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I. Palos (1492)

Am Rande der Hafenstadt Palos klebte eine traurige Ansammlung armseliger Lehm- und Bretterhütten an einem unfruchtbaren Hang. Wenige Pinien krallten sich an die Erde. Disteln und verdorrtes Gras kämpften zwischen den Behausungen ums Überleben. Hier wohnte der Hirte Rodrigo Sanchez de Palos. Er war 13 Jahre alt. Dass er dieses Alter erreicht hatte, darf man als mittleres Wunder bezeichnen. Seine Mutter hatte bereits versucht, ihn umzubringen, als er noch unschuldig im Mutterleib heranwuchs. Vergebens führte sie sich Gifte aller Art zu und auf allen denkbaren Wegen ein. Der Balg wollte nicht abgehen. So wuchs und gedieh Rodrigo im Mutterleib, obwohl er in dieser Welt nicht willkommen war. Weder der Lebenswandel der Mutter noch die Prügel, welche sie in dieser Zeit bezog, konnten dem Fötus etwas anhaben. Nach der Geburt ließ sie ihn an Ort und Stelle hinter einer Lehmhütte zurück. Ihm den Hals umzudrehen, wagte sie nicht, aber sie vertraute der Sonne – und den Krähen. Doch die feuchte Kuhle, in der das kleine nackte Wesen liegenblieb, erwies sich als guter Platz zum Überleben, weil ihn eine kleine Steinmauer umfriedete, die Schweine und Hunde abhielt. Als der Säugling nach drei Tagen immer noch schrie, trug ihn jemand in jene Spelunke Namens „La Tortuga“, die Schildkröte, in der die Mutter inzwischen schon wieder ihrem Gewerbe nachging. Notgedrungen nahm sie ihn mit in ihre Hütte. Hätte er Arbeit gemacht, wäre er zur Last gefallen, wäre er krank oder ein Schreihals gewesen, dann hätte er keine Überlebenschance gehabt. Aber er war genügsam, hungerte klaglos, wenn er tagelang nicht gefüttert wurde, und verschlang dazwischen alles, was man ihm in den Mund schob. Als Säugling lag er stumm und still. Als Kleinkind versteckte er sich und machte sich so unsichtbar wie möglich. Bereits im Alter von fünf Jahren trug er als Ziegen- und Schweinehirte zum kargen Einkommen bei. Er blieb zäh und unerschütterlich am Leben. Ein immer dreckiges und hungriges Kind. Nie krank. So wuchs Rodrigo Sanchez heran. Inzwischen war er dreizehn Jahre alt und die Sippe hatte sich vergrößert.

Manchmal saß er mit seinen grimmigen Gedanken zuhause auf dem Lehmboden der armseligen Hütte, in der er, die Sippe hatte sich vergrößert, mit seinen Geschwistern zusammen mit der Mutter hauste. Einen gemeinsamen Vater gab es nicht. Niemand wusste genau, wer waren die Erzeuger, nicht einmal die Mutter. Jener Mann, von dem sie sich derzeit verprügeln und bespringen ließ, war ein Säufer.

Die Mutter hielt ihre Schar mit dem Hurenlohn am Leben, den sie sich in den Hafenkneipen verdiente. Ihr Gesicht trug verhärmte Züge, war von Falten gefurcht. Ihre Augen blickten glasig von Suff, Hunger, Elend und Prügel. Der einstmals vorhandene Liebreiz war längst unter Dreck und Verbitterung verschwunden, obwohl sie noch keine dreißig Jahre alt war. Ein knappes Dutzend Schwangerschaften, eine pro Jahr, hatten ihre Hüften breiter werden lassen. Ihre Brüste waren längst nicht mehr so straff wie früher. Die meisten Zähne fehlten bereits, so dass ihr einstmals verheißungsvolles Lächeln mit den Jahren zum zahnlosen Grinsen einer Vettel geworden war. Dass sie überhaupt noch Freier fand, verdankte sie dem Alkohol und der Dunkelheit der Nacht. Beides gute Verbündete, wenn es darum ging, Reize vorzutäuschen. Die andalusischen Schafhirten, Matrosen, Fischer und Hafenarbeiter, zeigten sich nicht wählerisch, wenn sie für wenig Münzen eine Wurst, ein Stück Käse, vorwiegend aber für Wein und Schnaps schnelle Befriedigung zwischen den Schenkeln der Hure Sanchez fanden. Nicht alle dieser Bälger dieser Freier waren so zäh wie Rodrigo. Die meisten taten der Hure und ihren wechselnden Zuhältern den Gefallen und starben im ersten Lebensjahr. Auch der Bastard von diesem Säufer war schon nicht mehr da. Er war nur drei Monate alt geworden. Der Alte hatte das brüllende Wesen im Suff so lange geschüttelt, bis es für immer still blieb.

