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2. Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip; Verhältnis der Verfassung
zum Unionsrecht
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Die unionsrechtlichen allgemeinen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind eng mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz verknüpft. Nach dem Äquivalenzgrundsatz müssen Verstöße gegen das Unionsrecht inhaltlich und verfahrensrechtlich in gleicher oder gleichwertiger Weise geahndet werden können wie Verletzungen vergleichbarer nationaler Normen. Das Effektivitätsprinzip verlangt darüber hinaus, dass die Mitgliedstaaten einen effektiven gerichtlichen Schutz eines dem Einzelnen durch Unionsrecht zuerkannten Rechts ermöglichen. Die Wirksamkeit des Unionsrechts wird zusätzlich durch die Entwicklung der Grundsätze der unmittelbaren Wirkung,[401] des Vorrangs, der Einheit und der Effektivität[402] in der Rechtsprechung des EuGH gewährleistet.
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Auswirkungen des Unionsrechts zeigen sich in immer mehr belgischen Gesetzen und Verordnungen unterschiedlicher Bereiche. Auch die belgische Verwaltungsgerichtsbarkeit wendet daher zunehmend Europarecht sowie auch Völkerrecht an. Dabei gewährleistet die belgische Rechtsprechung das Zusammenspiel von Unionsrecht und nationalem Recht sowie die besondere Stellung des Unionsrechts im Normengefüge. Bezüglich der Reichweite dieser besonderen Stellung bestehen zwischen Kassationshof und Verfassungsgerichtshof jedoch unterschiedliche Ansichten: 1971 hat der Kassationshof mit seinem Le Ski-Urteil seine bisherige Rechtsprechung, die eher von einer dualistischen Auffassung des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht geprägt war, zugunsten eines monistischen Ansatzes aufgegeben. In diesem Urteil entschied der Kassationshof, dass im Falle einer Kollision zwischen einer unmittelbar anwendbaren völkerrechtlichen Vorschrift und einer innerstaatlichen Vorschrift der völkerrechtlichen Regelung Vorrang zukommt.[403] Dieser Vorrang des Völkerrechts ergibt sich nach Auffassung des Kassationshofes bereits aus dem „Wesen des Völkervertragsrechts selbst“.[404] Mit dieser Rechtsprechung wurde klargestellt, dass die Gerichte dem Vorrang des Völkerrechts Geltung zu verschaffen haben, indem sie im Konfliktfall ein später verabschiedetes, aber mit einer völkerrechtlichen Norm unvereinbares (nationales) Gesetz nicht anwenden dürfen.[405] Der Kassationshof verfolgt so den Grundsatz des Vorrangs des Völker- und des Europarechts vor dem nationalen Recht, zumindest dann, wenn das internationale Recht innerstaatlich unmittelbar anwendbar ist. Durch Urteil vom 16. November 2004 hat er seine Auffassung von der umfassenden Vorrangstellung des Völkerrechts noch einmal bekräftigt und betont, dass ein „völkerrechtlicher Vertrag, der unmittelbare Wirkung entfaltet, Vorrang [auch] vor der Verfassung“ habe.[406] Der Verfassungsgerichtshof vertritt hingegen die Auffassung, dass keine Bestimmung der Verfassung Belgien erlaube, verfassungswidrige Verträge und Abkommen abzuschließen. Deshalb sieht er sich für zuständig, in einer Nichtigkeitsklage oder nach Vorlage in einem Vorabentscheidungsverfahren ein Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag für nichtig oder für verfassungswidrig zu erklären, wenn der besagte Vertrag Bestimmungen enthält, die mit der Verfassung unvereinbar sind.[407]
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Auch der Staatsrat hat zur Frage des Verhältnisses von nationalem und internationalem Recht eine eigene Rechtsprechung entwickelt. Er bejaht die innerstaatliche Verpflichtung, nationales Recht möglichst völkerrechtskonform auszulegen und betont, dass diese Verpflichtung insbesondere dann greife, wenn die innerstaatliche Norm eine Durchführungsbestimmung zur betreffenden völkerrechtlichen Norm ist.[408] Dem Staatsrat zufolge gilt der Grundsatz der völkerrechtskonformen Auslegung selbst dann, wenn die völkerrechtliche Norm keine unmittelbare Wirkung entfaltet. Im Orfinger-Urteil vom 19. November 1996 hat er entschieden, dass „im Kollisionsfall zwischen einer nationalen Norm und einer in der innerstaatlichen Rechtsordnung unmittelbare Wirkung entfaltenden völkerrechtlichen Norm die von dem völkerrechtlichen Vertrag vorgesehene Vorschrift Vorrang genießt“ und dass „[…] sich aus Sicht des belgischen Verfassungsrechts die Geltung der Auslegung der Römischen Verträge durch den Europäischen Gerichtshof aus Art. 34 der Verfassung ergibt, selbst wenn durch diese Auslegung Art. 8 und 10 der Verfassung in Teilen die Wirksamkeit entzogen wird“. Die Abteilung für Verwaltungsstreitsachen des Staatsrates folgt damit der Rechtsprechungslinie des EuGH,[409] wonach sowohl die EMRK als auch die Römischen Verträge Vorrang vor sämtlichen innerstaatlichen Vorschriften einschließlich der Verfassung haben;[410] im Gegensatz hierzu scheint die Gesetzgebungsabteilung einer anderen Sichtweise zu folgen und weiterhin die Verfassung als höchste Vorschrift im Normengefüge anzusehen.[411]
§ 128 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Belgien › V. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Rechtsraum › 3. Einstweiliger Rechtsschutz