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Europa und der Rest der Welt

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Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das Christentum durch die Augen Europas definiert. Europa war das Christentum und das Christentum war Europa. Die aufgeklärte liberale Theologie Europas – und die evangelikale Theologie mit ihr – nahmen sich als neutrale Größe wahr, welche den christlichen Glauben für die ganze Welt definierte. Die Mission segelte im Windschatten der Unterwerfung der Völker und profitierte vom kolonialen Weltgefüge. Die Theologie in Europa vermochte sich eines Gefühls der Überlegenheit gegenüber anderen Kulturen nicht zu erwehren. Die evangelikale Theologie kämpfte zwar erfolgreich gegen die Auflösung traditioneller Glaubensinhalte, war von der Epoche der Aufklärung aber insofern angetan, als sie den Fortschrittsgedanken und die Überzeugung von der Überlegenheit der westlichen Kultur übernahm. Mission zeigte sich über weite Strecken auch als Kulturimperialismus.

Dieses eurozentrisch-koloniale Paradigma hatte seine ungebrochene Gültigkeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Mit der Entkolonialisierung bekam dieses feste Gefüge Risse. In den 1960er- und 70er-Jahren zeigte sich auf Kongressebene, dass die Stimmen aus dem Süden an Gewicht zunahmen. Historisch fassbar wird das durch den Kongress für Weltevangelisation in Lausanne, 1974. Waren die bis zu jenem Zeitpunkt stattfindenden Kongresse der Evangelikalen fast vollständig durch Vertreter aus Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika dominiert gewesen, nahmen in Lausanne die Vertreter aus der Zwei-Drittel-Welt erstmals als gleichberechtigte Partner teil. Die weltweite evangelikale Bewegung war in Lausanne repräsentativ vertreten. Von den 2500 Teilnehmern aus 150 Nationen stammte je die Hälfte aus dem Westen und aus der Zwei-Drittel-Welt (Hardmeier 2008, 25–26). Den Stimmen aus dem Süden wurde Gehör geschenkt und das führte dazu, dass die soziale Verantwortung und die politische Betätigung gleichermaßen wie die Evangelisation zur Pflicht der Christen gerechnet wurden. In der am Kongress verabschiedeten Lausanner Verpflichtung heißt es in Artikel 5:

Wir bekräftigen, dass Gott zugleich Schöpfer und Richter aller Menschen ist. Wir müssen deshalb seine Sorge um Gerechtigkeit und Versöhnung in der ganzen menschlichen Gesellschaft teilen. Sie zielt auf die Befreiung der Menschen von jeder Art von Unterdrückung … Wir tun Buße für dieses unser Versäumnis und dafür, dass wir manchmal Evangelisation und soziale Verantwortung als sich gegenseitig ausschließend angesehen haben. Versöhnung zwischen Menschen ist nicht gleichzeitig Versöhnung mit Gott, soziale Aktion ist nicht Evangelisation, politische Befreiung ist nicht Heil. Dennoch bekräftigen wir, dass Evangelisation und soziale wie politische Betätigung gleichermaßen zu unserer Pflicht als Christen gehören.

Was die kulturelle Überlegenheit des Westens betraf, fand man selbstkritische Töne. Die Artikel 5 und 10 der Lausanner Verpflichtung waren die beiden Artikel mit der nachhaltigsten Wirkung. In Artikel 10 heißt es:

Jede Kultur muss immer wieder von der Schrift her geprüft und beurteilt werden. Weil der Mensch Gottes Geschöpf ist, birgt seine Kultur Schönheit und Güte in reichem Maße. Weil er aber gefallen ist, wurde alles durch Sünde befleckt. Manches geriet unter dämonischen Einfluss. Das Evangelium gibt keiner Kultur den Vorrang, sondern beurteilt alle Kulturen nach seinem eigenen Maßstab der Wahrheit und Gerechtigkeit und erhebt absolute ethische Forderungen gegenüber jeder Kultur. Missionen haben allzu oft mit dem Evangelium eine fremde Kultur exportiert, und Gemeinden waren mitunter mehr an eine Kultur als an die Schrift gebunden.

Steuernagel (1988, 150–156) und mit ihm die meisten Vertreter aus dem Süden hielten die Lausanner Verpflichtung für eine ausgewogene Verlautbarung. Sie waren erstmal zufrieden damit, dass ihre ganzheitliche Sicht von Mission Beachtung gefunden hatte. Anders der überwiegende Teil der Vertreter aus dem Westen. Arthur P. Johnston (1984, 319) bedauerte, dass die Bedeutung der Evangelisation aus seiner Sicht abgeschwächt wurde. Die schärfste Kritik brachte der deutsche Missionswissenschafter Peter Beyerhaus (1984, 12–13) vor, als er von einer „verräterischen Aufgeschlossenheit“ von Teilen der evangelikalen Bewegung für die kontextuelle Theologie sprach.

Die Zerrissenheit der Evangelikalen in den Jahren nach Lausanne (vgl. Hardmeier 2008, 31–57) ist ein deutliches Indiz dafür, dass sich in der evangelikalen Theologie ein Paradigmenwechsel abzeichnete. Der Westen behielt einen Teil seiner Dominanz, doch die Stimmen aus dem Süden mit ihrem Ruf nach der Ganzheitlichkeit des Evangeliums wurden immer stärker. Ein Paradigma wird nicht über Nacht geboren. Eine Zeit lang existieren das alte und das neue Paradigma nebeneinander. Vertreter des alten Paradigmas verteidigen die Richtigkeit ihrer Sichtweise, während die Proponenten des neuen Paradigmas auf Veränderung drängen. Schließlich setzt sich das neue Paradigma durch; die Errungenschaften des alten Paradigmas verschwinden nicht völlig, sondern bleiben idealerweise erhalten. Mit dem Lausanner Kongress ist ein solcher Paradigmenwechsel eingeleitet worden.

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