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II. Prinzessin Tausendschön

Sie beherrschte mit ihren riesigen azurblauen Augen alle Spielarten eines hochnäsigen Blickes. Selbst beim Wegschauen wirkte sie arrogant. Sie verfügte vollkommen über die Kunst der überheblich hochgezogenen Stirn und des herablassenden Ignorierens. Sie war ein schönes Kind. Schlank, grazil, schwarzhaarig, ebenmäßig. Eine Prinzessin.

Isabella Pinzon, in diesem Spätsommer 1492 zehn Jahre alt, genoss die Spaziergänge durch Palos, die ihr unter der Aufsicht der älteren Schwestern Catalina und Leonora, Amme Fernanda oder Mutter Maria Alvarez Pinzon gestattet waren. Besonders genoss sie es, wenn die Gleichaltrigen sie bestaunten. Die armseligen Kinder der Fischer etwa oder die magerer und halb verhungerten Söhne der Hafenarbeiter und Schafhirten.

Bei diesen Spaziergängen, die von der Casa Pinzon, dem großen Herrenhaus des Vaters, in großem Bogen zum Ort hereinführten, vorbei an der Georgskirche hinunter zum Hafen, dann über den Feldweg zurück zum Haus, das oberhalb des Ortes an der Straße nach Moguer stand, schritt Isabella wie eine zukünftige Königin, fächelte sich unaufhörlich Wind ins Gesicht, blickte so blasiert und unnahbar, wie sie es bei ihren Schwestern abgeschaut hatte, machte zierliche Schritte, hielt den Rücken gerade und den Kopf in die Höhe. Mit ihren zehn Jahren war sie ein spätes Nesthäkchen der Familie und der Liebling ihres Vaters. So wie sie ihn mit Leichtigkeit um den kleinen Finger wickelte und bezirzte, so gelang ihr das auch mit den Menschen ihrer Umgebung. Niemand konnte ihrem Charme widerstehen, ihrem Augenaufschlag, dem Schmollmündchen, der niedlich gerümpften Nase. Und sie war sich ihrer Wirkung bewusst. Für die staunende Dorfjugend stellte schon Isabellas Kleidung eine Attraktion dar. Inbegriff von Reichtum. So dauerte es meist nicht lange, bis ein Schwarm aufgeregter Kinder sie bei ihren Spaziergängen verfolgte. Die Amme versuchte stets, die lästigen Rudel mit dem Schirm zu verscheuchen. Die Schwestern scheuten sich nicht, die Bande mit Stöcken und Steinen auf Abstand zu halten. Isabella beteiligte sich nicht daran. Sie wollte bewundert werden. Es gefiel ihr, bestaunt und bewundert zu werden, mit zierlichen Schühchen, dem raschelnden Kleid, den feinen Handschuhen, bis hin zum Haubenhütchen, unter dem keck ihre schwarzen Locken hervorlugten.

An diesem frühen Morgen war alles anders als sonst. Diesmal war nicht Isabella Pinzon die Attraktion, diesmal versammelten die Menschen sich im Hafen, um der Ausfahrt dreier Schiffe beizuwohnen.

„Papa, Papa“, bedrängte Isabella ihren Vater und hängte sich an seinen Rock. Zuvor hatte er die Mutter zum Abschied geküsst, die beiden erwachsenen Töchter Catalina und Leonora, dann hatte er seine Söhne umarmt, Martin Arias und Juan, die beide während seiner Abwesenheit das Geschäft führen sollten. Und jetzt, jetzt endlich nahm er sich Zeit für seinen kleinen Liebling. Er packte das Mädchen mit seinen kräftigen Händen in den Hüften, hob es hoch und drückte es an sich.

