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STRUKTUR-FUNKTION
ОглавлениеZunächst, worum handelt es sich eigentlich bei diesem Struktur-Funktions-Prinzip?
Nun, es besagt, dass die Gesundheit und die mechanische Integration der Strukturen des Körpers, sein muskuloskelettales und Bindegewebssystem den Gesamtzustand einer Person widerspiegeln und sich selbst ebenfalls in ihr spiegeln, wobei sich dies primär auf der physiologischen Ebene vollzieht. Viele, wenn nicht sogar der größte Teil der Osteopathen, erweitern dieses Einflussgebiet und beziehen die mental-emotionale und spirituelle Ebene des Wesens mit ein. Jedes tatsächlich holistisch ausgerichtete Konzept würde von dieser Art von Unterteilungen Abstand nehmen. Für den Moment lassen wir jetzt erst einmal diese unterschiedlichen Aspekte des Organismus als separate Studiengebiete beiseite, auch wenn diese Trennung aus einleuchtenden Gründen in gewissen Stadien des Studiums vorkommt. (Problematisch ist nur, dass sie in der Allgemeinmedizin häufig getrennt verbleiben, was sich in den stark fachspezifisch orientierten Behandlungsstrategien widerspiegelt. Aber mehr darüber später.)
Orthodoxe Ärzte und Chirurgen unterscheiden sich im Ausmaß der Akzeptanz dieser Vorstellungen. Die einen behaupten, es sei ja offensichtlich, dass geschädigtes Gewebe eindeutig eine veränderte Form darstelle und eine dementsprechend veränderte Funktion aufweisen müsse. Andere wiederum finden die Behauptungen des gesamten Konzepts sonderbar, für sie bleibt die funktionelle Verschmelzung von Struktur und Physiologie schwer zu fassen; es widerstehe jeder Übertragung in eine therapeutische Annäherung.
Werfen wir zwischenzeitlich einen Blick auf Theorien, die das Modell des Struktur-Funktion-Dialogs untermauern und auf das viele Osteopathen (und andere aus verwandten Bereichen) ihr Denken begründen.
Wie beeinflussen Struktur und Funktion sich gegenseitig?
Die Ideen, die hier zur Debatte stehen, haben unterschiedliche Entwicklungsstufen durchgemacht, zum Teil spiegeln sie die Kultur ihrer Zeit wider, zum Teil die Kühnheit ihrer Vertreter. Bemerkenswerterweise scheinen Stills Ideen umso vorausschauender gewesen zu sein, bedenkt man, dass die Theoriefindung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine ziemlich übermechanistische Phase geprägt war, aus der wir gerade erst anfangen langsam aufzutauchen. In seinem Textbook of Osteopathy beschrieb Thomas Dummer die Entwicklung der Osteopathie und fasste sie zu den folgenden, ausgedehnten Phasen zusammen:
1874 – 1900/1920: die gestaltende Phase
1920 – 1950/1960: die strukturelle/mechanische Phase
1960 – 1975: vermehrte kraniale/funktionelle Einflüsse
seit 1975: eine zunehmende Rückkehr zu den Quellen, einschließlich der Wiederbekräftigung des Holismus und von Stills Prinzipien mit einer gleichmäßigen Gewichtung von strukturellen und funktionellen Ansätzen.33
Bei den einzelnen Phasen handelt es sich selbstverständlich lediglich um grobe Zeitbezüge. Man kann jedoch sagen, dass die jeweiligen Perioden die Kultur ihrer Zeit widerspiegeln. Zum Ende des 19. Jahrhunderts war man reif für Neuerungen und unterstützte Stills bahnbrechende und prägende Ideen. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte eine bemerkenswerte Ausbreitung und Verbesserung der Produkte einer mechanistischen Kultur, die in der industriellen Explosion des 19. Jahrhunderts verwurzelt waren. Viele raffinierte, schwer nachvollziehbare Konzepte der osteopathischen Theorie wurden konsequenterweise in überspitzten mechanistischen Begriffen und mittels mechanischer Analogien ausgedrückt. Die noch immer anhaltende Tendenz osteopathische Prozesse sowie die muskuloskelettale Funktion zu übermechanisieren kann durchaus als eine Folge dessen angesehen werden.
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte eine starke Entwicklung in Bezug auf Elektronik und der Elektrotechnik durch die Festkörperforschung und begleitet von der Verbreitung jener Maschinen, deren Mechanismen sauber und unsichtbar waren. Es entwickelte sich eine Raffinesse im osteopathischen Denken, die differenziertere neurale und fluidale Dynamiken berücksichtigte und weniger Betonung auf den Körper als Maschine legte, dessen Teile auf mechanischem Wege in eine Ordnung gebracht werden müssten. Zugleich hielt die Quantentheorie Einzug in die Produktion von Ausrüstungen und Alltagsgegenständen unterschiedlichster Art. Dies bedingte die Zunahme von Nanotechnologie und einige Osteopathen sympathisierten mit faszinierenden Rückschlüssen der Quantentheorie, da sie zugleich Aspekte der Physiologie wie auch der Technik beleuchtete. Nun konnte man sowohl im öffentlichen Bereich wie auch bei Studenten und Behandlern ein wachsendes Interesse für subtile Behandlungsmethoden feststellen. Gekoppelt mit Systemtheorie, Ökologie, Chaostheorie und Globalisierung bahnte sich der holistische Anspruch seinen Weg mit größerem Selbstvertrauen denn je. In dieser Zeit begann man Stills (und Sutherlands) Prinzipien erneut aufzugreifen, neu zu interpretieren und die Osteopathie so voranzubringen, und zwar um ihretwillen (und nicht trotz ihrer, wie dies einige gerne gesehen hätten).
