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Der liberale Jesus
ОглавлениеDas 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des ersten großen technischen Schubs. Das früher Unmögliche schien auf einmal möglich zu werden. Elektrizität, Eisenbahnen, weltweite Entdeckungen und Eroberungen ließen in der westlichen Welt das Gefühl entstehen, alles sei machbar. Die Wissenschaft eroberte Stück für Stück die Wirklichkeit. Da war kaum noch Platz für Gott. Und auf keinen Fall Platz für das Übernatürliche. Die bürgerliche Gesellschaft legte großen Wert auf treue, selbstvergessene Pflichterfüllung. Moral und gute Sitten wurden hoch angesehen.
Und so entdeckten die Theologen dann auch zeitgemäß einen Jesus, der dem Zeitgeschmack entgegenkam. Alles Übernatürliche in den Evangelien, also die Wunder, die Vorhersagen und Erfüllungen, die Heilungen und die Befreiung von dämonischen Mächten, sollten nun herausgestrichen werden. All diese Berichte seien zeitbedingt und spiegelten nur das primitive Weltbild der Antike wider. In unserer aufgeklärten Zeit, so sagten die Verfasser vieler liberaler Jesusbücher, erkennen wir, dass das alles nur nachträglich hinzugefügtes Beiwerk sei. Der wirkliche Jesus sei stattdessen Jesus, der Sittenlehrer. Der uns zeigt, wie man verantwortlich und pflichtbewusst sein Leben führt. Der Lehrer, der seinen gutwilligen, aber noch bildungsbedürftigen Schülern zeigt, was sich schickt und was nicht. Der uns die ewig gültige Regel der Nächstenliebe hinterlassen hat.
Das Jesusbild wurde also von allen Hinweisen auf Übernatürliches befreit. Übrig blieb ein Jesus, der im Bild eines preußischen Erziehers geschaffen war. Der mehr an einen deutschen Gymnasiallehrer erinnerte als an einen jüdischen Rabbi. Eine Art antiker Immanuel Kant. Ein zweiter Sokrates. Ein sanfter, gütig, bisweilen aber auch etwas streng dreinblickender Lehrer.
Das war natürlich ein attraktives und den Status quo wenig gefährdendes Jesusbild. Und doch entpuppte sich der liberale Jesus schon zu seiner Zeit als mangelhaft. Jeder Autor produzierte nämlich seine eigene Version des Lebens Jesu. Spätestens als Albert Schweitzer dann sein Buch „Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“10 schrieb, hätte allen klar werden müssen, dass dieser Versuch in einer Sackgasse geendet hatte. Es war einfach unmöglich, die sogenannten übernatürlichen Elemente aus dem Leben Jesu herauszuschneiden und dennoch ein einigermaßen vernünftiges Restbild von Jesus zu bewahren. Die verschiedenen Teile seiner Person und seines Wirkens ließen sich einfach nicht voneinander trennen. Das Ergebnis wäre gewesen, dass man gar nichts mehr über Jesus aussagen könnte. Und das wäre dann doch zu wenig gewesen! Diese Tatsache erkannte Schweitzer.
Und doch wurde immer wieder der Versuch unternommen, einen „naturwissenschaftlich haltbaren“ Jesus zu finden. Der Marburger Neutestamentler Rudolf Bultmann war einer der späteren Theologen, die das immer noch versuchten. Das Problem war allerdings, dass der Wissensstand der Naturwissenschaft, den er und andere Theologen als Maßstab an den Jesus des Neuen Testamentes legten, schon längst überholt war, als sie ihre Werke über das Neue Testament schrieben. Die materialistische Weltsicht, das mechanistische Weltbild der Physik des 19. Jahrhunderts, das keinen Raum für Wunder oder auch Unregelmäßigkeiten in Naturvorgängen offenließ, leitete diese Theologen noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Doch da war längst durch die moderne Quantenphysik die Theorie von der absoluten Einförmigkeit und Vorhersagbarkeit der Naturvorgänge widerlegt. Das liberale Jesusbild, das sich einer alten Physik anpassen wollte, war schon hoffnungslos veraltet, als es durch diese Theologen popularisiert wurde. Die zwingende Notwendigkeit, Wunder aus naturwissenschaftlichen Gründen von vornherein als unmöglich auszuschließen, war also gar nicht mehr vorhanden. Und doch geistert das liberale Jesusbild, durch Bücher und Religionsunterricht vermittelt, immer noch in den Köpfen vieler herum. Und verstellt ihnen den Blick auf den wirklichen Jesus.