„Ich entdecke ein fremdes Land für dich“, versprach er der begeisterten Kleinen. „Und ich bringe dir Schätze von dort mit, Gold und Edelsteine.“

Sie drückte ihr Gesicht an seine kratzige, nur unzureichend rasierte Wange: „Werde ich dann Prinzessin von diesem Land?“

„Das wirst du, meine Liebe! Das verspreche ich dir.“

„Und bin ich dann die Schönste?“

„Das bist du, Liebling. Das bist du doch immer. Du weißt doch, du bist meine Prinzessin Tausendschön!“

Wie sie diesen Kosenamen mochte. Es beglückte sie jedesmal, wenn Vater ihn benutzte. Dann fühlte sie sich wirklich so: Tausendschön!

Martin Alonso Pinzon setzte sein Töchterchen ab. Sein Blick schweifte über all die Menschen hinweg, die Spalier standen. Seine Augen leuchteten. Sie alle glaubten an ihn. Sie vertrauten ihm. Nicht wahr, Don Alonso, du bringst unsere Söhne heil und unversehrt zurück? So stand es in den Augen der Väter und Mütter geschrieben, die sich auf die Mole gedrückt hatten, um diese Abfahrt mitzuerleben.

Pinzon sputete sich. Die Mannschaften waren bereits alle an Bord, die ersten Kommandos des Steuermannes und des Bootsmannes flogen über Deck. Auch Christóbal Colón, der Admiral der Krone, hatte bereits sein Schiff, die „Gallega“, betreten. Ihm konnte es nicht schnell genug gehen.

Martin Alonso schnaubte verächtlich. „Wir segeln los, wann ich es sage“, dachte er bei sich. „Und so wird es auch auf hoher See sein. Ich werde das Kommando haben. Das sind meine Schiffe und meine Männer. Dieser Genuese, er ist nur ein notwendiges Übel. Wir werden schon sehen.“

Mit diesen Gedanken verließ Pinzon den spanischen Mutterboden und kletterte über den angelegten Steg an Bord seines eigenen Schiffes, der „Pinta“, auf dem er Kapitän sein würde.

In diesem Moment brüllte Martin Arias, Pinzons ältester Sohn und Bruder Isabellas, laut über die Menge hinweg: „Auf Ferdinand, auf Isabella, auf Spanien und das Königspaar, hoch lebe der König!“

Alle stimmten ein: „Hoch lebe der König!“

Isabella, stolz auf ihren Vater, stolz auf ihre Familie, schrie begeistert mit und schwenkte freudig ihr seidenes Taschentuch.

Geisterhaft stumm zogen die Schiffe im Morgenlicht davon, den Rio Tinto hinunter. Sie schoben in kleinen schaumigen Bugwellen den Schmutz des Hafens seitlich vor sich her.

Während sich die Schaulustigen auf der Mole bereits verliefen, huschte unweit eine Ratte vorbei, kläffende Köter hinterher.

Hier im Hafen war nicht der standesgemäße Platz für eine junge Dame wie Isabella Pinzon. Dreckig, stinkig, faulig und modrig war es hier. Isabellas Blick fiel auf einen hageren, kleinen Jungen, der hinter einem hölzernen Poller kauerte und so gottserbärmlich schniefte, dass Isabella ihn nicht ignorieren konnte. Sie zupfte ihre Amme Fernanda am Ärmel der Bluse und machte sie auf das Kind aufmerksam.

„Das wird der Balg von einem der Matrosen sein“, kommentierte das gefühlskalte Kindermädchen. „Das ist nichts für dich Kleines, komm, schau nicht so hin! Die Seeleute können keine Rücksicht auf ihre Bastarde nehmen“, sagte die Amme verächtlich. „Jetzt muss sich der Hungerleider wahrscheinlich ein paar Monate alleine durchschlagen. Vermutlich hat er niemanden.“

„Keine Mutter?“, fragte Isabella ungläubig.

„Keine Mutter! Solche Kinder haben meistens keine!“ Die Amme sagte es mit herrischer Gewissheit. „Das sind Bälger von Huren und Säufern. Sie werden in die Welt gesetzt und dann alleine gelassen.“

Ungläubig stierte Isabella den jämmerlichen Knaben weiter an. Klapperdürr wie eine Vogelscheuche war er, und obendrein trieften die Lumpen, die er an sich trug, vor Nässe. Ob er ins Wasser gefallen war?