Verallgemeinernd kann man sagen, dass die Betonung unterschiedlicher Aspekte des Struktur-Funktions-Dialogs auf folgenden Gründen beruht:
der spezifischen historischen Periode in der Geschichte des Berufsstands;
der jeweils besuchten Schule und ihrem Einfluss;
dem Ansatz oder der Orientierung, zu der man sich grundsätzlich hingezogen fühlt, was zum größten Teil auf eigene Ideen, Philosophien, Auffassungsgabe etc. zurückgeht.
Grundregeln und Struktur-Funktion-Verbindungen
Gehen wir nun einmal die grundlegenden Lehren der osteopathischen Methoden durch, also jene Konzepte, denen der größte Teil des Berufstandes zustimmt (wenn auch nicht alle!). Kurz gesagt ruhen all diese Konzepte auf drei fundamentalen Säulen:
Dynamik der Flüssigkeiten,
Informationsübertragung und Regulation,
konstitutionelle Vitalität.
Mit anderen Worten, wir haben es mit Flüssigkeiten, Nerven und Feldern zu tun. Alle drei, gut integriert, ermöglichen es dem Körper seinem Potential an Selbstregulation, Gesundheit und Heilung Ausdruck zu verleihen. Darüber hinaus ist die effektive Wirkung des Gewebes, aus dem die Körperstruktur besteht (genauso wie alles andere Gewebe), aufs engste mit der Funktion dieser drei grundlegenden Aspekte verflochten. Dies nicht unbedingt in Form von Ursache und Wirkung, sondern vielmehr als Teil des Ganzen. (Sobald wir es mit lebendigem Gewebe zu tun haben, wäre es daher wohl besser in Begriffen von Struktur als Funktion zu denken, da sie in diesem Sinne praktisch untrennbar verbunden sind. Trotzdem tendieren wir immer noch dahin sie zu differenzieren, da Struktur anscheinend eher manuell zugänglich und somit das Konzept leichter zu unterrichten ist.)
Wie kommt es nun zu einem Zusammenbruch in diesen Bereichen? Welche darin verwickelten Prozesse liegen ihm zugrunde? Nun, ich denke, das Folgende kann als kleine Anleitung gesehen werden. Es fasst sämtliche Dynamiken zusammen, auf die sich eine gute Osteopathie gründet; einschließlich aller Parameter, die sich in einem permanenten Zustand reziproker Funktion befinden, ein Zustand, in den sich ein osteopathischer Behandler konstant einschwingt.
1 „Das Gesetz der Arterie ist absolut.“34 Die Betonung liegt hier auf der Bedeutung einer gesunden Blutversorgung für die Gesundheit und Vitalität aller Organe, Gewebe und Strukturen plus dem Einfluss, den eine veränderte strukturelle Funktion darauf haben kann. Einbezogen in dieses Prinzip ist die Rolle des Kreislaufsystems als eines Kanals zur Versorgung mit Nährstoffen, nebst aufeinander abgestimmter und selbstregulierender biochemischer Elemente, die die meisten Organismen selbst zu produzieren in der Lage sind.
2 Eine von allen Geweben ausgehende effektive und freigängige venöse und lymphatische Drainage und die Vermeidung stauender hyperämischer Zustände plus den beherrschenden Einfluss anomaler muskuloskelettaler Strukturen und Bindegewebe auf diese.
3 Gesunde und integrierte muskuloskelettale und Bindegewebssysteme, die über stimmige gewebliche Beschaffenheit und Tonus verfügen, fein abgestimmte und verbreitete Mobilität im gesamten Körper, einschließlich einer guten funktionellen Integration in Körperstruktur und -gerü̈st. Später mehr darüber.
4 Eine gesunde Körperhaltung in den üblichen Begriffen wie Lokomotion, allgemeine Beweglichkeit und Haltung und ihr Einfluss auf das oben Genannte (sowie auf das was noch folgt). Beispielsweise ist die Haltung signifikant für den Aufbau korrekter intrathorakaler und intraabdominaler Drücke und ihren Einfluss auf die Blutzirkulation und die Atmung. Des Weiteren drücken wir über sie mittels unserer primären Lebensmaschine35 unsere Beziehung zur Außenwelt aus, häufig ein Spiegel unserer Persönlichkeit und unseres Charakters.
5 Das tiefgreifende Wechselspiel zwischen einer guten strukturellen Funktion und dem Einsatz des zentralen und autonomen Nervensystems: Eine muskuloskelettale Funktion, die sich in gesunder Beweglichkeit spiegelt, ist mit einer gesunden integrierten Funktion innerhalb des Rückenmarks und einer Unzahl an Reflexmustern verflochten. Eine umfassendere Ausführung hierzu folgt weiter unten. Für viele repräsentierte dieses Gebiet den Schlüssel zu ihrem Verständnis der strukturellen Medizin. Genauso wie die Vorstellung, dass eine gestörte spinale Mechanik zu einem neuronal bedingten somatischen Zusammenbruch führt und in einer anomalen Physiologie resultiert. Dies war traditionell die kühne Behauptung der Chiropraktiker: ein weiterer Berufsstand, dessen Lehren ebenfalls Opfer einer eher zu stark vereinfachten Interpretation wurden. Etwa wurde behauptet, dass fehlgesteuerte spinale Repräsentationsorte in der Peripherie sich zwingend in der Fehlposition eines Wirbelkörpers (Subluxation) widerspiegelten, welcher wiederum zur Kompression von Nerven führe und Fehlfunktionen der Körperphysiologie bedinge: eine drastische, simple und etwas inkorrekte Repräsentation des chiropraktischen Credos. Es ist sehr interessant, dass viele der frühen Osteopathen ihre Ideen auf dieses ebenso simple wie unplausible Modell stützten und viele Patienten damit verprellten. Auch wenn es einfach zu verstehen und zu vermitteln ist, so ist es dennoch zum größten Teil falsch. Später werden wir uns die verbesserte Version dieses Konzeptes ansehen.