Wie es wohl wäre, wenn er diesen Abschaum umbringen würde, fragte sich Rodrigo. Vielleicht hätten sie es alle dann leichter im Leben. Er, seine beiden jüngeren Brüder Miguel und Pedro und die dreijährige Consuela, die Jüngste der noch lebenden Geschwister.

Das Grübeln des Jungen, der im Halbdunkel der muffigen Lehmhütte saß, wurde jäh unterbrochen. Die Mutter kreischte. Blut spritzte. Ein harter Faustschlag hatte sie getroffen. Von unten gegen das Kinn und schräg über die Nase.

Rodrigos Mutter krachte rückwärts gegen die Lehmwand, ruderte nach Halt suchend mit den Armen und rutschte dann seitlich weg. Sie hatte Glück, denn so entging sie dem wilden Fußtritt, der dem Fausthieb folgte.

Sie krümmte sich, wischte das Blut von der Nase. In wilden Strähnen hingen ihr ihre dunklen Haare vom Kopf. „Bastard, elender! Hurensohn! Gottverdammter räudiger Taugenichts. Besoffener, jämmerlicher Bock. Nichts kannst du, nichts. Nicht einmal deine eigene Frau verprügeln.“

Und dann gab sie es ihm zurück: ein Tritt mit dem Fuß von unten in die Weichteile. Der Säufer brüllte. Und während er noch schrie und sich krümmte, war sie schon wieder auf den Beinen und schlug mit der flachen Hand zu. Ein, zwei, drei Ohrfeigen, links, rechts, links. „Hier kriegst du, was du verdienst, verfluchter Mistbock, verfluchter!“

Er warf sich auf sie, mit verdrehten Augen, irrem Blick und mit taumelnden Bewegungen. Er drückte mit einer Hand ihren Hals gegen die Wand, mit der anderen riss er an ihren langen Haaren.

„Du Hure! Du elendige Hure! Ich bringe dich um. Du schlägst mich nicht noch einmal. Deinen Mann schlägst du nicht.“ Er drückte ihre Gurgel, würgte sie, dass ihr vor Schmerz und Atemnot die Augen weit hervortraten. Mit ihren Fäusten trommelte sie gegen seine Brust, kratzte ihn, trat heftig zu, wehrte sich mit Händen und Füßen.

Er ließ erst los und zuckte zurück, als sie ihn anspuckte. Mitten ins Gesicht! Das wüste Zuschlagen ging von vorne los. Sie wälzten sich im Staub, warfen sich gegen die morschen Bretterwände, kugelten sich, kamen wieder auf die Beine; so ging es rauf und runter. Sie war zwar schwächer, aber er war betrunken.

Rodrigo saß mit seinen drei jüngeren Geschwistern reglos in der Ecke. Wie immer, wenn der Alte und die Mutter sich prügelten, war es das Klügste, sich nicht zu rühren. Schnell bekam man sonst selbst einen Fußtritt ab, einen Faustschlag ins Gesicht, oder eins mit dem Ledergürtel oder dem Stock übers Kreuz.

Rodrigo legte schützend seinen Arm um Consuela. Die Dreijährige begriff nicht, was vorging. Sie weinte und kauerte sich an den großen Bruder. Der sechsjährige Pedro und der zehnjährige Miguel waren beide schon schlau genug, sich aus der Gefahrenzone zu bringen. Sie legten sich ganz flach auf ihre Strohmatten; nur ihre kleinen, schwarzen Kugelaugen bewegten sich und verfolgten das Geschehen. Ihre ausgemergelten Körper zitterten.

Rodrigo hatte keine Angst mehr. Zu oft schon hatte er solche Szenen miterlebt.

