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„Volk steh auf, Sturm brich los!“

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Angesichts der großen Personalverluste an allen Fronten besann man sich im „Führerhauptquartier“ auf die Möglichkeit, gemäß Wehrgesetz von 1935 den Kreis der Wehrpflichtigen in Kriegs- und Notzeiten auch über das 45. Lebensjahr auszudehnen2, um die letzten Reserven für die Reichsverteidigung aufzubieten. Schon ab Anfang September 1944 war die Zivilbevölkerung – ähnlich wie die Angehörigen des weiblichen Reichsarbeitsdienstes – zu Schanzarbeiten für die vom Generalstab des Heeres erwünschte Wiederherstellungder alten Befestigungsanlagen an der Ost- und Westgrenze (Westwall) zwangsverpflichtet worden. Mit der Durchführung dieser Schanz- und Baumaßnahmen waren die NSDAP-Gauleiter als Reichsverteidigungskommissare beauftragt worden. Um die Grenzbefestigungen überhaupt personell besetzen zu können, wurde schließlich der „Deutsche Volkssturm“ als eine Art Landsturm früherer Zeiten aufgestellt. Er sollte die in den bedrohten Ostprovinzen zur Front abgezogenen Festungstruppen ersetzen sowie Panzersperren errichten und Sicherungsdienste übernehmen.

Da Hitler den militärischen und staatlichen Dienststellen schon seit längerer Zeit misstraute, beauftragte er den „Sekretär des Führers“, den neuen mächtigen Mann in der Parteizentrale, NSDAP-Reichsleiter Martin Bormann3, mit der Aufstellung des Deutschen Volkssturms als Parteiformation im gesamten Reichsgebiet. Fanatischer Wille war Hitler bei der Reichsverteidigung wichtiger als militärische Erfahrung. Die Führer des neuen Volkssturms sollten sich dann auch in erster Linie nicht durch militärisches Wissen und Können, sondern durch „Treue zum Führer und nationalsozialistische Standhaftigkeit“ ausweisen.4

Zum Einsatz im Deutschen Volkssturm wurden alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren aufgerufen. In seiner Proklamation zur Gründung des Volkssturmes machte Hitler verlogen und fälschlicherweise das „Versagen aller europäischen Verbündeten“ dafür verantwortlich, dass der Gegner nunmehr „in der Nähe oder an den deutschen Grenzen“ stehe.5 Es gelte deshalb, dem „jüdisch-internationalen Feind den totalen Einsatz aller deutschen Menschen entgegenzusetzen“ und einen unerbittlichen Kampf überall dort zu führen, „wo der Feind den deutschen Boden betreten will“.

Hitlers Erlass vom 25. September 1944 wurde aus Propagandagründen jedoch erst anlässlich des Jahrestages der Völkerschlacht von Leipzig am 18. Oktober 1944 publik gemacht und zwei Tage später offiziell verkündet, als die ersten Volkssturmverbände bereits wirksam in Erscheinung treten konnten; denn auf die Propaganda kam es den Nationalsozialisten sehr an. Mit nationalem Pathos und Fanfarenstimme proklamierte Goebbels dann auch die dem Dichterwort von Theodor Körner entnommene Losung: „Nun Volk steh auf, Sturm brich los!“ Ebenso wurde die Aufstellung des Volkssturmes von der Reichspost durch eine Sonderbriefmarke mit dem besonderen Motto „Ein Volk steht auf“ (vgl. Abb. 3, S. 46) und von der Ufa-Filmgesellschaft durch den Durchhaltefilm „Kolberg“, der den verzweifelten Endkampf der Zivilbevölkerung einer eingeschlossenen Stadt heroisierte, propagandistisch unterstützt.

Die NS-Führer Bormann, Himmler und Sauckel propagierten in ihren Reden und Aufrufen den Volkssturm sogleich als „letztes und entscheidendes Aufgebot“6 für den seit Kriegsbeginn von 1939 nunmehr anstehenden „zweiten Großeinsatz“ des ganzen deutschen Volkes. Der Kampf der NS-Volksgemeinschaft sollte „mehr und mehr den Charakter eines geschichtlich beispiellosen Volkskrieges annehmen“, wie der NSDAP-Gauleiter Robert Wagner anlässlich des Vereidigungsappells des ersten Volkssturmbataillons aus Baden-Elsass in Straßburg am 12. November 1944 erklärte.7