6 Die strukturelle Integrität des Körpers, in dem die strukturelle Funktion des gesamten Körpers in Wechselwirkung steht: Struktur beeinflusst Struktur. Dies trifft zu, da unterschiedliche Aspekte des strukturellen Systems bzw. unterschiedliche Gewebe auf außergewöhnliche Art und Weise miteinander kommunizieren. Antworten Körperstrukturen auf veränderte Belastungen und Spannungsmuster und passen sie sich diesen an, können komplexe Kompensationsmuster entstehen. Die Systeme der spinalen Mechanik sind in diesem Zusammenhang seit jeher Grundlagen in der Lehre der Osteopathie, von Littlejohn über Fryette36, Hall37 und Wernham, bis hin zum Tensegrity-Modell38 (Buckminster Fuller, Donald Ingber, Stephen Levine) mit seiner Bedeutung für das Bindegewebe und den unterschiedlichen Theorien zur Biotypologie einschließlich ihrer Perspektiven in Bezug auf Diagnostik und Behandlung. Später mehr darüber.
7 Das Bindegewebe des Körpers stellt eine Funktionseinheit dar, eine Matrix, die den mechanischen Tensegrity-Gesetzen unterliegt, und repräsentiert damit die unmittelbarste und bedeutendste Schnittstelle zwischen Struktur und Funktion, bis hinunter zur Zellebene. Das ist von zentraler Bedeutung; es bestätigt nicht nur Stills Betonung der Faszien und ihre primäre Unterstützung für eine gesunde Physiologie – „Durch ihre Aktion leben wir, durch ihr Versagen sterben wir.“39 –, sondern bezeichnet zudem jenen Bereich innerhalb unseres Studiengebietes, welcher sich im Wesentlichen auf die neuesten Forschungsarbeiten in der Biologie stützt. Dabei handelt es sich um das Konzept des Körpers als einer Matrix bioelektrischer Signale, die somit ein Kommunikationsnetzwerk zur Verfügung stellt, welches das Nerven- und das Kreislaufsystem ergänzt. Dies ermöglicht Informationsaustausch und Transport von jedem Körperteil aus in den gesamten Organismus aufgrund von Quantenmechanik, Piezoelektrik und der Halbleitereigenschaften des lebendigen Gewebes, der Kollagene und des Wassers.40
8 Die energetische Matrix, die all diese Dinge widerspiegelt, neben ihrer Rolle als Behältnis für das mental-emotionale und subtilere Material im Bewussten und Unbewussten des Patienten und sogar seine spirituelle Ganzheit. (Einige empfinden das letztere vielleicht als etwas heikel; lassen wir es vorerst aber einmal einfach so stehen.) Die Kapazität des Körpers Aspekte des Seins des Patienten, seine Beziehung zu sich selbst und zu seiner Welt zu speichern, ist wahrlich außergewöhnlich, angefangen von der allgemein sichtbaren, introvertierten oder arrogant-extrovertierten Haltung und den damit verbundenen Bewegungsmustern, bis hin zur Speicherung emotionaler (und physischer) Traumata. Freud selbst tauchte in Neurologie und Physiologie ein und behauptete, „Das Ich ist zuallererst einmal ein Körper-Ich“. Auch wenn wir dazu neigen diesen Aspekt der Beobachtung zu nutzen und die Wahrnehmung dessen speziell in unserer Praxis zu verfeinern, so ist er natürlich Bestandteil des gesamten Alltags. Wir reagieren auf alle Arten von Hinweisen in der Interaktion mit anderen; unbewusst registrieren wir ihre Körpersprache, ihr Gebaren, sogar die Energie, die sie auf uns übertragen (oder uns abziehen). Wir wissen augenblicklich, ob wir jemanden mögen, uns zu jemandem hingezogen fühlen oder ob wir ihn als auslaugend oder abstoßend empfinden. Energetischer Austausch zwischen den Menschen ist ein Phänomen, dessen wir uns alle bewusst sind. Die Möglichkeiten dieses Potential in seiner komplexen Form zu verstehen und zu erforschen ist ein verführerischer Teil des Dialogs bzw. ‚Tanzes’ zwischen Patient und Behandler.
9 Rhythmik: ein Konzept mit besonderer Bedeutung für Osteopathen, auch wenn es oftmals sehr unterschiedlich interpretiert wird. Sie ist offensichtlich in guten Behandlungen, in gesundem Gewebe und in der tidenartigen Fluktuation der zerebrospinalen und extrazellulären Flüssigkeiten. Sie repräsentiert einen essenziellen Teil im kranialen Konzept, welches das Lebensprinzip und dessen Übertragung in die gesunden Gewebe mit umfasst und in Sutherlands Formulierung Atem des Lebens41 seinen Ausdruck findet. Herbert Fröhlich schreibt über die Eigenschaft biologischer Systeme sich in kohärenter Oszillation auszudrücken42 und Alfred Pischinger spricht von der inhärenten Fähigkeit der Bindegewebsmatrix zur rhythmischen Oszillation.43 Auf unterschiedliche Art und Weise ist eine gute osteopathische Behandlung in der Lage Rhythmik in das lebendige Gewebe zu übertragen oder dieses positiv zu beeinflussen. Auch hierzu später mehr.