Der Saufbold war wieder einmal betrunken nach Hause gekommen. Wie so oft. Wie immer eigentlich. Die Mutter hatte gescholten. Wie immer. Eines der Hühner fehlte. Sie besaßen nur sieben. Hatte er das fehlende verkauft und das Geld versoffen? Hatte sie nicht aufgepasst und es war davongelaufen? Hatte es jemand gestohlen? Es war egal! In solchen Fällen redete man nicht lange.

Jetzt schnappte der Säufer den leeren Wasserkrug und schleuderte ihn gegen die Mutter. Das Geschoss verfehlte sein Ziel. Der Krug eierte auf die zusammengekauerte Gruppe der Kinder zu. Rodrigo zog geistesgegenwärtig den Kopf ein. Das Tongefäß krachte splitternd auf den Schädel von Consuela. Sie schrie laut auf und hielt sich die Kopfwunde. Ihre kleinen Finger färbten sich zwischen den struppigen Haaren schnell rot vom Blut, bevor sie bewusstlos zusammensackte.

Rodrigo starrte auf das jämmerliche Bündel: ein dünner, kleiner Körper, kaum Mensch, gekrümmt im Staub der Hütte.

Die Alten kümmerten sich nicht darum. Der Streit tobte weiter.

Mit einer fahrigen Bewegung strich Rodrigo über die klaffende Wunde am Kopf seiner Schwester. Er spürte das warme, klebrige Blut. In einem Impuls von Wut und Auflehnung sprang Rodrigo auf und stürzte sich auf die Tollwütigen. Er wollte auf sie einprügeln, sie zur Besinnung bringen. Ein Tritt des Säufers genügte, ihn wieder in seine Ecke zu scheuchen.

Jetzt änderte sich der Charakter des Streits. Der Alte warf sich über die Mutter und drückte sie fest mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Boden. Sie wehrte sich zwar, wand und stemmte sich, doch im wilden Ringen behielt er die Oberhand. „Du Biest“, keuchte er. „Du kleines Biest, ich werde dich schon zähmen.“

Die Körper verschlangen sich noch fester ineinander, hoben und senkten sich. Mit einer Hand hielt er immer noch ihren Haarschopf gepackt, mit der anderen schob er ihr den lumpigen Rock über die Knie, fuhr mit der Hand ihre nackten Schenkel empor und drückte ihre Beine auseinander. Gleichzeitig öffnete er seinen Hosenladen und holte sein mächtiges Glied hervor. Rodrigo kannte diesen Verlauf. Scheinbar wehrte sich die Mutter, aber ihre Bewegungen wurden rhythmisch und das Stöhnen klang nun nach gieriger Lust. Die zwei verschwitzten, verdreckten Körper begannen, nacheinander zu suchen.

Drüben an der Wand lag blutverschmiert Consuela. Sie war noch immer bewusstlos.

Rodrigo sprang auf, zwei Sätze an der Wand entlang, und schon war er an der Stoffmatte, die den Eingang zur Hütte verdeckte, und wollte hinausschlüpfen. Da packte ihn die starke Hand des Alten am Fußknöchel: „Hier geblieben, Bürschchen!“

Rodrigo stolperte, kam zu Fall. Schon packte der Säufer ihn an den Haaren und zog ihn wieder in die Hütte hinein.

„Wohin so eilig, du kleines Stinktier?“ Fauliger Atem und der Geruch von billigem Fusel schlugen Rodrigo entgegen. Ihm fiel keine bessere Ausrede ein: „Zu den Schweinen, zu Pinzon!“

Pinzon, das war der Patron. Don Alonso Pinzon. Der reichste Mann von ganz Palos. Kaufmann, Schiffseigner und Seefahrer. Es gab einen Clan von Pinzons in Palos. Ihnen gehörte die halbe Stadt. Der Inbegriff von Reichtum. Sie besaßen Geschäftshäuser in Palos, ein Landhaus vor der Stadt, Schiffe im Hafen, Ländereien bis hinüber nach Huelva, auf der anderen Seite des Rio Tinto; Brüder, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, Söhne und Töchter, alle reich und angesehen. Und Don Alonso galt als der mächtigste und angesehenste in dieser Familie. Für ihn hütete Rodrigo die Schweine. Aber nicht in der Nacht. Das war eine dumme Ausrede gewesen.

„Du hältst mich wohl für einen Idioten, du erbärmliche Ratte.“ Rodrigo steckte kommentarlos einen Satz Ohrfeigen ein.