Nach den Plänen der Partei wurden vier altersmäßig und waffentauglich bedingte Aufgebote des Volkssturms aufgestellt8: Das erste Aufgebot umfasste alle tauglichen und waffenfähigen Männer der Jahrgänge 1884 bis 1924. Die aus ihnen gebildeten Volkssturmbataillone konnten auch außerhalb des Heimatgaus eingesetzt werden. Das zweite Aufgebot bildeten die bisher noch am Arbeitsplatz in der Heimat verbliebenen sogenannten „uk (unabkömmlich)-gestellten“ Männer von 25 bis 50 Jahren. Das dritte Aufgebot betraf die Jahrgänge 1925 bis 1928, soweit deren Angehörige nicht schon bei der Wehrmacht oder Waffen-SS Dienst taten. Der Jahrgang 1928 (16 Jahre) sollte bis zum 31. März 1945 in den Wehrertüchtigungslagern der Hitlerjugend (= HJ) und des Reichsarbeitsdienstes (= RAD) militärisch ausgebildet werden. Das vierte Aufgebot umfasste alle Männer, die zum Waffendienst untauglich waren, jedoch für Wach- und Sicherungsaufgaben herangezogen werden sollten. In der Regel wurden in den nächsten Monaten aber nur die beiden ersten Aufgebote gebildet und aufgestellt.

Reichsleiter Bormann wachte eifersüchtig darüber, dass der Volkssturm eine Angelegenheit der Partei und deren Gliederungen blieb. Die einzelnen NSDAP-Gauleiter, die SA-Führung unter SA-Stabschef Wilhelm Schepmann und die Führung des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps unter NSKK-Korpsführer Werner Kraus hatten die Aufstellung und Ausbildung durchzuführen. Die Parteikanzlei verstand den jeweiligen Gauleiter als „unbeschränkten Herrn“ und „obersten Gerichtsherrn“9 der Volkssturmbataillone seines Gaues. Dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, der nach dem Attentat Graf Stauffenbergs vom 20. Juli 1944 von Hitler als neuer Befehlshaber des Ersatzheeres eingesetzt worden war, oblagen Bewaffnung, Ausrüstung und Kampfeinsatz. Erst im letzten Moment des Einsatzes sollten die Volkssturmeinheiten unter den jeweiligen Kampfauftrag der Wehrmacht treten.

Mit der Bewaffnung des Volkssturms war es allerdings nicht weit her. Es war zum Jahresende 1944 unmöglich, die fast sechs Millionen volkssturmpflichtigen Männer ausreichend auszurüsten. Für die beiden ersten Aufgebote wären etwa vier Millionen Karabiner (98 K) und über 200 000 Maschinengewehre notwendig gewesen. Doch woher sollten diese Waffen kommen? Nachdem viele Produktionsstätten in Feindeshand gefallen waren und das Verkehrs- und Transportsystem durch die ständigen alliierten Bombenangriffe weitgehend zerschlagen war, konnte seit Januar 1945 nicht einmal mehr der Ersatzbedarf an Waffen für die Wehrmacht gedeckt werden. Zahlreiche Volkssturmeinheiten waren folglich nur mit Jagd- und Sportflinten oder mit veralteten italienischen, belgischen oder sonstigen Beute-Waffen aller Art ausgestattet. Munition und schwere Infanteriewaffen fehlten fast immer. Zum Teil standen nur fünf bis zehn Schuss Munition pro Mann zur Verfügung.

Um den Waffenmangel notdürftig zu beheben, wurde mit der Produktion eines neuen, vereinfachten und aus Blechteilen gebauten „Volksgewehrs“ und einer materialsparenden „Volksmaschinenpistole“ begonnen sowie eine „Volkshandgranate“ entwickelt. Relativ günstig war dagegen die Ausstattung mit den neu entwickelten Panzernahbekämpfungsmitteln „Panzerfaust“ und „Ofenrohr“. Der Volkssturm wurde dann auch in der Propaganda als spezielles Panzerjägerkommando herausgestellt: Mut und Panzerfaust würden jeden Panzer besiegen, so ließ Goebbels großsprecherisch verkünden.

Weil zudem keine Uniformen mehr vorhanden waren, mussten viele Volkssturmsoldaten ihren Dienst – auch im Kampfeinsatz – in Zivil versehen. Durch eine Armbinde mit dem Aufdruck „Deutscher Volkssturm – Wehrmacht“ waren sie wenigstens als Kombattanten im Sinne des Kriegsvölkerrechts entsprechend der Haager Landkriegsordnung von 1907 gekennzeichnet und konnten im Falle einer Gefangennahme die vertragsgemäße Behandlung nach dem Völkerrecht erwarten.