Zusammengefasst: Das osteopathische Konzept stellt eine Art Landkarte zur Verfügung, mithilfe derer wir eine diagnostische und therapeutische Route ermitteln können. Dabei beziehen sich diese Prinzipien auf:
ein Verständnis der mechanischen Interaktionen innerhalb des körperlichen Rahmens;
eine Einschätzung, wie Funktion (physiologisch, emotional etc.) sich in der Struktur widerspiegelt;
eine Ahnung des interaktiven Prozesses, der zum Teil neurologisch, zirkulatorisch und energetisch ist, einschließlich eines vielgestaltigen Informationsaustausches. Dazu kommt die Fähigkeit dies in Bezug auf Mobilität und Motilität44 zu beobachten, zu palpieren und zu interpretieren.
Nun, natürlich ist Osteopathie nicht die erste Disziplin, die die Bedeutung von Flüssigkeiten und Informationsdynamik für die Gesundheit hervorhebt, und sie wird sicherlich auch nicht die letzte bleiben. Was sie jedoch tat und immer noch tut, ist zu betonen, wie häufig und relativ subtil Störungen und Veränderungen dieser zu einer Dysfunktion, zu Krankheit oder Pathologie führen kann, insofern nicht gehandelt wird (sei es nun durch Kompensationsprozesse, Anpassung oder Widerstand, oder durch therapeutische Hilfe). Zudem betont sie in diesem Zusammenhang die Rolle der Körperstruktur und seine diesbezüglich integrierten Handlungen.
Nach nahezu einem Jahrhundert ‚chemischer’ Medizin, in dem Forschung und Praxis unsere Gesellschaft im Bereich der Krankenpflege revolutioniert haben, erscheinen Stills Gedanken über Medikamente für manch einen fehl am Platz. Er wurde niemals müde zu betonen, dass der Körper ein Meister der chemischen Selbstregulation sei, die einem Prozess struktureller Anpassung und Reintegration automatisch folgen werde. Dieses Prinzip wurde in der Osteopathie immer sehr hoch gehalten. Man sollte jedoch vorsichtig sein, wenn man en gros die Nutzung von Medikamenten ablehnt, die enorme Vorteile für die Patienten gebracht haben.45
Gleichzeitig bietet die Vorstellung der Effektivität einer intrinsischen biochemischen Selbstregulation ein großes Gegengewicht zu dem übermäßigen Gebrauch von Medikamenten und den damit verbundenen, leider allzu häufig auftretenden iatrogenen Spätschäden. Stills Rede von Gottes eigener Apotheke und die Art und Weise, wie ihr Nutzen durch eine vollkommene Integration mithilfe der Osteopathie wieder aktiviert werden kann, bleibt so wichtig wie eh und je – was nicht heißt, dass man die umfassenden Leistungen der modernen Pharmakologie nicht anerkennen sollte, insbesondere wenn man sie mit der vergleichsweise naiven Medizin der damaligen Zeit vergleicht. Stills Vermächtnis war es, zumindest für Osteopathen, einen weniger invasiven Ansatz in Bezug auf eine chemische Regulation zu wählen, d. h. eine Stimulation der Selbstregulationsmechanismen durch den Einfluss einer strukturellen Reintegration und die damit verbundenen kraftvollen konstitutionellen Wirkungen. Diese Position beleuchtet zugleich eine der bedeutendsten Unterschiede zwischen allopathischem und osteopathischem Denken.
Mehr über Struktur-Funktion-Zusammenhänge
Als nächstes wollen wir einige dieser ominösen Struktur-Funktion-Zusammenhänge etwas genauer betrachten. Damit verbunden ist ein derartig natürlich anmutendes Modell, dass ich mich oft darüber wundere, warum das osteopathische Konzept so hart um Anerkennung kämpfen musste. Einige Aspekte werden durch bemerkenswerte Forschungsergebnisse in jenen Disziplinen unterstützt, die für die Orthodoxie momentan eine große Herausforderung darstellen. Aber wir kommen etwas vom Pfad ab.
Blutversorgung
Stills Leitprinzip, die Rolle der Arterie ist absolut, ist gewiss etwas übertrieben,46 jedoch ist seine Bedeutung für jedermann nachzuvollziehen. Es benennt ganz klar die Tatsache, dass Gesundheit, gesundes Gewebe und normale Funktion auf einer relativ effizienten Blutversorgung beruhen.
Blut transportiert Nahrung und Sauerstoff zu den Zellen und ist das Hilfsmittel, mit dem Abfall- und Nebenprodukte des Stoffwechsels zur Leber und zu den Nieren transportiert werden. Galen (ca. 130 – 200), einer der bedeutendsten Ärzte der Antike, hatte bewiesen, dass die Arterien Blut und nicht Luft transportieren. Allerdings sollte es bis 1628 dauern, ehe der englische Arzt William Harvey (1578 – 1657) die Dynamiken des Blutflusses mit dem Herzen als zentraler Pumpe beschrieb und somit ein korrektes Verständnis des Kreislaufsystems ermöglichte. In jedem menschlichen Körper umfasst dieses ca. 160.000 Kilometer an Blutgefäßen und etwa fünf Billionen rote Blutkörperchen, von denen täglich 25.000.000 durch das Knochenmark erneuert werden; das sind etwa 300 pro Sekunde.