Fernanda nestelte unter ihrem Ärmel eine kleine, perlenbesetzte Börse hervor und suchte mit spitzen Fingern einen Kupferreal heraus. „Gib ihm das da!“

Isabella nahm die Münze, trat zwei Schritte auf den zitternden Jungen zu, bis dieser ängstlich auf sie aufmerksam wurde, und warf dann mit graziösem Schwung den Kupferreal über die Steinplatten zu ihm hin. Die Münze fiel klimpernd auf den Stein, rollte noch einen Kreisel und blieb dann in Reichweite des Jungen liegen. Er griff schnell zu. Aus seinen verheulten Augen warf er seiner Gönnerin einen dankbaren Blick zu. Dann sprang er auf und hastete wie ein davongejagter Hund davon.

Isabella sah ihm nachdenklich hinterher und erinnerte sich an eine erst kürzliche Begebenheit. Hier am Hafen im gerade ausklingenden Sommer war es gewesen, als sie schon einmal ein Erlebnis mit einem mageren Jungen gehabt hatte:

Auf ihrem täglichen Spaziergang kommen die Pinzon-Damen von der Georgskirche die mit Stufen durchsetzten schmalen Gassen herunter zum Hafen. Von der Mole sieht es aus, als schwebten sie. Unter den weiten Röcken sieht man ihre Füße und Beine nicht. Am Wasser tummelt sich die männliche Jugend von Palos. Eine Horde braun gebrannter, sehniger Burschen, kaum einer älter als zwölf oder dreizehn Jahre. Ihr Anführer ist Pablo, ein knapp 16-jähriger Aufschneider und Angeber. Aber ein schöner Kerl, großgewachsen, muskulös, mit bereits männlichen Schultern, sanften schwarzen Locken und mit feurigen dunklen Glutaugen. An diesem Tag sieht er besonders gut aus. Wie die anderen jungen Burschen ist er bis auf ein kurzes Beinkleid fast nackt. Der Oberkörper glänzt vom Wasser silbrig im Sonnenlicht. Immer wieder springen die Jungen ins Hafenbecken. Sie veranstalten Wettschwimmen, tauchen nach Gegenständen, die sie sich gegenseitig ins trübe Wasser werfen. Manche stacheln sich gegenseitig zu Mutproben an, etwa vom höchsten Holzgerüst der Ladekräne hinunterzuspringen ins Wasser, fast dreißig Fuß in die Tiefe. Nur die Verwegensten wagen es. Pablo natürlich vorneweg. Aber da ist noch dieser andere Junge, ein schmaler, sehniger, fast dürrer Bursche. Er ist einen Kopf kleiner als Pablo, aber er scheut vor keiner Mutprobe zurück. Immer macht er es dem Angeber nach, egal, wie hoch dieser klettert, wie tief er taucht, wie weit er den Rio Tinto hinausschwimmt. Dieser andere, das ist Rodrigo, der Schweinehirte.

Isabella kennt sie beide. Pablo, der Schöne, der ihr gefällt, der ihr schöne Augen macht, der aussieht wie ein Prinz. Dem blinzelt sie in den wenigen Sekunden zu, wenn sie unkeusch dem Treiben der Jungen zusieht. Sobald Fernanda es bemerkt, senkt sie sittsam den Blick. Pablo entgeht das nicht; er wirft sich noch mehr in die Brust, versucht, Isabella mit noch waghalsigeren Sprüngen zu imponieren. Rodrigo ist der Schweinehirte ihres Vaters. Er schleicht manchmal um die Casa Pinzon herum und wirft schmachtende Blicke in den Hof, wenn Isabella dort am Zierbrunnen spielt. Sie ignoriert diesen Schweinehirten natürlich.

