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Hitlers Krieg

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Die kriegerische Machterweiterung blieb dabei das eigentliche Ziel, denn der Krieg machte diplomatisches Taktieren, alle lästigen Kompromisse und Rücksichten überflüssig, versprach schnellsten und größten Gewinn. Aber obwohl das NS-Regime den Gewaltkult in jeder Form gepredigt und verherrlicht hatte, war die deutsche Bevölkerung – gerade nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges – nicht so leicht und schnell wieder in eine Kriegsbegeisterung zu versetzen.

Auch wenn Hitler und seine Partei nach den scheinbar glänzenden außenpolitischen und ökonomischen Erfolgen der dreißiger Jahre an Popularität alle vorangegangenen Regierungen übertrafen – der beabsichtigte Krieg war 1938 nicht populär in Deutschland. Selbst die Militärs hielten die Zeit noch nicht für gekommen. Sie scheuten das überstürzte Kriegsabenteuer, dessen Ausgang ihnen höchst ungewiss erschien. Bremsen konnten sie den Diktator auf seinem Weg in den Krieg freilich nicht; letztlich fehlte ihnen doch der Schneid, um ihre zeitweiligen Putschpläne zu verwirklichen.

Im Sommer 1939 zeigte sich Hitler entschlossen, endlich die Waffen sprechen zu lassen, die er sich in einer wahnwitzigen und wirtschaftlich ruinösen Aufrüstung von nur wenigen Jahren beschafft hatte. Polen sollte das erste Opfer sein, dann würde man weitersehen, ob zunächst die Westmächte geschlagen werden mussten, oder ob die Wehrmacht gleich nach Osten weitermarschieren konnte. Dort in den Weiten Russlands lag der ersehnte „Lebensraum im Osten“, dessen Eroberung und Kolonisierung die Grundlage für eine deutsche Weltmachtposition liefern sollten.3

Der Nichtangriffspakt mit Stalin im August 1939 war der wohl größte politische Überraschungscoup dieses Jahrhunderts gewesen. Mit der Rückendeckung seines langjährigen Erzfeindes konnte Hitler endlich den lang ersehnten Krieg beginnen. Die militärische Niederwerfung und Auslöschung des verhassten polnischen Staates wurden – wie erwartet – zur Blitzaktion; gleichwohl zögerten die Generale, sofort danach im Westen anzugreifen. An weitere schnelle Siege wollten sie nicht glauben. Ein internationaler Kräftevergleich unter Einbeziehung der USA verhieß im Falle eines langen Abnutzungskrieges angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges nichts Gutes. Die eigene Rüstung schien auf schwachen Beinen zu stehen.

So wurde die Westoffensive immer wieder verschoben, obwohl Hitler düstere Vorahnungen und das Gefühl des Zeitdrucks plagten. Wieder heraus aus dem Krieg wollte er auf keinen Fall, und da er um die „widerwillige Loyalität“ der deutschen Bevölkerung4 besorgt war, bemühte er sich, die Belastungen des Krieges so gering wie möglich zu halten. Die rücksichtslose Ausbeutung der besetzten polnischen Gebiete und eine nur zögerliche, immer wieder abgebremste Mobilisierung der eigenen Rüstungskapazitäten schufen in Deutschland eine gespenstische „friedliche“ Atmosphäre für fast zwei Jahre.

Engländer und Franzosen blieben im „drôle de guerre“ oder, wie die Deutschen sagten, im „Sitzkrieg“, fast ein halbes Jahr lang in ihren Bunkern und Stellungen fast wie gelähmt auf den tödlichen Schlag wartend. Im April/Mai 1940 war es dann soweit. In einem beispiellosen Siegeszug von Narvik bis zur Biskaya machte die Wehrmacht Tabula rasa, zerstörte sie das damals stärkste Militärpotenzial der Welt – die französische Armee sowie das britische Expeditionskorps.5 Einen ernsthaften Gegner gab es danach – so glaubte man im Generalstab – auf dem europäischen Kontinent nicht mehr. Die Rote Armee war nach ihrer „Enthauptung“ durch Stalin, der Verhaftung und Ermordung von mehr als 50 000 Offizieren zwischen 1937 und 1940, kein ernstzunehmender Faktor.

Die Briten hatte man nach den siegreichen Feldzügen im Westen sowie in Dänemark und Norwegen an die Peripherie gedrängt, und nur zu gern hätte sich Hitler mit ihnen auf eine Teilung der Welt geeinigt, die ihm die Herrschaft über den Kontinent und den Angelsachsen die Kolonien in Übersee beließ. Aber in Winston Churchill, dem Nachfolger von Arthur Neville Chamberlain als britischer Premierminister, hatte er einen Gegenspieler gefunden, der nicht bereit war, Europa den „Nazi-Bestien“ auszuliefern6 und sich – so wie Stalin ein Jahr zuvor – mit Hitler zu verständigen. Fast ein Jahr lang stand Großbritannien allein und musste schwere Rückschläge hinnehmen. Aber der Kampf um die Luftherrschaft über England im Herbst 1940 wurde zur ersten und vermutlich entscheidenden Niederlage Hitlers. Eine Landung auf der Insel kam danach vorerst nicht mehr in Betracht. Die USA begannen gerade erst mit ihrer Aufrüstung und mussten aber längerfristig immer stärker ins Kalkül einbezogen werden. Präsident Roosevelt hatte zwar Mühe, seine isolationistisch eingestellte Bevölkerung von der Notwendigkeit eines Kriegseintritts zu überzeugen, zeigte sich aber entschlossen, die ungeheuren Ressourcen der USA zur Verteidigung der demokratischen Werte einzusetzen.