Noch wichtiger für uns ist aber die Tatsache, dass der ungehinderte arterielle Arbeitsablauf durch eine strukturelle Fehlfunktion beeinflusst werden kann. Es ist zwar leicht nachvollziehbar, dass Veränderungen und Anomalien, Deformitäten und Traumata möglicherweise eine schädliche Wirkung auf die Zirkulation haben, aber die Osteopathie geht diesbezüglich noch viel weiter, indem sie sagt, dass relativ kleine Veränderungen in der Bewegungsfähigkeit des Gewebes, von knöchernen intervertebralen Bewegungsanomalien bis hin zu feinsten oszillierenden Veränderungen im Bindegewebe (und sogar noch feinere als diese), Flüssigkeitsdynamiken und Druckgradienten verändern und damit physiologisch höchst relevant werden können. Die Effekte können sehr lokal sein, z. B. eine direkte Verengung eines Blutgefäßes bzw. eine entzündliche Reaktion, oder systemisch, so dass etwa Veränderungen der Drücke in einzelnen Körperhöhlen in Veränderungen des Blutdrucks resultieren. Sie können im Zusammenhang mit lokalen Gewebereparationen bzw. -heilungen stehen, oder sie haben eine mehr allgemeinere Bedeutung, wie etwa bei der Blutversorgung lebenswichtiger Organe. Es geht hier nicht um die Offenbarung der Bedeutung des Blutes, sondern lediglich um die Behauptung, dass strukturelle Funktionen Mechanismen seiner Anlieferung, seines Transportes, seiner Verfügbarkeit und sogar seiner Qualität beeinflussen.
Venöse und lymphatische Drainage
Es gibt unzählige Beispiele für pathophysiologische Einflüsse auf lokale wie systemische Stauungen im venösen und lymphatischen System, von lokalen Schwellungen und Ödemen in den Gliedmaßen bis hin zu Stauungen im renalen oder kardiopulmonalen Netzwerk. Solche Einflüsse können sehr ernst, sogar fatal sein, andere sind lästig und viele werden über Jahre hinweg so lange gar nicht erst bemerkt, bis der Einfluss einer solchen Stase und passiven Hyperämie langsam zur Herabsetzung der wesentlichen Funktion eines Organs führt. Es kann zu Zystenbildung oder Zelluntergang kommen. Das Fibrom in einer Gebärmutter ist beispielsweise eine von tausenden dieser möglichen Konsequenzen. Eine gute arterielle Blutversorgung, ergänzt durch eine gesunde venöse und lymphatische Drainage, sorgt für jene effiziente Flüssigkeitsdynamik, auf welcher Gesundheit beruht.
Und noch einmal, es ist die Rolle, die dies in der Gesamtheit der Körperfunktionen einnimmt, alle bisher erwähnten Systeme als ein integriertes organisches Ganzes eingeschlossen, zusammen mit dem Netzwerk oder der Matrix, die das neuroendokrine, muskuloskelettale und Bindegewebssystem umfassen. Große wie kleine mechanische Einflüsse, die strukturelle Balance und die Ausdrucksmuster sowie die Beschaffenheit des Körpers, zusammen mit der Spannung und den Bewegungseigenschaften aller strukturellen Elemente, haben einen großen Einfluss auf die für unsere Gesundheit so essenzielle Flüssigkeitsdynamik.
Wasser
Den meisten Menschen ist klar, dass Wasser für das Leben essenziell ist. Viele würden weite Reisen, ohne einen eigenen Vorrat an Trinkwasser mitzunehmen, nicht unternehmen. Trotzdem sind die außergewöhnlichen Eigenschaften dieser Substanz, die etwa 75 – 85 Prozent von uns ausmacht, nur wenigen bekannt. Wasser löscht und schmiert nicht nur. Wasser reagiert, verhält sich und kommuniziert. Aufgrund des Musters seiner Wasserstoffbindung und vielen anderen besonderen Eigenschaften besitzt es eine Molekularstruktur, die bestimmte Lösungen widerspiegelt und unzählige molekulare Reaktionen und Transaktionen im Körper vermittelt. Des Weiteren drückt sich sein inhärentes Molekularverhalten sowohl mechanisch wie auch elektrisch und auch chemisch aus und beeinflusst, übermittelt und überwacht die meisten, wenn nicht sogar sämtliche wesentlichen Körperfunktionen. Viele anerkennen die allgegenwärtige Natur des Wassers. Sein außergewöhnlicher Einflussbereich ist Ziel spezieller Studien, wohingegen seine Verbindung mit dem rhythmischen Ausdruck, basierend auf Gewebe- und Zelloszillationen, einen grundlegenden Bereich der osteopathischen Theorie und Praxis repräsentiert. Paul Lee untersucht dieses Phänomen auf wunderbare Art und Weise in seinem Buch Interface. In meinen Augen ist dieses Buch essenziell sowohl für Studenten wie auch Graduierte. In ihm bezieht sich Lee auf die Leben-fördernden Eigenschaften des Wassers durch seine verschiedenen außergewöhnlichen Qualitäten. Er zitiert Theodor Schwenk47, der die Qualitäten des Metabolismus, Empfindlichkeiten und Rhythmus des Wassers spezifiziert. Dr. Karl Maret48 äußert redegewandt in seinem Vorwort zu James Oschmans49 Energy Medicine in Therapeutics and Human Performance die mit Szent-Györgyis50 Auffassung verwandte Behauptung, dass die submolekulare oder elektronische Dimension – in der Biologie allgemein vernachlässigt – im Grunde auch allen anderen primären Bereichen der Biologie hinzugefügt werden müsse: dem Makroskopischen (Anatomie), dem Mikroskopischen (Zellen) und dem Molekularen (Proteine). Maret schreibt:
