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RAUM UND KITT

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Ob wir nun Konzepte, Ideen oder Objekte selbst betrachten, es sind immer auch die Räume zwischen ihnen, ihre Nebeneinanderstellung oder ihre Schnittstellen, ihre Interaktion, die ihre Eigenschaften als Ganzes beinhalten. Auch wenn diese schwer definierbar sind, so liefern erst sie jenen Kitt, der den Dingen eine Komplexität, Tiefe und Bedeutung verleiht. Es gibt viele Dinge im Leben, deren Wert sich erst durch den Kitt, d. h. in ihren Schnittstellen erschließt. Misslingt uns der Blick dorthin und ziehen wir die Teile dem Ganzen vor, bleiben uns lediglich Ideen, Konzepte, Theorien oder Statements, die sehr begrenzt, bedeutungslos oder schlichtweg falsch sind. Viele Bereiche menschlicher Entdeckungen wurden aufgrund dieser fehlerhaften Beobachtung abgelehnt oder ignoriert, wodurch Dinge von unschätzbarem Wert dem Müllhaufen geschmähter Heterodoxien übergeben wurden. Diese mutigen Bemühungen wurden sehr häufig durch Kulturen, Traditionen und Folklore hervorgebracht, wobei sie manchmal auch als ‚neue’ Paradigmen auftauchen, wie z. B. Systemtheorie, Holismus und einige der Erkenntnisse der Quantentheorie. Wir werden den Einfluss dieser These auf unser besonderes Gebiet in den folgenden Kapiteln betrachten.

Osteopathie ist seit nunmehr gut 40 Jahren mein Beruf, meine Obsession. Sie wurde durch viele nicht-osteopathische und nicht-medizinische Alltagserfahrungen bereichert und vervollkommnet. Ebenso war sie ein Fenster zu einer erweiterten Welt des Verstehens und Erforschens, welches viele philosophische Abschweifungen, spirituelle Reflexionen und Fragen hervorbrachte. So manches Mal bekamen meine ehemaligen Studenten glasige Augen, wenn ich mal wieder anfing entsprechende Streifzüge zum Besten zu geben, wohlwissend, dass ihre Geister von relevanteren Begebenheiten geplagt wurden, z. B. dem Neurologie-Examen am nächsten Tag oder was auch immer. Dennoch fanden immer zwei oder drei Studenten Gefallen daran mich auf meiner Reise zu begleiten. Diese Anteilnahme erzeugte einige der genussreichsten Momente meiner gesamten Lehrlaufbahn. Seitdem ich einige dieser Gedanken zum Ausdruck brachte, fand so manch einer Befriedigung in der Kristallisierung, Erforschung und Verdeutlichung der Dinge. Und so fühle ich mich nun auch berechtigt meine Gedanken in diesem Buch weiterzugeben.

Ein großer Teil dessen, was ich auf den folgenden Seiten zum Ausdruck bringen werde, spiegelt meine eigenen persönlichen Prozesse, Perspektiven und Erfahrungen wider. Dabei erhebe ich nicht den Anspruch, irgendwelche aufsehenerregenden Neuigkeiten zu präsentieren, denn im Grunde wurde bereits alles gesagt; wir hüllen lediglich alte Ideen in neue Kleider. Und doch kommt es hin und wieder zur Geburt radikal neuer Ansichten. Sie entspringen wahrlich kreativen Köpfen. Diese Arbeit gehört, wenn überhaupt, zur ersten Kategorie, d. h. in die Abteilung ‚neue Kleider’. Ich bin seit langem dankbar für das, was ich nur als mein Glück beschreiben kann, nämlich die Freude an der praktischen Arbeit als Osteopath, was sie mich lehrte und was sie mir offenbarte. Häufig schwelgte ich in den Grenzbereichen, die sich mir auftaten. Ich wollte nicht nur die Art und Weise aufzeigen, in der die Kunst der Osteopathie ihre vitalen wissenschaftlichen Fundamente überwindet, sondern ebenso all die Aspekte zelebrieren, die uns zu Menschen machen und sie mit diesem Buch jedem vielschichtig interessierten, offenen und hungrigen Geist verfügbar machen.

Einige meiner Ausflüge führen dabei in fremde Regionen, intellektuelle Abstraktionen, philosophische Verwicklungen, Fragen ohne Antworten, irdische und spirituelle Streifzüge. Sie werden als Teil der Nahrung des Lebens und der Gedanken über das Leben zumindest einige verwundern bzw. erstaunen. Allem voran aber wollte ich eine Alternative zu einer geradezu erstickenden Tendenz unserer Zeit präsentieren. Diese Tendenz besteht darin, ausschließlich solchen Praktiken eine Gültigkeitsgarantie zuzugestehen, die sich auf faktische Beweise reduzieren lassen. Durch die Elimination der subjektiven Welt aber schneiden wir diese Welt entzwei.