„Pinzon, Pinzon, Pinzon ...“, lästerte der Alte und rappelte sich auf, während er beiläufig sein Gehänge wieder in die Hose stopfte.

Die Mutter krabbelte auf allen Vieren zu Consuela, die wimmernd aus ihrer Ohnmacht erwacht war.

„Dieser Kotzensohn von Pinzon“, wütete der Alte weiter, fuchtelte mit den Armen und stierte mit glasigen Augen an die Decke. Es entstand eine kurze Pause, in der niemand zu atmen wagte. Sie kannten alle diese Ausbrüche. Jetzt holte er Anlauf, um sich über irgendetwas auszutoben.

„Dieser Lump von Pinzon fährt mit Don Fantastico übers Meer. Verflucht und geschissen. Stellt euch das mal vor. Colón, der feine Herr aus Genua, und Pinzon, der Hurenbock. Das ist schon der Grund, warum er ein Eselsarsch ist, weil er mit einem Genueser gemeinsame Sache macht. Und jetzt ist er auch noch verrückt geworden.“

Alle wussten, was er meinte. Es war seit Monaten das Thema Nummer eins in Palos: die bevorstehende Ausfahrt einer Flotte unter dem Kommando des Genuesen Christóbal Colón. Drei Schiffe sollten am nächsten Morgen auslaufen. Eines davon gehörte Don Alonso Pinzon.

Die Anwesenheit des legendenumwitterten Kapitäns Christóbal Colón in Palos, den viele wegen seiner Spinnereien „Don Fantastico“ riefen, hatte mit einem spektakulären Auftritt vor einigen Wochen in der Kirche San Jorge begonnen.

Christóbal Colón sprach damals als Unbekannter vor der versammelten Bürgerschaft des Städtchens. Er ließ von Fernandez, dem Notar von Palos, eine königliche Verfügung verlesen. Darin hieß es, die Bürger von Palos müssten dem Kapitän Colón für ein Jahr drei ausgerüstete Schiffe mit Mannschaft stellen und die Kosten dafür tragen, denn dieser Christóbal Colón sei Admiral der Krone und habe den Auftrag, „sich aufzumachen nach jenen Gebieten des Ozeans, wo er bestimmte Aufgaben erledigen soll.“ Niemand hatte eine Vorstellung, zu welchen Gebieten es gehen sollte. Aber bald machten Gerüchte die Runde, dass so weit nach Westen ins atlantische Meer gesegelt werden sollte, wie noch niemals zuvor ein Schiff gekommen war. Colón wollte auf diesem Wege angeblich das Land des großen Khan finden, Zipangu im fernen Asien und Cathay, die reiche Hauptstadt, von der sagenhafte Berichte existierten.

Die alten Seemänner tippten sich an die Stirn, die jungen schüttelten sich vor Lachen über die Vorstellung, die Erde könne per Schiff „umrundet“ werden, wo doch alle Welt wusste, dass man über ihren Rand hinaus ins Nichts stürzen würde. Niemand meldete sich, um an der befohlenen Fahrt teilzunehmen.

Erst als nach Wochen ergebnislosen Bemühens Don Alonso Pinzon öffentlich bekanntgab, er werde eines der Schiffe stellen und zusammen mit seinen jüngeren Brüdern an der Fahrt teilnehmen, fanden sich plötzlich genug Freiwillige. Trotzdem herrschte weiter die Überzeugung vor, es bei Colón mit einem Spinner zu tun zu haben: „Er will nach Indien segeln“, spekulierte einer. „Er sucht die verwunschene Insel Antiglia. Dort gibt es sieben Städte, gegründet von sieben Bischöfen. Sie flüchteten, als die Mauren Spanien eroberten. Der Meeressand soll dort aus purem Gold sein, doch niemand weiß, wo dieses Eiland wirklich liegt“, wusste ein anderer. Ein Dritter erzählte: „Weit im Westen, hinter den azorischen Inseln, da gibt es noch eine Insel, die heißt St. Brandans. An klaren Tagen kann man sie 200 Seemeilen westwärts von den kanarischen Inseln am Horizont sehen, dann leuchtet sie im Meer.“

Man amüsierte sich köstlich über derlei Seemannsgarn und verließ sich im Übrigen auf Don Alonso Pinzon. Der würde schon dafür sorgen, dass die Fahrt zu einem Erfolg wurde. Ihm vertrauten die Männer in Palos, ganz im Gegensatz zum windigen Phantasten Colón. Und weil die Pinzons dabei waren und die Quinteros und die Niños, allesamt angesehene und wohlhabende Seemänner und Kaufleute aus Palos, Moguer und Huelva, meldeten sich plötzlich auch genug Abenteuerlustig. Auch der Alte hatte sich freiwillig melden wollen, er war aber als stadtbekannter Saufkopf nicht angenommen worden.

