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Prolog

Der Urwald dampfte und tropfte. Er brütete Geräusche, Gerüche und Gefahren aus. Er explodierte vor Leben, barg allgegenwärtigen Tod. Unter einem großen Baum irgendwo im Regenwald des Amazonas saß Izu, der Zauber- und Geistermann. Er träumte im Sitzen. Er fürchtete sich nicht vor Gefahren, die Schlafenden drohen konnten. Er war organischer Bestandteil des großen Waldes. Gleich einem Chamäleon passte er sich seiner Umgebung an. Mal sah er aus wie ein großer, zusammengeknautschter Ledersack, mal wie ein furchiger Termitenhaufen, bald wie ein schrundiger Baumstumpf. Manchmal nahm er die Gestalt eines verwitterten, moosbewachsenen Findlings an. Für seinen Stamm war Izu der Geistermann, der Heiler, der Seher, der Wissende; der Begnadete, der mit den Zauberwesen des Wassers, des Waldes und des Himmels in Kontakt stand.

Er wusste es besser: Er war vermutlich der größte Scharlatan am großen Fluss. Jetzt verschmolz sein lederiger Körper mit der krustigen Rinde des mächtigen Urwaldbaumes, zu dessen Fuß er ganz in sich zusammengesunken saß. Sanft wiegte er den Oberkörper. Izu, Geistermann der Tupanaki, Stammesältester, da saß er, ein drahtiger Zwerg mit einer knotigen gelben Haut, gegerbt von unzähligen Regengüssen, überzogen von rituellen Bemalungen, gezeichnet von Selbstkasteiungen, Moskitostichen und anderen Widernissen des Dschungeldaseins. Er war ein Wunderknabe, denn er lebte noch, wo andere längst zu Humus geworden waren.

Dieser Baum, unter dem er hockte, stand wie ein Riese unter Riesen. Schon die anderen großen Urwaldbäume hier imponierten als mächtige Könige des Dschungels. Mit ihrem verwirrenden Geäst, ihren grünen Baldachinen und den unentwirrbaren Verknotungen von Lianen, Flechten und in- und übereinander wuchernden Kletterparasiten aller Art bildeten sie ein einziges großes, grünes Wesen. Aber Izus Baum, der heilige Baum der Tupanaki, war ein Wald für sich. Er brach mit seinem mächtigen Wurzelgeflecht aus dem feuchten Boden hervor, verzweigte sich tintenfischartig und strebte in vielen großen und kleinen Stämmen himmelwärts, warf totes Gehölz ab, ließ neue Äste zur Sonne emporwuchern. Dass dieser Baum heilig sei, das hatte Izu behauptet. Sein Stamm hatte ihm geglaubt. Seither durfte nur noch Izu den Baum berühren. Das war seit langer Zeit so. Es hatte irgendwann am Anfang von Izus Laufbahn als Zaubermann der Tupanaki begonnen. Inzwischen glaubten alle im Dorf, es sei schon immer so gewesen. Izu konnte mit seinem grandiosen Talent für Spuk und Hokuspokus den Tupanaki jeden Zauber aufschwätzen, sie glaubten ihm ehrfürchtig.

Izu machte sich nichts vor. Seine Geisterwelt war eine Schimäre, ein Fantasiegebilde, befüllt mit einem Bestiarium guter, böser, rätselhafter und furchteinflößender Wesen. Bei diesem Baum jedoch bedurfte es keiner Täuschung. Der monströse Urwaldriese wirkte durch seine überragende Mächtigkeit einschüchternd genug. Es konnte gar nicht anders sein: Dieser Urwaldriese musste heilig sein. Dass außer dem Geistermann kein anderer Mensch diesen Baum berühren durfte, war ein Gebot, das Izu eingeführt hatte. Den Menschen konnte er Vorschriften machen. Allen anderen Lebewesen waren seine Spielregeln egal. Droben im Durcheinander des Geästs flatterten unter dem grünen Dach Papageien, kreischten Affen, schimpften Vögel, flatterten Schmetterlinge, dösten Schlangen und Faultiere, lauerten Spinnen, schwirrten Insekten; alle trachteten danach, sich gegenseitig umzubringen und zu fressen, oder sich mit raffinierten Methoden zu begatten.