Um die kümmerliche Ausstattung des Volkssturms zu verbessern, ließ Bormann vom 7. bis 28. Januar 1945 eine Volksopfer-Sammlung durchführen. Die Bevölkerung solle „ihr Letztes“ (wie z. B. Altspinnstoffe, Wäscheteile und Kleidungsstücke aller Art, alte Schützenuniformen und Uniformteile, Schuhe und private Zelte, Kochgeschirre und Ferngläser) abgeben. In der Bevölkerung stieß der Volkssturm-Aufruf auf zwiespältige, die unzureichende Bewaffnung überwiegend auf kritische Reaktion. Ironisch erzählte man sich unter der Hand, dass mit dem Taschenmesser oder der Sense wohl kaum erfolgreich gegen moderne Kampfpanzer oder viermotorige Bomber zu kämpfen sei.

Der Volkssturm konnte denn auch gegen die hohe Schlagkraft der überlegenen und modern ausgerüsteten alliierten Truppen wenig ausrichten. Bedingt durch die mangelhafte Bewaffnung, Ausrüstung und viel zu kurze Ausbildung war sein Kampfwert relativ gering. Die Mobilisierung von Kranken, Jugendlichen und Unausgebildeten war keine Kriegführung im bisherigen Sinne mehr, eher ein unverantwortliches Hinführen zur „Schlachtbank“ des Krieges. Schon im Dezember 1942 hatte Hitler davon gesprochen, dass er notfalls die 14-jährigen einziehen lassen werde, denn es „wäre immer noch besser, sie fielen im Kampf gegen den Osten als daß sie bei einem verlorenen Kriege zermartert oder in niedrigster Sklavenarbeit zerschunden würden“.10 Die NS-Führung ging bei ihrer Vorstellung vom „Volkskrieg“ nach wie vor von dem Wunschdenken aus, den bereits verlorenen Kampf für eine bestimmte Zeit weiterführen zu können, um dadurch das Erscheinen neuer „Wunderwaffen“ oder die veränderte politische Situation nach dem erhofften Zerwürfnis zwischen den Westalliierten und Moskau abwarten zu können. Zudem konnten die waffenfähigen Männer durch die Einberufung zum Volkssturm als Potenzial für einen Umsturzversuch gegen das NS-Regime in der Heimat „neutralisiert“ und vielmehr für die eigenen Zwecke gebunden werden.

Im Osten kam es infolge des schnellen Vorstoßes der Roten Armee ab Jahresanfang 1945 zum vorzeitigen und überstürzten Einsatz der seit Oktober 1944 aufgestellten, jedoch noch immer unzureichend ausgebildeten und ausgerüsteten Volkssturmbataillone. Dennoch vollbrachten sie dort erstaunliche Leistungen. Während die Volkssturmeinheiten im Osten wesentlich dazu beitragen konnten, den raschen Durchbruch der Sowjetarmee auf Berlin zu verhindern, wirkte sich ihr Einsatz im Westen in keiner Weise verzögernd auf die Operationen der Alliierten aus, obwohl den Volkssturmeinheiten dort längere Ausbildungszeiten zur Verfügung gestanden hatten und sie frühzeitig in die Heeresverbände eingegliedert worden waren.

Angesichts der offenkundigen Material- und Personalüberlegenheit der Angloamerikaner wurde besonders im Westen die weitere Zerstörung der Heimat durch fortgeführte Kampfhandlungen als sinnlos und der rasche Einmarsch der Westalliierten sogar als wünschenswert angesehen. Viele auf sich allein gestellte Volkssturmeinheiten lösten sich beim Erscheinen des Feindes und nach Verlust des heimatlichen Wohngebietes auf.

In den letzten Kriegswochen ließ im gesamten Reichsgebiet die Begeisterung für den „fanatischen Endkampf“ sehr rasch nach. Der Sicherheitsdienst der SS konstatierte in seinen letzten Stimmungsberichten und „Meldungen aus dem Reich“ von Ende März 1945: „Die eingehenden Meldungen lassen ein Umsichgreifen der Vertrauenskrise zur Führung erkennen [. . .] Die Zweifel an der Führung nehmen auch die Person des Führers nicht aus.“11

1945

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