Auch daher rührte seine Wut auf die reichen Pinzons. Nach einer stummen Pause brach es unvermittelt aus ihm heraus: „Die Idioten! Morgen segeln sie los, diese Schwätzer!“

„Vielleicht gibt’s dabei was zu gewinnen“, sagte zögernd die Mutter.

„Halt’s Maul, du verstehst nichts davon! Nichts gibt’s zu gewinnen!“

Er verdrehte die Augen. Rodrigo hielt er unterdessen immer noch fest am Haarschopf gepackt.

„Es ist für den Tod“, lästerte der Alte weiter. „Von denen wird keiner zurückkommen.“

„Aber wenn doch Don Alonso Pinzon mitfährt“, wagte die Mutter zu widersprechen, „dann ist doch etwas dran, an den Goldländern im Westen?“

„Red kein dummes Zeug! Der Pinzon kann auch nicht alles wissen. Mich kriegt jedenfalls keiner auf sein Schiff.“

„Feigling!“, kommentierte geringschätzig die Mutter.

„Wenn dir was nicht passt, du alte Kotze, dann kannst du ja selber gehen. Für tausend Maravedis. Deinen fetten Arsch könnten sie schon noch brauchen, auf ihrer Fahrt.“ Die Mutter schnaubte verächtlich.

„Irgendwann wird der hochnäsige Don Pinzon gewaltig auf die Schnauze fallen. Der feine Herr mit seinen krummen Geschäften. Er ist ein Ausbeuter und Leuteschinder.“

„Er ist immerhin der angesehenste und reichste Mann der Gegend“, warf die Mutter ein. Sie klang respektlos und wütend, was den jähzornigen alten Säufer aufs Äußerste reizte.

„Der reiche Pinzon ist das größte Aas von ganz Palos“, blaffte er. Dann sprang er auf und umrundete mit stampfenden Schritten den wackligen Tisch: „Das größte Klappermaul von ganz Palos! Arschloch! Arschloch! – Sag es nach!“ Er packte den völlig verschreckten Miguel am Hemd und zerrte ihn zu sich her: „Sag es! Sag es nach!“

„Der rrrr...reiche ...“, stotterte Miguel, wie er immer stotterte. Der Alte brüllte: „Lauter!“

„Der rrr...reiche Don Pinzon ... ist ddd... das größte AAAA... Arschloch von Palos“, stammelte er.

Der Alte hörte gar nicht zu, er schnappte sich bereits den kleinen Pedro und auch der musste es nachsagen.

„Jetzt du“, blaffte er Rodrigo an und redete sich selbst in Rage: „Du bist doch sein Schweinehirte. Du musst es doch ganz besonders wissen.“ Aber Rodrigo zögerte. Don Alonso war sein Dienstherr. Er war reich, klug, mächtig, edel. Nie hatte der Junge ihn anders wahrgenommen. Der Patron verkörperte all das, wovon er träumte. Und da gab es auch noch Don Alonsos zehnjährige Tochter. Die schöne Isabella. Er beobachtete sie oft heimlich, wenn sie im Hof der Casa Pinzon spielte oder mit ihren Schwestern und Dienerinnen Spaziergänge unternahm. Er verehrte sie, träumte und schwärmte von ihr. Sie war seine große, heilige, heimliche Liebe. Konnte er da so abfällig über die Familie Pinzon reden wie der alte Saufbold es verlangte? Das wäre Verrat. Er biss sich auf die Unterlippe und schwieg eisern.