Die weniger Wagemutigen und die Jüngeren, die noch nicht schwimmen können, sitzen gelangweilt auf der Kante der Hafenmauer und schießen mit ihren Steinschleudern nach den Möwen, die in lauernden Patrouillenflügen über dem Hafen kreisen. Die Vögel sind gewieft und wendig. Kaum eine Möwe lässt sich überraschen. Wenn doch einmal die Federn fliegen und ein Stein eine Möwe im Flug erwischt, ist das Triumphgeschrei groß und der glückliche Schütze wird gebührend gefeiert.

Jetzt kommen die Pinzon-Damen näher. Vorne die Mama, Donna Maria Alvarez. Eine Matrone, in dunklen Tüchern verhüllt, die wogend um sie herum drappiert sind, als Umhang, Kleid, Schleier, Kapuze. Hinter ihr folgen gesittet die zwei älteren Töchter, Catalina und Leonora, in luftigen, farbigen Kleidern, Händchen haltend, fast immer kichernd und flüsternd. Sie beraten ihre bevorstehenden Eheschließungen, von denen sie noch nicht viel mehr wissen, als dass ihre Eltern sie für sie einfädeln würden. Hinter ihnen folgte die Prinzessin mit Fernanda. Ihretwegen nur findet dieses Defilee im Hafen statt. Sie wünscht sich diese Route immer wieder, weil sie sich hier ihres bewundernden Publikums gewiss sein kann. Die älteren Damen wären bei der Georgskirche lieber über den Friedhof abgebogen und hätten dann bergwärts den Weg aus dem Ort heraus gesucht.

Die Buben haben die Prozession natürlich längst entdeckt. Einer hat schon gepfiffen, die anderen haben sogleich registriert, wer sich nähert. Selbstverständlich wusste jeder von ihnen, wer die Pinzons waren. Vom fünfjährigen Knirps bis zum 15-jährigen Halbstarken, die Söhne der Fischer ebenso wie die Söhne der Schafhirten, die Bettlerkinder ebenso wie die der Fischhändler und Handwerker. Bei den meisten stand irgendein Familienmitglied, Vater, Onkel, Bruder oder Cousin, direkt oder indirekt in Diensten der Pinzons.

Nun galt es, besonders wagemutige Kunststücke zu zeigen, besondere Kühnheit an den Tag zu legen, noch tiefer zu tauchen, noch mutiger zu springen, noch schneller zu schwimmen. Den Damen musste imponiert werden.

Mama Maria ignoriert geflissentlich das Gewusel um sich herum. Sie schreitet durch die johlende Schar der Hafenjungen hindurch wie durch einen lästigen Taubenschwarm. Husch, husch, Platz da, befehlen ihre knappen Gesten. Catalina und Leonorae halten die Köpfe hoch und schreiten hinter der Mutter her wie Klosterschwestern, die mit weltlichen Ablenkungen nichts anzufangen wissen.

Nur Isabella bleibt staunend stehen, als vor ihr ein Rudel der braungebrannten Körper über die flache Kaimauer ins Wasser schießt und ein paar Spritzer bis zu ihr herüberspringen.

„Das ist ungehörig“, schimpft Fernanda. Isabella gefällt es. Sie weiß, dass die Vorführung ihr gilt. Keck blickt sie dem Anführer in die Augen, diesem strahlenden Pablo, der sich breitbeinig aufgebaut hat. Er glänzt vom Wasser. Tropfen perlen ihm von der Brust und von den kräftigen Schenkeln. Er lacht, blitzweiße Zähne strahlen aus seinem hübschen Gesicht.

Zu ihrem zehnten Geburtstag hat der Vater ihr ein Silberkettchen geschenkt. Sie trägt es um den Hals. Es ist wertvoll. Echtes Silber, geschmiedet in Salamanca. Er hat es von einer seiner Kaufmannsreisen mitgebracht. Ihr teuerster Besitz. Sie löst das Kettchen vom Hals, nimmt es in ihre zierliche Hand und hält es so in die Höhe, dass alle es sehen können. Staunend weiten sich die dunklen Bubenaugen.