„Alle lebendigen Prozesse im Körper beruhen auf dem Transport von Ladungen, um damit Energie zu leiten und Leben zu erhalten. Die gesamte wässrige Matrix unseres Körpers ist mit komplexen ladungsgekoppelten Feldern verbunden, die ungefähr 60 Pulsationen elektromagnetischer Energie von unserem schlagenden Herzen pro Minute erhält. […] Jede Zelle des Körpers befindet sich in direktem elektromagnetischen Kontakt mit dem torusförmigen magnetischen Feld des Herzens.“
Maret erläutert bezüglich des kontrollierend vereinigenden Einflusses des Wassers, dass dies die auf die gesamte Bindegewebsmatrix, das größte Organ des Körpers, übertragbar sei. Wie wir später noch sehen werden, ist die Rolle der Matrix als Mediator bioelektrischer und biochemischer Information von allerhöchster Bedeutung. Dies beschrieben auch Alfred Pischinger, Robert Becker51 und Szent-Györgyi in ihren Arbeiten. Des Weiteren vereinigt dies auf wunderbare Weise das Konzept tensegrischer und piezoelektrischer Eigenschaften52 (im Zusammenspiel von Kollagen und Wasser) mit dem osteopathischen Konzept von Struktur-Funktion. In diesem Zusammenhang spielt der ausgezeichnete und unschätzbare Beitrag von Donald Ingbers (mit seinem Modell der Mechanotransduktion53) für die Struktur-Funktions-Zusammenhänge in unserem Verständnis eine zentrale Rolle. Außerdem ist es das Wasser, welches den ‚lebendigen’ Proteinen im Körper ihre Halbleitereigenschaften verschafft. Dieser Behauptung von Szent-Györgyi wurde von Kritikern fälschlicherweise widersprochen, denn sie hatten bei ihren Proben ausschließlich ‚tote’, d. h. dehydrierte Proteine entnommen. Verbunden mit Glen Reins Behauptung54, dass „[…] gewisse Biomoleküle als Supraleiter fungieren und biologische Systeme im Allgemeinen nicht lokale, sondern globale Eigenschaften aufweisen, welche ihre Fähigkeiten stets auf Quantenebene demonstrieren.“ (Del Guidice et al. 1989, Popp & Chang 1979) ist dies sehr interessant. Nach seiner Ausführung wurde der Wahrscheinlichkeit, dass dieses Verhalten auf endogene Quantenfelder innerhalb biologischer Systeme zurückzuführen ist, bisher kaum Beachtung geschenkt, Felder also, die ihrerseits einen Einfluss auf die endogenen elektromagnetischen Felder der Körpers haben.
Spinale Mobilität
Im nächsten Kapitel werden wir uns den wichtigen Bereich der spinalen Mobilität genauer anschauen. Denn kein osteopathischer Überblick ist vollständig ohne die Erwähnung dessen, was im Zentrum des osteopathischen Denkens steht.
Anomale spinale Mobilität wurde zum Prüfstein der palpatorischen Diagnostik in der Osteopathie (neben anderen manipulativen Behandlungssystemen). Nahezu alle Schulen und Richtungen osteopathischer Lehren erkennen die Bedeutsamkeit einer veränderten Physiologie an, die eine Restriktion oder Bewegungsanomalie der Wirbelsäule, einschließlich der diese begleitenden Veränderungen in den Muskeln und Ligamenten, mit sich bringt. Die veraltete Theorie der vertebralen osteopathischen Läsion sowie jener fehlpositionierter Wirbel, die Druck auf die Nerven ausüben und physiologische Reaktionen bewirken, kann man eigentlich nur in zwei Fällen bestätigen: erstens im Fall einer echten positionellen Läsion, die vornehmlich als Folge eines physikalischen Traumas auftritt und fast stets nur in den atypischen spinalen Regionen (den oberen zervikalen und den lumbosakralen Gelenken) vorkommt; und zweitens, in Fällen einer massiven spinalen Pathologie, entweder traumatisch, angeboren oder degenerativ. Die meisten spinalen Läsionen, zu deren Behandlung wir aufgefordert werden, sind anomale Bewegungen und deren begleitende Irritationen. Letzteres ist von erheblicher Bedeutung und wesentlicher Bestandteil der physiologischen Geschichte der Läsion in all ihrer Komplexität, bezüglich dessen, was sie aufrechterhält und was sie verursacht hat.
