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Der Geheimlehrer

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Auch dies ist ein heute sehr beliebtes Jesusbild, besonders in der westlichen Welt. Das Strickmuster ist etwa wie folgt: Zuerst wird gesagt, Jesus habe zwei verschiedene Arten von Lehren von sich gegeben. Öffentlich habe er dem allgemeinen Volk Gleichnisse und einfache Glaubenslehren vermittelt. Daneben aber habe er seinen Jüngern eine Art Geheimlehre weitergegeben, in die sie wiederum nur auserwählte Einzelne einweihen durften. Diese geheime Lehre von Jesus befinde sich auf einer höheren Stufe als das, was die einfachen Gläubigen wissen. Die seien auch zu einfach und unverständig, um dies richtig zu verstehen. Deshalb wird gesagt, dass diese geheime Lehrunterweisung Jesu in einer Geheimtradition immer weiter vermittelt worden sei, wobei die offizielle christliche Kirche versucht habe, dieses Wissen zu bekämpfen und zu unterdrücken.

Diese auf den ersten Blick spannende und deshalb viele Menschen anziehende Hypothese hat ein großes Problem: Ihr fehlt die geschichtliche Grundlage. In den Evangelien haben wir, wie wir noch sehen werden, tatsächlich verlässliche Berichte über das, was Jesus getan und gelehrt hat. Die Theorie von der Geheimlehre Jesu ist erst mehrere Generationen später, nämlich im ausgehenden 2. Jahrhundert und dann vor allem im 3. Jahrhundert nach Christus, entstanden als Versuch, Jesus in ein bestimmtes geistiges System einzuordnen. Die sogenannten apokryphen Evangelien, die neben vielen fantastischen Ausschmückungen des Lebens Jesu diese Theorie vertreten, haben keine historische Grundlage. Man merkt ihnen vielmehr auf jeder Seite an, dass sie den Geist ihrer Zeit tragen. Dass sie bestimmt sind vom Pessimismus der spätantiken Gesellschaft und das Heil in der Befreiung der Seele aus dem Gefängnis der materiellen Welt erwarten. Jesus wird in diesem System zum Vermittler des geistigen Wissens, des Know-how der Selbsterlösung. Er ist der Seelenführer, der der Seele hilft, die materielle Welt hinter sich zu lassen und zurückzukehren in die höheren geistigen Sphären. Das Geheimwissen, das er weitergibt, besteht aus esoterischen Erkenntnissen, Wissen von den Zusammenhängen der Himmelswelten, teilweise aus magischen Formeln und Wortspielen und vielem mehr.

Wie entfernt diese Vorstellungen vom wirklichen Jesus sind, liegt auf der Hand. Jesus wird in diesen gnostischen Systemen nur als Chiffre genommen. Er ist letztlich in seiner Person unwichtig und fungiert stattdessen nur noch als Mittler eines Wissens, mit dessen Hilfe sich der Mensch selbst befreien kann. Statt der Zuwendung zum konkreten Menschen, zu allen Menschen, die wir beim wirklichen Jesus sehen, ist er zum Führer der wenigen „Wissenden“ geworden. Statt Umkehr und Lebenserneuerung heißt seine Botschaft jetzt höhere Erkenntnis und Selbsterlösung. Statt der Verkündigung der Herrschaft Gottes in allen Bereichen des Lebens, statt der Befreiung von Krankheiten und Leiden lehrt dieser gnostische Jesus, die Welt hinter sich zu lassen und das Heil in höheren Regionen zu suchen. Anstatt eine neue Gemeinschaft zu gründen, in die jeder eingeladen ist, die Armen und die Reichen, die Kranken und die Gesunden, die Männer und die Frauen, lehrt dieser Geheimlehrer Jesus nur die wenigen, ja er lehrt sogar die Frauen, wie sie Männer werden können, damit sie die höhere Erkenntnis erlangen können.11

Auch dieses Jesusbild ist nicht identisch mit dem wirklichen Jesus, egal ob es nun in antiker oder in moderner Aufmachung erscheint.

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