„Bringt es mir, taucht für mich“, ruft Isabella und schleudert das Kettchen hoch hinaus ins Hafenwasser, noch ehe die Schwestern oder die Amme realisieren, was da passiert. Unablässig schaut sie diesem herausfordernd grinsenden Pablo ins Gesicht. Er soll es holen. Ihn meint sie.

Aber es ist ein halbes Dutzend Knaben, das wie von der Sehne geschnellt ins Wasser springt. Kopfüber tauchen sie ein, in einem einzigen Atemzug sind die Leiber unter der schaumig wirbelnden Oberfläche verschwunden.

Der Hafen ist nicht tief, zwölf oder fünfzehn Fuß vielleicht. Aber sein Grund ist schmutzig, schlammig, voller Unrat und Müll. Die täglichen Überreste des Fischmarktes werden dort hineingespült, die häuslichen Abfälle der Bewohner von Palos landen dort, außerdem all der Dreck und die Abwässer, die der Rio Tinto mit sich schleppt. Das Wasser ist deshalb trübe wie arabischer Tee.

All dies hat Isabella nicht bedacht. Donna Maria hat es noch nicht mitbekommen, wundert sich jetzt, warum alle so aufgeregt ins Hafenwasser blicken, als Catalina entsetzt stöhnt: „Was hast du getan?“ Sie fasst ihre kleine Schwester bei den Schultern, schüttelt sie und schimpft: „Bist du verrückt geworden? Das Silberkettchen! Vaters Geschenk!“

„Großer Gott“, flüstert auch Leonoraa und droht umzufallen. Schon verdreht sie die Augen. Möglicherweise ein Anfall. Isabellas Schwester leidet an der Fallsucht, Gota Coral. Sie hat epileptische Anfälle immer dann, wenn etwas Überraschendes oder Aufregendes geschieht, etwas, was nicht vorhersehbar oder planbar gewesen war. Fernanda hält sie fest.

Alle starren gebannt aufs Wasser. Isabella kommen die Tränen.

Die ersten Bubenköpfe tauchen auf. Einer, zwei, dann drei, vier. Pablo ist nicht dabei. Die Gesichter sind rot vor Anstrengung, das Haar klebt nass in den Stirnen, die Augen glänzen. Keiner hat das Kettchen. Wieviele sind überhaupt hinterhergesprungen? Mehr als eineinhalb Minuten sind vergangen.

Endlich zeichnet sich unter der Oberfläche ein Schatten ab. Da taucht er auf. Es ist Pablo. Isabella schreit seinen Namen hinaus, so groß ist ihre Anspannung. Pablo lächelt nicht. Er macht eine entschuldigende Geste. Er hat das Kettchen nicht.

„Das bedeutet Unglück“, jammert Catalina. Isabella weint. Doch die Jungen, die bereits aufgetaucht sind, kommen nicht an Land. Sie schwimmen im Wasser auf der Stelle und blicken in die Tiefe.

Da bewegt sich etwas. Ein Schemen erscheint unter der Wasseroberfläche. Wie ein Korken taucht er auf, heftig nach Luft schnappend, die Augen springen ihm fast aus den Höhlen. Es ist Rodrigo, der Schweinehirte.

Er hebt den rechten Arm aus dem Wasser und reckt ihn in die Höhe. In seiner Hand glitzert es silbern. Er hat es geschafft. Er hat das Kettchen vom Grund des Hafens gefischt. Er war es, nicht Pablo, der Alleskönner. Er, Rodrigo, der Schweinehirte.

Man sieht ihm seinen Stolz nicht an, als er eifrig an die Mauer schwimmt und sich gelenkig aus dem Wasser heraushievt. Dennoch bleibt seine Miene ungerührt, als er Isabella das Schmuckstück überreicht. Wie stolz er ist, wie sein Herz pumpt und schier die Brust zu sprengen droht, wie seine Knie weich werden, das alles sieht man nicht.

Isabella nimmt ihr Schmuckstück mit spitzen Fingern in Empfang. Sie vermeidet es, Rodrigos Hand zu berühren, schlägt die Augen nieder. Was für eine Demütigung. Ausgerechnet der!