Irvin Korr 55
Das Verständnis der Mechanismen einer Läsion wurde vor allem von Professor Irvin Korr in den 1940 ern und 1950 ern vorangebracht. Gemeinsam mit Dr. J. S. Denslow und anderen erforschte und erweiterte er unser Wissen auf beiden wesentlichen Gebieten des osteopathischen Ansatz. Ein Bemühen, welches er über einen Zeitraum von 30 Jahren entwickelte und erweiterte. Für Osteopathen ist es hilfreich die Ansicht der Läsion als Ursache für Druck zu ersetzen durch jene Vorstellung, die ihren Fokus auf einen Anstieg der physiologischen Sensibilität oder Irritabilität setzt. Damit ist ein veränderter physiologischer Zustand gemeint, der möglicherweise eine Überstimulierung der dazugehörigen neurologischen Leitungsbahn hervorruft; ein Phänomen, das als erhöhte Fazilitation bekannt ist. Darüber hinaus beschrieb Korr detailliert die Art und Weise, mit der diese erhöhte Irritabilität alle dazugehörigen Nerven und deren inervierte Gewebe, ob Muskeln, Blutgefäße oder Viszera, via autonomer Leitungsbahnen über somato-viszerale oder viszero-somatische Reflexe beeinflusse. Dieser neue Ansatz passte wunderbar zu Littlejohns Ansatz, bei dem die Betonung physiologischer Effekte struktureller Fehlfunktionen von größter Bedeutung ist. Der rein mechanistische Blick auf spinale Funktionen wurde dadurch überholt und auf neurophysiologische und biochemische Phänomene ausgeweitet. Des Weiteren wurde gezeigt, dass neurologische Prozesse, die zu einer Dysfunktion führen können, selbst multi-direktional in ihrer Abhängigkeit oder Unabhängigkeit gegenüber Impulsen sind. Hier spielen beispielsweise Prozesse, die von der Leitungsfähigkeit der Nervenimpulse bestimmt werden, das Phänomen des axonalen Transports und die Verteilung axonaler Proteine in Bezug auf die Versorgung viszeraler oder muskuloskelettaler Gewebe eine Rolle.56
Die Mechanismen, durch die eine Läsion erzeugt und unterhalten wird, wurden von Korr in seinen Arbeiten über Propriozeption und die Rolle der Muskeln und Sehnenrezeptoren ebenfalls ausgearbeitet. Hier zeigt er die Folgen einer Bombardierung von Rückenmarkssegmenten durch ‚inkompatible’ Daten aus Gelenken, Muskeln und Sehnenrezeptoren.57 Zusammen mit Richard Van Buskirks Schriften über die Rolle der Nozizeptoren58 kam es dadurch zu einem besseren Verständnis der Läsion und ihren Auswirkungen. Die Ziele einer manipulativen Behandlung (egal welcher Art) wurden damit verständlicher.
Wie bereits im Kapitel Wechselwirkungen beschrieben, kann die Bedeutung der Einheit der Körperfunktion niemals genug betont werden. Die neuromuskuläre Information, die durch eine Läsionsstellung erzeugt wird (und auf die ich mich beziehe), schafft und unterhält aufgrund der vielen Mechanismen von Kompensation, Synergie und Adaptation eine allgemeine Veränderung auch im Muster der muskuloskelettalen Funktionen. Der somatische dysfunktionale Zustand erscheint dann in unterschiedlichen strukturellen Ausprägungen, aus deren Bestandteilen entsprechend der diagnostischen Systeme oder Vorgehensweisen eine Auswahl getroffen wird. Dies ist jedoch nur die halbe Geschichte, denn das alles lebendige Gewebe durchdringende komplexe Netz bioelektrischer Signale hängt zudem von der Funktion der Bindegewebsmatrix ab, in die es eingebettet ist und die sowohl für die Körperfunktionen, aber auch innerhalb der osteopathischen Theorie eine überragende Rolle spielt. Dieser Aspekt verbindet alle strukturellen Muster. Aber erst aus dem Verständnis beider Aspekte erschließt sich die umfassende Bedeutung der Matrix an sich und die Möglichkeit diese therapeutisch zu nutzen, so wie dies beim kranialen Ansatz der Fall ist.
Die Bindegewebsmatrix
Was genau ist eigentlich Bindegewebe? Zunächst ist es eine Gewebeart, die man in viele weitere Untergruppen oder Kategorien aufteilen kann, wobei so gut wie jeder Teil, den wir als Körperstruktur oder Rahmen bezeichnen, darin enthalten ist: Knochen, Knorpel, Membranen, Sehnen, Ligamente, Fasern, Zellen etc., und sogar die Grundsubstanz, die wir mit der extrazellulären Matrix in Verbindung bringen. Reich an Kollagenen und Wassermolekülen ist es mit vielen außergewöhnlichen Eigenschaften ausstattet, welche durch die Arbeiten des Physiologen Albert Szent-Györgyi, der Ärzte Dr. Herbert Fröhlich und Dr. Alfred Pischinger, neben vielen anderen, beschrieben wurden. All diese Arbeiten spielen in der Erforschung des osteopathischen Konzepts immer wieder eine Rolle und viele dieser Charakteristika zeigen beispielhaft, was Szent-Györgyi als ein Versäumnis der biologischen Naturwissenschaft betrachtet: die bioelektrische Halbleiter-Eigenschaften des lebendigen Gewebes (in erster Linie Kollagene und Wasser), seine piezoelektrischen Eigenschaften und seine Rolle als schnelles Kommunikationssystem, das das neuronale und das zirkulatorische System ergänzt. Er behauptet, dass Proteine Halbleiter seien, die folglich reguliert werden könnten, um damit die Steuerung des Elektronenflusses zu beeinflussen. In der Tat ist dies eine Eigenschaft, die von sämtlichen Molekülen der extrazellulären Matrix geteilt wird.