Dieser Baum wucherte als ein Dschungel für sich.

Izu hielt die Augen geschlossen. Er träumte. Zuvor hatte er tüchtig dem Caapi zugesprochen, einem aus speziellem Rindenextrakt hergestellten Tee. Izu braute ihn selbst, mit einigen unkeuschen Zutaten, nach bewährtem Hausrezept, und natürlich auch heilig und geheim; jedenfalls von brachialer halluzinogener und aphrodisierender Wirkung. Mit Hilfe des Caapi hatte Izu sich im Laufe seines langen Lebens nicht nur herausragende Räusche beschert, er hatte mit ausreichend Caapisaft im Leib auch zahlreiche Stammesgenossinnen geschwängert, ohne je in seiner Manneskraft zu ermüden. Er trank das Gebräu ehe er Beginn und Ende von Überfällen und Raubzügen verkündete und er erhob sich mit diesem Gesöff auch zum Herrn der Träume, zum Geisterflüsterer des Stammes. Die Tupanaki fürchteten und verehrten den alten Izu als ihren Geistermann und Stammesältesten. Wie alt mochte er sein? Er sah aus wie eine tausendjährige Mumie. Die Bewohner des großen Waldes sortierten ihr Leben anhand der Katastrophen, die sie erlebten, und sie zählten die Jahre nach den regelmäßigen Frühjahrsfluten. Izu hatte als Knabe das fürchterliche Sterben des Zinunque-Stammes erlebt, als eine ansteckende Seuche ausgebrochen war; er hatte das Hochwasser gesehen, das die Dörfer Yoni und Xama hinweggerissen hatte. Später dann hatte er den Raub der Frauen von Sima erlebt und den Überfall der Yaomi. Das große Buschfeuer am Berg Taori war das letzte große Ereignis gewesen. Er musste also 52 Großfluten alt sein. Außer ihm hatte bei den Tupanaki niemand mehr Ereignisse erlebt. Also musste Izu der Stammesälteste sein. Das war unwiderlegbar!

Der heilige Baum war Izus Traumplatz. Träume, die der Zaubermann darunter träumte, galten als heilig und sie bargen allesamt geheime Botschaften. Und der Platz bot praktischen Nutzen, weil Izu unter diesem Baum ungestört blieb, mitsamt seinem Caapi-Rausch. Diesmal riss der süße Trank Izu gewaltsam und rücksichtslos in die Traumwelt: Der Zaubermann stürzte in einen strahlend blauen Himmel hinein. Er stieg in einem langen und schwindelerregenden Taumel in unendliche Höhen hinauf. Das Firmament strahlte von einem solch makellosen Blau, dass Izu sich geblendet abwenden musste. Er sah plötzlich unter sich den heiligen Baum. War er ein Vogel? Im Laubdach des Urwaldriesen tropfte die Feuchtigkeit des letzten Regengusses. Leichter Nebel stieg vom Blätterdach auf. Und zu Füßen des Baumes, an den übermächtigen Wurzelauslegern angelehnt, erblickte Izu sich selbst. Der Zaubermann verschmolz mit seiner Traumfigur und betrat deren Traum. Wieder der strahlendblaue Himmel, nicht einmal der Standort der Sonne ließ sich in ihm ausmachen. Die Blätter in der Krone des heiligen Baumes wisperten: „Izu Zaubermann, schau dir den Himmel an! Schau genau! Schau hin. So blau wirst du den Himmel nie wieder sehen. Merke dir gut, wie blau er ist.“

War er so besoffen? So intensiv, so einprägsam, so real hatte er seine Traumbilder noch nie erlebt. Sollte er etwa tatsächlich einen Geistertraum haben? Einen Traum mit Botschaft? Welche? Dass der Himmel blau ist? Izu grunzte und wälzte sich herum. Das Blaubild verschwand.

Die neue Welt

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