„Komm jetzt endlich, komm“, forderte die Amme und zerrte am Arm des Mädchens. Isabella schreckte auf. Sie war ganz in die Erinnerung an jene Szene aus dem Spätsommer versunken. Verwirrt blickte sie sich um. Jetzt war bereits August und früher Morgen. Die drei Schiffe mit ihrem Vater und ihren beiden Onkeln Vicente Yanez und Francisco Martin an Bord waren gerade zur großen Fahrt ins Unbekannte aufgebrochen. Vorsichtig tastete sie nach der Silberkette an ihrem Hals. Die Finger verkrampften sich. Wie dumm und unbesonnen sie gewesen war.

Catalina war es schließlich gewesen, die, nachdem sie erfahren hatte, dass Rodrigo ein Schweinehirte im Dienste ihres Vaters war, darauf gedrängt hatte, dass Isabella sich nachträglich bedankte. „Wie hättest du es Vater erklären wollen, dass die Kette verschwunden ist? Sei nett und gib ihm ein Geschenk!“

Zwei Tage später winkte Isabella den Schweinehirten in den Hof der Casa Pinzon, nachdem sie eine Weile beobachtet hatte, wie er draußen herumstreunte.

Mit vorsichtigen Schritten tappten seine schmutzigen Füße über die kalten Steinplatten. In gebührendem Abstand vor Isabella blieb er stehen.

„Ich habe etwas für dich“, sagte sie spitz. Im Hintergrund wachte Fernanda, die zuvor genaue Anweisungen gegeben hatte. Auf keinen Fall durfte sie den Schweinehirten anfassen. Er mochte schlimme Krankheiten haben oder Ungeziefer mit sich herumschleppen. Dieser Anweisung hätte es nicht bedurft. Isabella dachte nicht daran, Rodrigo zu nahe zu kommen. Sie deutete auf eine Schale, in der Obst lag, Orangen aus Portugal: eine Kostbarkeit.

„Da, nimm dir welche. Ich schenke sie dir.“

Rodrigo blickte fragend. „Warum?“, stammelte er.

„Du hast meine Kette für mich aus dem Wasser geholt“, erwiderte sie schnippisch, während sie mit den Fingern daran spielte. „Sie ist sehr wertvoll. Ich danke dir dafür!“ Die Sätze hatte sie einstudiert. Mehr wollte sie auf keinen Fall sagen. Sie wartete darauf, dass Rodrigo sich an den Orangen bedienen und dann schnellstmöglich den Hof verlassen würde. Aber er stand nur da und staunte sie stumm an.

„Ist etwas?“, fragte sie nach einigen Sekunden. „Magst du keine Orangen?“ Hilfesuchend sah sie zu Fernanda, die im Schatten stand, jederzeit bereit, dazwischenzufahren, sollte sich der Schweinehirte ungebührlich benehmen. Sie nickte ihr aufmunternd zu. Isabella nahm einen neuen Anlauf: „Wenn du keine Orangen magst, vielleicht willst du dann einen Apfel? Oder etwas anderes?“ Diese Frage war eigentlich nicht vorgesehen.

Rodrigo nickte, unfähig, Worte zu formulieren.

„Dann sag: Was willst du gerne haben?“ Jetzt nahm Isabellas Stimme bereits den hochfahrenden Ton blasierten Großmutes an. Vielleicht wollte der Junge lieber ein Stück Brot oder eine Wurst. Das wusste man nie, bei diesen armseligen Hungerleidern. Vielleicht kannte er keine Orangen, wusste nicht, dass dies eine süße Frucht war, welche die portugiesischen Seefahrer aus Indien mitgebracht hatten und die seither auch in Portugal und Spanien angebaut wird. Isabella hätte vieles vermutet, was dem Schweinehirten vielleicht eine Freude machen konnte, aber als er es schließlich drucksend aussprach, fiel sie aus allen Wolken.