Es war mein Anliegen, einen Blick auf jene Gebiete der Naturwissenschaft zu richten, in denen Versuche unternommen wurden ebenso aus dem Mainstream auszubrechen, wie dies die Osteopathie in Bezug auf die Medizin der 1870 er tat. Dort findet sich häufig die aufregende Welt jener Außenseiter, die die Grenzen durch reine Kraft, Entschlossenheit und Inspiration ihrer forschenden Geister verschieben. Derlei ernst gemeinte Erkundungen geben unserer osteopathischen Disziplin eine Klarheit, mit der vieles von dem beleuchtet werden kann, was wir zwar gut gemacht haben, ohne aber eigentlich zu wissen warum. Wie Karen Armstrong in Bezug auf Einsteins Relativitätstheorie hervorhebt:

„In den Naturwissenschaften, wie auch in der Theologie, können Menschen Fortschritt durch unbewiesene Ideen erlangen. Sie sind praktisch anwendbar, selbst wenn sie nicht (noch nicht) empirisch belegt sind.“ 15

Ich hoffe, Osteopathen werden an einigen dieser Dinge Interesse finden. Vieles davon wird einem möglicherweise bekannt vorkommen oder man wird damit nicht einverstanden sein. Osteopathen – wie weithin bekannt – sind selten mit irgendetwas einverstanden! (Es wird sicherlich einige Gegner geben, die einen vollkommen anderen Blick auf unsere Arbeit haben und sich kaum die Zeit nehmen, um einen gewissenhaften Blick auf die Ideen in diesem Buch zu werfen.) Aber auch Nicht-Osteopathen, egal ob sie nun als Patienten Kontakt zur Osteopathie hatten oder ob sie Berufe mit anderen Überzeugungen ausüben, könnten hier etwas für sich finden. Letztendlich habe ich das Gefühl, dass die Suche in unserem Leben immer mehr ist als irgendein scharf umschriebenes Forschungsgebiet, sei es innerhalb einer Profession, einer Karriere, einem Hobby oder ob man einem spirituellen oder religiösen Ruf folgt.

Die Kunst der Osteopathie – nicht nur ihre Konzepte, Theorien oder Techniken – ist einer von vielen Wegen, gespickt mit Schildern, Verzierungen, Einsichten und verlockenden Sackgassen, die nicht selten in Richtung von etwas Größerem und Mysteriösem, kaum Vorstellbaren deuten; etwas, dem wir als menschliche Wesen jedoch niemals widerstehen können. Und mag es auch viele Wege geben, die Kunst der Osteopathie bleibt einer jener, auf dem man mit dem arbeitet, was uns erst menschlich macht. Und es war eben dieser Pfad, der zufällig meinen Weg kreuzte.

Osteopathie lebt von ihrem inneren Informationsgehalt. Und einmal entfacht, beleuchtet sie in Bezug auf den Menschen ungemein viel. Anstatt lediglich ein einfaches Lehr- oder Handbuch zu produzieren, ist es vielmehr mein Anliegen, diese Erfahrung mit Ihnen zu teilen. In diesem Zusammenhang wollte ich dem Binären, dem Auswahlkästchen, der an Vorgaben orientierten Annäherung an alles, was zunehmend die im Gesundheitswesen angesiedelten Berufe (wie übrigens auch die meisten anderen Berufe) durchdringt, etwas entgegenhalten. Anerkennung und Konformität wurden um den Preis der Fragmentation erkauft. Und dies trifft auch auf Berufe zu, die den holistischen Anspruch für sich proklamieren.

Die osteopathische Praxis ist wie viele Dinge im Leben ein nahtloses Ganzes, eine integrierte Erfahrung. Sie auf einzelne Teile herunterzubrechen würde bedeuten, eine Verzerrung zu riskieren. Dennoch bedarf es notwendigerweise eines gewissen Maßes an Analyse, um ihre Qualitäten besser zu vermitteln. Aber selbst Analysen, die den Prinzipien des Holismus und der Idee der Vernetzung unterworfen sind, bergen die Gefahr der Zerteilung von Wahrheit und Erfahrung und erzeugen parallel zum Gefühl der Vernetzung jenes unangenehme Gefühl von Getrenntheit bzw. Spezialisierung. Schlussendlich will ich dem Leser mit diesem Buch eine Hilfe anbieten, damit die einzelnen Fragmente wieder nützlich und sinnvoll miteinander verbunden werden können. Dadurch wären wir letztlich in der Lage, das Mentale im Körper und den Körper im Mentalen und das Geistige in beidem zu sehen.

Man kann sagen, Osteopathie existiert wahrhaftig nur dann, wenn sie gelebt wird. Sie bleibt so lange abstrakt, bis sie sich in unserem Menschsein verwurzelt bzw. bis dieses Menschsein sich in ihren Vertretern verwurzelt. Es verhält sich wie bei der Musik. Sie mag auf Theorie, Technik und Kontext basieren; doch ab einem gewissen Punkt muss die Interpretation in etwas Größeres transformiert werden. Egal ob es die Musik ist, die zu uns spricht, oder die Behandlung, die einen durchdringt und heilt: In seiner besten Arbeit bringt jeder Therapeut etwas Einzigartiges ein, einen ganz bestimmten Ausdruck seiner eigenen Individualität. Und genau darin liegt meiner Auffassung nach die Stärke der Osteopathie. Nur aus diesem Grund war ich immer bemüht, einige jener Qualitäten, die uns letztlich zu dem machen, wer und was wir sind, zu erforschen. Insofern wurde auch dieses Buch zwar aus einer gewissen persönlichen Perspektive heraus geschrieben, aber dennoch vertraue ich darauf, dass es genügend Resonanz bei anderen Menschen erzeugt, um damit mehr zu sein als nur ein sich selbst genügendes Übungsstück!

Je nachdem, ob die Leser zu unserer Berufsgruppe gehören oder nicht, wird ihr Interesse an der Sache von unterschiedlicher Natur sein. Obwohl ich mich bemüht habe nicht allzu osteopathie-technisch zu schreiben, mögen Nicht-Osteopathen die Abschnitte über technische Aspekte vorzugsweise nur überfliegen. Der Rest wird sie dafür entschädigen.

Die Kunst und Philosophie der Osteopathie

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