Der Alte stand vor ihm und drückte ihn mit der flachen Hand gegen die Wand: „Du Rotznase! Sprich mir nach, du Strohkopf: Der reiche Don Pinzon ist ein riesengroßes Arschloch!“

Rodrigo presste die Lippen zusammen und schüttelte zaghaft den Kopf. Der Alte in seiner Raserei spürte den Widerstand. In sein Staunen darüber mischte sich grobe Wut: „Wirst du wohl reden, du verlauster Mistkerl. Ich zieh dir die Zunge raus!“

Es folgten zwei klatschende Ohrfeigen. Rodrigo duckte sich, aber dem festen Griff des Säufers konnte er sich nicht entwinden. Der Alte mochte ein Saufkopf sein, aber er verfügte noch über erstaunliche Körperkräfte. „Sag jetzt diesen Satz! Oder muss ich dich erst weichprügeln?“

Rodrigo spürte die ersten Schläge, aber der Gedanke an Isabella ließ ihn trotzig schweigen. Seine Weigerung, diesen einen Satz zu wiederholen, wuchs sich zur Prüfung für die Stärke seiner Liebe aus. Ein Nachgeben kam nicht in Frage.

Der Alte beherrschte die Kunst des Prügelns. Er drosch mit unbändiger Wut auf Rodrigo ein. Damit entlud er die eigenen Frustrationen, reagierte die eigenen Unzulänglichkeiten ab, die eigene Feigheit und Schwäche. Fausthiebe, Fußtritte, Schläge, Hiebe mit dem Stock, harte Schläge mit dem Lederriemen, alles gehörte zum Arsenal des Alten. Rodrigo rollte sich zusammen wie ein Igel, schützte den Kopf zwischen Knien und Ellbogen und erduldete mit zähem Schweigen die Tortur.

Seine Mutter versuchte, das sinnlose Einschlagen zu beenden. „Hör jetzt wieder auf“, sagte sie eher bittend als fordernd. Aber das brachte den Alten noch mehr in Wut und ihr einen brutalen Faustschlag ein, mitten auf den Brustkorb, so dass sie torkelnd quer durch den Raum geschleudert wurde.

„Pinzon ist ein Arschloch! Pinzon ist ein Arschloch!“, brüllte in heißerer Wut der Trunkenbold.

Rodrigo rappelte sich auf. Auf dem Tisch lag das Messer. Ein langer Dolch mit rostiger Schneide und abgebrochener Spitze.

Mit vernebeltem Blick hinter geschwollenen Augenlidern, mit blutiger Nase und aufgeschlagenen Lippen, voller Flecken am ganzen Leib, Rotz und Wasser spuckend, schnappte Rodrigo nach diesem Messer. Es war eine Bewegung: packen, ausholen, ein Satz nach vorne, zustechen. Mit unbändigem Schwung jagte er dem tobenden Alten die Klinge von hinten zwischen die Schulterblätter. Es knirschte, als das Messer an den Knochen abrutschte, dann folgte ein saugendes Geräusch, gefolgt vom Stöhnen des Alten, der den Tisch mit sich zu Boden riss und sich darunter begrub.

Die Mutter presste pfeifend den Atem aus den Lungen, blickte ungläubig auf ihren Sohn. Da sprang von hinten Miguel hervor, der jüngere Bruder, und zerrte Rodrigo zum Hüttenausgang. „Raus, raus, raus. Du hast ihn tot gemacht!“

Kaum zur Hütte hinaus, tauchten die Brüder ins Dunkel der Nacht.

Aufbruch. Zeit zum Auslaufen. Die kleine Flotte im Hafenbecken, das von einem Arm des Rio Tinto gebildet wurde, war bereit für die Fahrt ins Ungewisse. Die Ladung befand sich an Bord, die Mannschaften standen fest: 90 Mann, 39 auf der Gallega, 27 auf der Pinta und 24 auf der Niña – alle drei Schiffe in tadellosem Zustand.

Mitternacht strich soeben vorüber. Der leicht verhangene Sternenhimmel warf dunkle Schatten. Ansonsten hatte sich Finsternis über die Gassen von Palos gestülpt. Die Glocken der Georgskirche riefen zum Gebet.

Admiral Colón und die Pinzons hatten sämtliche Mannschaften zum gemeinsamen Gottesdienst befohlen. Die Schutzheiligen mussten vor dieser großen Fahrt um Wohlwollen angerufen werden. Ohne Gottes Segen durfte das Abenteuer nicht begonnen werden, zu dem überraschend kein Priester mit an Bord genommen wurde. Diese Ausfahrt in die unbekannte Ferne konnte nur gelingen unter der weihevollen Schirmherrschaft der heiligen katholischen Kirche, weshalb Martin Alonso Pinzon streng darauf geachtet hatte, keine Juden und möglichst wenig Conversos, ehemalige Juden, mit in die Mannschaft aufzunehmen.