„Ich hätte gerne eine Locke von dir!“

„Eine ...!“ Sie war sprachlos. Fernanda kicherte. Schließlich kicherte auch Isabella. Wenn das so war, nun gut. Sie setzte ihr kokettes Lächeln auf, blinzelte gekünstelt mit den Wimpern: „Dann bist du also in mich verliebt?“, resümierte sie.

Rodrigo lief rot an und nickte. Was war das für eine Qual. Niemals in seinem Leben hatte er sich mehr geschämt.

Isabella bemerkt es nicht. Sie winkte Fernanda herbei, lächelte dabei ihr strahlendes Prinzessinnenlächeln und hielt ihr eine schwarze Locke zum Abschneiden hin. Es war nur ein kleines Haarbüschel, nicht länger als ein Kinderfinger, das Isabella ihrem stummen Verehrer in die Hand drückte.

Rodrigo nahm es, schloss die Faust darum und rannte aus dem Hof, als seien die Hunde hinter ihm her.

Isabella lachte vergnügt und klatschte in die Hände. Das war nach ihrem Geschmack.

Obwohl Don Martin Alonso fehlte, das Haupt der Familie, und mit ihm seine beiden Brüder Vincente Yanez und Francisco, ließ sich der beginnende Herbst in der Familie Pinzon fröhlich und unbeschwert an. Isabellas großer Bruder Martin Arias führte redlich die Geschäfte. Der älteste, bald dreißigjährige Sohn von Martin Alonso hatte etwas zu viel Speck auf den Rippen. Er liebte üppige Mahlzeiten und schwere Weine, hatte nie im Leben arbeiten oder um etwas kämpfen müssen. Er genoss den Wohlstand seines Vaters und hatte früh und gründlich gelernt, diesen Wohlstand zu horten und mit seinem listigen Kaufmannsverstand zuverlässig zu mehren. Seinem herrischen und machtbewussten Vater schlug Martin Arias nur in dieser Hinsicht nach. Mit der Seefahrt war es bei Martin Arias nicht weit her. Niemals hätte er wie sein Vater ein Schiff befehligen können. Da vertraute er die Kaufmannsschiffe der Pinzons lieber einem erfahrenen Steuermann und Kapitän an und blieb selbst zu Hause auf der warmen Ofenbank.

So hätte es ihn auch niemals gereizt, an der Fahrt teilzunehmen, auf der sich sein Vater und seine beiden Onkel nun befanden. Welch ein Wahnsinn? Hinauszusegeln auf den Ozean, immer westwärts, in Regionen, wo noch nie jemand gewesen ist, wo es nichts mehr gab, wo überhaupt nichts zu gewinnen war.

Mit Martin Arias als Hausherr fanden in der Casa Pinzon viele Feierlichkeiten statt. Man lud die befreundeten Quinteros aus Moguer ein; auch die weit verzweigte, über alle Orte der Nachbarschaft verstreute Familie Niño war gern gesehener Gast. Beide Familien hatten den Pinzons ihre besten Seefahrer mit auf die Reise gegeben. Peralonso Niño fuhr als Steuermann auf dem Schiff von Admiral Christóbal Colón mit, Juan Niño war Offizier auf der Niña, und Christóbal Quintero fuhr als Erster Offizier auf der Pinta, dem Schiff, das Martin Alonso Pinzon befehligte.

Zum Kreis der angesehenen Kaufmannsfamilien aus Palos, Moguer und Huelva gehörten auch noch die Medel, ebenfalls häufig zu Besuch. Zwei Medel-Brüder fuhren auf der Pinta mit. Ihr Cousin Alonso Medel, ein 18-jähriger Pfau, war der Auserwählte für Isabellas Schwester Catalina. Wenn er auf seinen dünnen, bestrumpften Beinen durch die Casa Pinzon stolzierte, fühlte Isabella sich stets an einen Storch erinnert, wie er draußen durch die Sümpfe am Rio Tinto stochert. Sie mochte Alonso nicht. Wie konnte ihre Schwester sich in diesen eitlen Gecken verlieben? Niemand hatte ihr erklärt, dass diese Ehe mit Liebe wenig zu tun hatte, sondern von den jeweiligen Vätern von langer Hand geplant war mit dem Ziel, den gemeinsamen Reichtum, die Macht und das Ansehen beider Familien zu mehren. Die Hochzeit sollte stattfinden, sobald der Patriarch von seiner Reise zurückgekehrt war. Man rechnete noch im Herbst damit. Viel länger als ein oder zwei Monate, so viel stand fest, würden die Schiffe nicht wegbleiben.