Das Bindegewebe ist in seiner Ganzheit in gewissem Sinne demnach sowohl architektonisch wie auch energetisch und sogar informationell. Von Oschman wird es als lebendige Matrix bezeichnet, wobei hierbei v. a. das Zellskelett in seiner Beziehung zum Zellkern und seiner DNA gemeint ist. Die in der Matrix enthaltenen Informationen beeinflussen somit auch das genetische Material der Zelle auf zweierlei Weise.59 Dies führt uns zu der Vorstellung, dass die zelluläre DNA nicht vorrangig die Gewebefunktionen reguliert, sondern zugleich selbst durch die Funktion der Bindegewebsmatrix in seiner kommunikativen, transportiven, energetischen und informativen Aufgabe moduliert wird.60
Die energetische und informative Dimension ist in diesem Zusammenhang an sich schon bemerkenswert. Wie sie die Vorstellung der genetischen Vormachtstellung in der Betrachtungsweise der lebendigen Systemen herausfordert, ist für uns von herausragender Bedeutung. Die Art und Weise, wie lebendige Systeme oder Lebensformen sich organisieren, um ihre einzigartigen Charakteristika zu entwickeln, mit anderen Worten, das, was Leben an sich ist, bleibt dennoch ein Mysterium. 1968 präsentierte Herbert Fröhlich die Überlegung, dass lebendige Wesen informative Felder in Form elektromagnetischer Wellen hervorbringen. Viele Forscher (darunter auch der namhafte Rupert Sheldrake61 und sein Arbeit über morphogenetische Felder) haben seither dieses Thema weiter ausgearbeitet, während Fröhlichs Arbeit selbst auch einen Blick auf die Ideen anderer Forscher, wie etwa Harold Saxton Burr, wirft, der bereits in den 1930ern mit seiner Arbeit über Lebensfelder begann.62 Es scheint inzwischen, dass Ausprägung, Muster und Funktionsweise des lebendigen Gewebes anscheinend eine gewisse Organisation elektrischer Felder widerspiegeln; ein Gedanke, der von etlichen Forschern über viele Jahrzehnte hinweg immer wieder auf unterschiedliche Weise konzipiert wurde. Und auch wenn alle Ablehnung erfahren haben oder in den Hintergrund gedrängt wurden, so sind sie doch immer noch unter uns – und weigern sich zu gehen! Der Biologe und vielseitige Gelehrte Stuart Kauffman geht das Mysterium des Lebens an, indem er sagt: „Organismen sind nicht nur einfach zusammengebastelte Vorrichtungen, sondern Ausdruck tiefergehender Naturgesetze.“63 Weiter behauptet er, dass die Art, wie Energie, die mittels eines Ionenflusses, welcher durch Elektrolyte in Plasma und Gewebeflüssigkeiten entsteht, kommuniziert, als An- und Ausschalter für viele biologisch aktive Stoffe wirke.64 Interessanterweise sprachen Still und Sutherland in ihrer eigenen Begriffswelt über derartige Dynamiken, noch lange bevor Biologen Details darüber ausgearbeitet hatten.
Zusammenfassung
Die Struktur des Körpers als ein Informationsnetzwerk ist weitaus komplexer, als man beim bisherigen Modell angenommen hatte, welches lediglich auf neuromuskulären Reflexmustern und der Rolle des Kreislaufsystems beruhte. Und wie Still bereits vor mehr als 100 Jahren beteuerte, schließt es ebenso die fasziale wie die Bindegewebsmatrix auf viel grundlegendere Weise mit ein:
Intrazelluläre Physiologie basiert auf einer rhythmischen, d. h. kohärent oszillierenden Bewegung als Grundeigenschaft eines gesunden lebendigen Gewebes.65
Die tensegrische Struktur des Zellskeletts und seine Funktion beeinflussen die Effektivität und Qualität des Informationstransfers zu den tubulinen Polymeren und Mikrofilamenten einschließlich des Zellskeletts und ihrer Anordnung.66 Umgekehrt stehen sie unter dem Einfluss von Signalen aus der extrazellulären Matrix. Ob wir nun Muskelzellen, Epithelzellen, Immunzellen, Nerven- oder Knochenzellen betrachten, diese Aussage trifft auf alle zu.67
Integrine oder integrale Membranproteine bilden eine physiologische und informative Verbindung zwischen extra- und intrazellulärem Raum. Dies betrifft den Proteinmetabolismus und seine Anpassung ebenso wie den Zellkern und die genetischen Mechanismen.
Der molekulare Informationstransfer wird mittels Halbleiter-Eigenschaften des Gewebes und seiner kristallinen Gitterstruktur übertragen (Szent-Györgyi). Er unterliegt dabei ebenfalls den frei beweglichen und spannungsabhängigen Qualitäten des Körpers, die mittels Bewegung und mechanischer Balance oder Integrität via piezoelektrischer Eigenschaften vor allem des Kollagens und des Wassers ausgeübt werden.
Ultraschneller Elektronentransfer – durch Gleichstrom – ist eine schnelle, körperumfassende Funktion des Perineuriums, der die gewöhnliche Impulsübertragungsfähigkeit des Nervensystems ergänzt.68
Die extrazelluläre Matrix und das Bindegewebssystem stellen somit ein Medium dar, durch welches die Körper-Struktur direkt die Physiologie, bis auf Zellebene hinunter, beeinflusst – bioelektrisch, biochemisch und metabolisch (Pischinger). Sie senden globale Informationen zu sämtlichen Zellen im Körper, und dies weitaus schneller, als es neuroendokrine, zirkuläre und reflektorische Netzwerke könnten.