man inzwischen unter dem Begriff Biowissenschaften subsummieren könnte (Soziologie, Neurowissenschaften, Psychologie etc.), und auf die sich Lever auch in diesem Buch bezieht, bieten darüber hinaus eine Fülle von Ergebnissen, die den naturheilkundlichen, respektive salutogenetischen Ansatz unterstützen. Eine pauschale Wissenschaftsskepsis ist daher innerhalb der Osteopathie nicht nur unangebracht, sondern geradezu entwicklungshemmend.

4. Osteopathie und Quantenphysik

Wie inzwischen im komplementärmedizinischen Bereich üblich, wird die Quantenphysik auch bei Lever als Erklärungsmodell für subjektive Behandlungsphänomene benannt. Hierbei wird v. a. auf das quantenphysikalische Kernparadigma der Unschärfe Bezug genommen, welches besagt, dass ein Objekt erst durch die Beobachtung in Materie oder Welle zerfällt. Oder/​und man beruft sich auf die Quantenverschränkung, die besagt, dass zwei Teilchen unabhängig von ihrer Entfernung als Gesamtsystem synchron agieren, ohne dass eine Ursache-Wirkung-Verbindung zwischen ihnen besteht. Diese beiden Prinzipien werden nun dahingehend interpretiert, dass der mentale Zustand des Therapeuten einen entsprechend synchronisierenden Einfluss auf die Determinierung des Gesundheitszustandes beim Patienten haben soll. Dieser Ansatz ist aus folgenden Gründen zweifelhaft:

Es gibt innerhalb der gesamten quantenphysikalischen Forschung bis heute keinerlei Hinweis darauf, dass mentale Zustände/​Prozesse bei der Determinierung bzw. Verschränkung einen Einfluss haben.

Unabhängig von der Art der Einflussnahme auf das Objekt bleibt ihr Ergebnis immer zufällig. Selbst wenn es einen mentalen Zugang geben sollte, wäre das Ergebnis damit letztlich zufällig und eine Synchronisation ausgeschlossen. Wären Patient und Therapeut (und ggf. auch eine höhere allumfassende Instanz) ein Gesamtsystem im Verschränkungskontext, müssten die Synchronisationen automatisch und stetig erfolgen, d. h. ein bestimmter mentaler Zustand wäre dazu nicht nötig.

Im salutogenetisch-vitalistischen Ansatz wird davon ausgegangen, dass man therapeutisch lediglich für die Rahmenbedingungen verantwortlich ist und keinen direkten Einfluss auf die Heilmechanismen hat. Der Synchronisationsgedanke impliziert aber eine zumeist unterbewusst motivierte hierarchische Beeinflussung im Sinne einer Korrektur, d. h. eines Gesundmachens, und ist damit ebenso pathogenetisch einzuordnen wie etwa die chiropraktische Manipulation. Etwas salopp könnte man sagen, dass viele energetisch orientierten Behandler es gerne ‚energetisch knacken‘ hören.

Auch wenn Bezugnahmen auf die Quantenphysik (zumeist ohne ausreichende Kenntnisse der Quantenphysik) falsch sein mögen, so bieten sie eine gute Angriffsfläche zur Kritik und Weiterentwicklung im Sinne Poppers. Zudem wird dadurch auch ein helles Schlaglicht auf die Bedeutungder inneren Haltung, d. h. das Ethos des Therapeuten in Bezug auf das Behandlungsergebnis geworfen, ein Aspekt, der seit der Antike ein aus ethischer Sicht doch arg verkümmertes Dasein geführt hat. Der narzisstisch geprägte heldenhafte Heiler – sei er nun orthodox, alternativ oder komplementär orientiert – verweigert sich aus psychologisch verständlichen Gründen naturgemäß gerne einer kritischen Überprüfung.

DER GROSSE WERT DIESES BUCHS

Der große Wert von Die Kunst und Philosophie der Osteopathie liegt m. E. nicht nur in den vielen höchst interessanten Überlegungen zur Osteopathie sowie in seiner ebenso kritischen wie mutigen Analyse und vor allem offenen Benennung der Spaltung innerhalb der osteopathischen Szene. Lever bietet darüber hinaus eine ganze Menge sehr fundierter Informationen zu einem der wohl entscheidendsten und bis heute unterschätztesten Aspekte innerhalb der Osteopathie: der Subjektivität. Sein Buch ist in diesem Zusammenhang bisher der mit Abstand umfassendste Versuch, die so schwer zu fassende und dennoch überragende Rolle subjektiver Wahrnehmungen und Erfahrungen gerade im Bereich der Osteopathie zu beschreiben. All dies erfolgt, während er das ganze Buch hindurch beständig um die wohl wichtigste Frage innerhalb der Osteopathie kreist: Was in der Patienten-Therapeuten-Interaktion bewirkt eigentlich genau die Heilung? Sich nicht nur einfach mit einem Wer heilt hat recht zufriedenzugeben, sondern den Dingen immer weiter auf den Grund gehen zu wollen, den Drang in sich zu spüren, die Geheimnisse des Lebens zu erforschen, im Kontext des Universums immer ein Nicht-Wissender im sokratischen Sinn zu bleiben und den Mut zu besitzen, sich ohne Rücksicht auf Rang und Namen v. a. seine eigenen Gedanken zu machen und sich damit öffentlich der Diskussion zu stellen; all dies sind Charaktereigenschaften Andrew Taylor Stills gewesen, ohne die es die Osteopathie, ja sogar die gesamte moderne Manualmedizin in ihrer heutigen Form niemals geben würde. Und es ist eben dieses Ethos, welches das enorme Potenzial der Osteopathie nicht nur am Leben erhält, sondern auch ihre Weiterentwicklung sichert. Lever und sein Buch stehen ganz in dieser Tradition und allein dafür gebührt ihm – gerade im Angesicht zunehmender Technisierung und Objektivierung der Osteopathie – allerhöchste Anerkennung.

ZUM SCHLUSS

DO bedeutete für die Gründerväter Still, Littlejohn und Sutherland nicht Doktor der Osteopathie oder Diplom-Osteopath, sondern stand als Abkürzung für Dig On! (Grabe weiter!). Der damit gemeinte Wissensdurst, das begeisternde und positiv skeptisch geprägte Interesse an allen Aspekten des Daseins, war nach Ansicht der Gründerväter essenziell für das Verständnis und folgerichtig auch für das Praktizieren der Osteopathie. Seien Sie also ganz Osteopath im klassischen Sinn und freuen Sie sich auf jenes spannende Wissen, das in diesem Buch auf Sie wartet. Nehmen Sie sich Zeit, lassen sie sich inspirieren und seien Sie möglichst vorurteilsfrei; dann wird Sie die Lektüre auf eine genussvolle Reise durch das osteopathische Universum des 21. Jahrhunderts entführen.

VIEL FREUDE BEI DER LEKTÜRE!

Christian Hartmann

Pähl, Juni 2014

Die Kunst und Philosophie der Osteopathie

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