Isabella zuckte zusammen, als Alonso Medel ihr im Vorübergehen mit seiner knochigen Hand über das Haar strich. „Meine süße Schwester“, raspelte er und wählte dabei einen Tonfall, der für ein Kind noch angemessen war, gleichzeitig aber auch einer jungen Frau gelten konnte. Er lächelte honigsüß und deutete eine galante Verbeugung an: „Ich freue mich, Euer Kavalier zu werden.“

Sie wandte sich trotzig ab und vermied es, ihm in die Augen zu blicken. Er sollte sie nicht mehr so anfassen. Sie hasste es. Sie hasste ihn. Aber anstatt das auszusprechen, beherrschte sie sich wie sie es gelernt hatte. „Welche Ehre“, sagte sie geziert, ohne aufzublicken. „Das ist sehr großzügig von Euch.“ Dann entfernte sie sich.

Beim Gartenfest, das am Abend in und um die Casa Pinzon folgte, bemühte sich Isabella, dem künftigen Schwager aus dem Weg zu gehen. Er war genügend ausgelastet. Nicht nur, dass er Catalina den Hof zu machen hatte, auch Mama Maria heischte um seine ständige Aufmerksamkeit und erlaubte es nicht, dass der künftige Schwiegersohn sich weiter als zwei Meter von ihr entfernte. Die Vermählung mochte von den Vätern besiegelt worden sein, doch solange Mama Pinzon nicht das Gefühl hatte, der Auserwählte bemühe sich angemessen auch um sie als künftige Schwiegermutter, war noch gar nichts abgemacht. Durch dieses Feuer der Bewährung musste Alonso noch hindurch. Aber es sollte sich für ihn ja lohnen. Ganz sicher winkte ihm mit Catalina eine der besten Partien zwischen Huelva und Cadiz. Für ihn würde das ein Aufstieg werden. Und die Braut war nicht unansehnlich. Zwar neigte sie, ähnlich ihrem Bruder Martin Arias, zu einer leichten Fülligkeit infolge des Wohllebens im Hause Pinzon. Wahrscheinlich könnte sie nach einigen Jahren und den ersten Kindern ihrer Mutter nachschlagen. Wohin das führen würde, war jetzt schon zu besichtigen. Aber, so tröstete sich Alonso Medel, sie hatte ein freundliches Wesen und ein hübsches Gesicht. Und außerdem war da noch ihre kleine Schwester, diese süße Augenweide Isabella. Auf die wollte er ein Auge haben. Instinktiv ahnte Isabella das. Sie spürte Medels Blicke auf sich ruhen, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Es entging ihr nicht, wie er sie mit lüsternen Hintergedanken beobachtete, wenn sie über den Hof tänzelte, durch ein Zimmer ging oder über die Gänge huschte. Er suchte jede Gelegenheiten, sie anzufassen. Er nahm sie in den Arm, drückte sie und tarnte diese Annäherungen als brüderliche Zuneigung des künftigen Schwagers.

Jedesmal entwandt sie sich, sperrte sich, machte sich steif. Nein, sie mochte ihn nicht. Und es graute ihr bei seiner Ankündigung, nach der Hochzeit mit Catalina werde er umziehen nach Palos und mit seiner Frau einen Flügel in der Casa Pinzon beziehen.

Auf diese Hochzeit konnte Isabella sich nicht freuen. Aber sie sprach mit niemandem darüber.

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