Während drinnen in der neu erbauten Georgskirche 90 Männer und viele Angehörige der Wagemutigen andächtig den salbungsvollen Worten des Priesters lauschten, schlichen draußen zwei schmächtige Gestalten durch die verwaisten Gassen hinunter zum Hafen. Aus sicherer Distanz, hinter Sträuchern verborgen, harrten sie eine Weile aus und spähten die Schiffe aus. Die Karavellen im Hafen schienen unbewacht. Die gesamte Besatzung befand sich in der Kirche. Am Heck der drei Segler brannten die Positionslichter, einsam glühende Punkte in der dunklen Nacht. Nur leises Plätschern der Wellen gegen die Schiffsbäuche und die Hafenmauer, gelegentliches Knarren im Schiffsgebälk und leichtes Flattern der Takelage – keine anderen Geräusche waren zu vernehmen.

Wie Katzen schlichen Rodrigo und Miguel zur Kaimauer, nicht weit vom Ankerplatz der drei Segelschiffe entfernt. Die beiden Brüder hatten sich entkleidet, liefen vollkommen nackt durch die Nacht. Ihre schmutzigen Hosen und Hemden hatten sie zu Bündeln zusammengeschnürt, um sie trocken zu halten.

Es stank nach altem Fisch, nach Teer und Salzwasser. Vorsichtig ließen sich die beiden an der Kaimauer hinunter ins lauwarme Wasser gleiten. Die Dunkelheit über dem Rio Tinto verschluckte sie sogleich. Mit vorsichtigen Schwimmzügen erreichten sie die Trossen des Bugankers der Gallega. Dass sie gerade am Flaggschiff landeten, war eher Zufall. Es lag am günstigsten, denn um die Pinta oder die Niña zu erreichen, hätten die Knaben noch weiter schwimmen müssen. Gleich das erste der drei Schiff zu erklimmen, hielten sie für die bessere Lösung.

Affengleich klammerte Rodrigo sich am mächtigen, gedrehten Hanftau fest und zog sich nach oben. Das brackige Wasser plätscherte, als er sich hinaushievte, und die Ankertrosse scheuerte bei den Kletterbewegungen lautstark an den Klüsen und am Beting. Aber auf den Schiffen rührte sich nichts.

Sich auf eines der Schiffe zu flüchten, war ein spontaner Entschluss gewesen. Sie verließen Palos, ein sicherer Weg, um der Rache des Alten zu entgehen, sollte er den Messerstich überlebt haben. Wenn nicht, würde man Rodrigo als Mörder suchen, und Miguel als dessen Helfer. Also mussten sie verschwinden. Möglichst lange und möglichst weit weg. Dass dieser Freitag, 3. August 1492, ein historisches Datum werden würde, konnten die Kinder nicht wissen.

Rodrigo erreichte nach anstrengenden Minuten die Ankerklüse. Von dort erwies es sich für einen geübten Kletterkünstler, wie Rodrigo einer war, als ein Leichtes, über die Reling an Bord zu kommen. Aber unten im Wasser hing immer noch Miguel und kämpfte mit dem Ankertau.

„Was ist los?“

„Ich rutsche ab. Ich komme nicht hoch.“

„Versuch’s!“

„Ich hab keine Kraft mehr. Rodrigo, ich schaffe es nicht.“ Miguels Flüstern klang verzweifelt. Verbissen klammerte sich der kleine Bruder an das Ankertau, schaffte ein kurzes Stück, glitt aber gleich wieder zurück ins Wasser. Miguel war zehn Jahre alt. Er besaß nach dem Schwimmen zu wenig Kraft für den Kletterakt.

Dann begannen die Glocken der Georgskirche zu läuten.

„Sie kommen!“ Ein panischer Ruf Rodrigos.

„Ich kann es nicht, Rodrigo, ich kann es nicht“, weinte jetzt Miguel voller Verzweiflung.

„Miguel! Miguelito!“ Ein geflüsterter Schrei. Rodrigos Hände krampften sich um die Bordwand, er starrte entsetzt auf die dunklen Wellen hinunter. Miguel gab das Ankertau frei, sank erschöpft ins stinkende Hafenwasser zurück. Rodrigo hörte ihn schluchzen.

Dann schwoll der Lärm von den Häusern her an. Helle Fackellichter tanzten durch die Nacht und kamen schnell näher.

Rodrigo musste sich entscheiden: Dem kleinen Bruder treu bleiben und hinterherspringen, zurück ins Hafenbecken. Das bedeutete zurück ins Elend, zurück in die Lehmhütte, zurück in die Hoffnungslosigkeit. Nein! Er entschied sich für den anderen Weg. An Bord bleiben. Lautlos huschte er über die Planken, schlüpfte in eine finstere Luke und verschwand unter Deck. Schon hörte er erste Schritte und Kommandos unmittelbar vor dem Schiff. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Rodrigo kletterte so weit hinunter ins Innere des Schiffes wie nur möglich. Er landete über den Laderaum und das Zwischendeck im untersten Kielraum, der Bilge. Finsternis und brackiger Gestank von abgestandenem Wasser voller Rattenpisse umfingen ihn. Eine zentimetertiefe Pfütze übelriechenden Bilgenwassers stand im Bauch der Gallega. Rodrigo würgte. Tapfer tappte er mit nackten Füßen durchdie schwarze Brühe. Während er sich links und rechts an Stützbalken festhielt und vorwärts schob, hörte er das Fiepen der aufgescheuchten Ratten und das Plätschern, wenn sie sich mit schnellen Sprüngen in Sicherheit brachten. Rodrigo war hartgesotten. Er hütete Ziegen und Schweine; Wanzen und Kakerlaken waren seine Bettgenossen. Und er hatte eine ganz und gar unempfindliche Nase. Der Schiffsbauch mit seinem ganzen finsteren Gestank schreckte ihn nicht. Zudem lenkten ihn die Geräusche ab, die vom Deck herunterdrangen und bezeugten, dass die Mannschaft an Bord kam.

Zitternd an einen der Stützbalken gelehnt, die Augen geschlossen, weil er in der Finsternis ohnehin nichts sehen konnte, lauschte Rodrigo den Lauten. Dann spürte er, die Gallega hatte abgelegt.

Vor Sonnenaufgang drehten sich die drei Schiffe träge von den Hafenmauern in die Flussmitte. Mit Hilfe der Ruderhölzer, welche die Matrosen in gleichbleibendem Rhythmus einsetzten, gewannen sie an Fahrt. Viel Volk hatte sich am Hafen eingefunden, ganz Palos schien auf den Beinen und bestaunte das Auslaufen. Frauen und Kinder. Viele weinten und jammerten, weil sie glaubten, ihre Männer führen ins Verderben. Unter den modrigen Stützbalken an der Hafenmauer saß unbemerkt von der Menge ein weinender kleiner Junge.

Manche fluchten auf Christóbal Colón, aber manche winkten auch, und vereinzelt waren sogar Hochrufe zu vernehmen. Martin Alonsos Sohn, Arias Perez Pinzon, umringt von all den aufgetakelten Pinzon-Damen, darunter die kleine Isabella, jubelte laut: „Auf Ferdinand, auf Isabella, auf Spanien und das Königspaar, hoch lebe der König!“ Die Menge auf der Mole brüllte ihm nach: „Es lebe der König!“

Die Schiffe fanden schnell den Weg aus dem kleinen Hafenbecken hinaus. An Backbord tauchten die Umrisse des Klosters La Rabida aus dem Dunst. Über das Wasser hallte der Gesang der Franziskaner-Mönche zur Prim, der Stunde des ersten Gebets. Bis hinunter in Rodrigos finsteres Versteck war der mystische Chorgesang zu hören, hohe Stimmen, weit in die Nacht hinausgetragen: „Deo patri sit gloria, eiusque soli filio, cum spirito paralito et nunc et in perpetuum.“

Rodrigo erschauderte. Das war der Abschied von der Welt.

Nachdem die kleine Flotte La Rabida passiert hatte, steuerte sie backbords in den Rio Saltes, dann hart Steuerbord über die Barre, jene letzte Untiefe, bevor trichterförmig der Fluss ins Meer mündete. Dort kam endlich leichter Wind auf. Die Segel begannen sich aufzublähen. Rodrigo lauschte den Kommandos an Bord, dem Plätschern der Wellen am Schiffsbauch, dem Knarren und Ächzen des Gebälks. Langsam legte sich seine Aufregung, der Pulsschlag normalisierte sich.

Im Osten ging soeben die Sonne auf.

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