So ließ Hitler keine Zeit versäumen und bereitete auf dem Höhepunkt seines Triumphes den nächsten, wie er meinte, entscheidenden Schlag vor. Während die Truppen in Paris einmarschierten, hatte der Generalstab schon von sich aus mit Planungen für einen Angriff gegen die Sowjetunion begonnen. Daraus wurde in den nächsten Monaten die Vorbereitung des größten Feldzuges der Weltgeschichte, mit mehr als drei Millionen Soldaten, 500 000 Kraftfahrzeugen und der gleichen Anzahl von Pferden.7

Die kurzfristig improvisierten Feldzüge auf dem Balkan und gegen Griechenland im April 1941 verbesserten Hitlers Ausgangslage und Stellung in Europa, sicherten die Gefolgschaft einer Reihe von Staaten, die vom großen Raubzug des Dreimächtepaktes Deutschland-Italien-Japan zu profitieren hofften. Das Eingreifen in Südosteuropa und im Mittelmeerraum erwies sich als notwendig, um die Briten auf Distanz zu halten und den schwächelnden italienischen Bundesgenossen zu unterstützen. Die sich hier bietenden militärischen Chancen stärker zu nutzen, lehnte Hitler ab. Der Überfall auf die UdSSR hatte nach seiner persönlichen Entscheidung Vorrang.

Auf Japans direkte Mitwirkung gegen die Sowjetunion glaubte Hitler verzichten zu können. Die Soldaten des japanischen Kaisers sollten die USA im Pazifik beschäftigen. In den künftigen deutschen Ostkolonien hatten nach Hitlers Ansicht – bei aller „Freundschaft“ – Asiaten nichts zu suchen. Dort wollte er allein entscheiden und walten können.

Das „Unternehmen Barbarossa“ bildete den Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges: Der europäische Krieg entwickelte sich zum Weltkrieg, und der Krieg selbst löste alle Fesseln von Humanität und Völkerrecht. Es begann eine Orgie von Gewalt und Vernichtung, der blutigste Kampf der Weltgeschichte, der das 20. Jahrhundert in eine neue Richtung stieß. Aber der geplante „Blitzkrieg“ im Osten, mit dem Hitler den Durchbruch zur Weltmacht erzwingen wollte, war bereits nach wenigen Wochen – gemessen an den Zielsetzungen – gescheitert.

Die deutsche Wehrmacht geriet in einen erbarmungslosen Abnutzungskrieg. Mit der Niederlage vor Moskau im Dezember 1941 und dem gleichzeitigen Kriegseintritt der USA wurde offenkundig, dass der „Endsieg“ in weite Ferne rückte. Und so überfielen Hitler düstere Vorahnungen, schürten zugleich aber auch seine Entschlossenheit zum „Durchhalten“ um jeden Preis. Wenn, wie er meinte, ein „Patt“ der Kräfte erreicht worden war, so kam es aus seiner Sicht darauf an, die Nerven zu bewahren, alle noch brachliegenden Kräfte zu mobilisieren und dem Gegner so schwere Verluste beizubringen, dass am Ende die Feindkoalition erlahmen würde. Hitler war bereit, dafür notfalls auch Frauen und Kinder zu opfern sowie alle Brücken hinter sich abzubrechen. Einen politischen Weg aus dem Krieg sah Hitler, anders als manche seiner engsten Gefolgsleute, jedenfalls nicht.

Für welches Kriegsziel sollten also die Deutschen kämpfen und sterben? Die Verheißung einer neuen Siedlungspolitik im Osten verlor angesichts des erbitterten Widerstandes der Roten Armee rasch ihre Attraktivität.8 So blieb nur das antibolschewistische Feindbild, die Beschwörung der Gefahr aus dem Osten. In der „Festung Europa“ sollten die Deutschen den Ansturm der Feinde erwarten und ausharren, bis die Genialität des „Führers“, die „Vorsehung“ oder neue „Wunderwaffen“ die Wende des Krieges bringen würden. Der unbedingte Glaube an Adolf Hitler sollte also die wachsenden Zeichen einer drohenden Niederlage vertreiben.

Neue Offensiven, der Griff nach dem lebenswichtigen kaukasischen Öl – alles scheiterte trotz hoffnungsvoller Ansätze unter den Schlägen der übermächtigen Feindkoalition. Die Initiative ging verloren; politisch war sie schon im Frühjahr 1941, militärisch spätestens seit der Katastrophe von Stalingrad im Winter 1942/43 verspielt. Mit der alliierten Luftoffensive kam der Krieg seit 1943 immer stärker auch nach Deutschland. Städte und Industrieanlagen wurden mit seinen Spuren überzogen.

Über alle Krisen hinweg aber gelang es Hitler, die große Mehrheit seiner Untergebenen und Handlanger, der Minister, Funktionäre und Generale an seinen Willen zum Durchhalten zu binden. Anders als im Ersten Weltkrieg entwickelten die deutschen Führungseliten wie die Bevölkerungsmassen keine Alternative zum Kriegskurs, setzte die stille Sehnsucht nach Frieden vieler sich nicht in politische Aktion um. Nur wenige fanden sich zum Widerstand gegen Hitler bereit9; dies war ein hoffnungsloses Unterfangen angesichts des noch immer effizienten Unterdrückungsapparates und der erzwungenen Passivität der Bevölkerungsmehrheit. Die Stützen des Regimes, Partei, Staatsapparat, Wehrmacht, Wirtschaft und SS, demonstrierten unerschütterlich Treue zum „Führer“ und Bereitschaft zum „Durchhalten“. Die kleine Gruppe von Offizieren um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die schließlich am 20. Juli 1944 den Staatsstreich wagte, war isoliert und von Anfang an verloren. Einige Männer haben es geahnt und dennoch die Tat gewagt, um wenigstens das deutsche Ansehen zu retten.

Die Deutschen schafften es nicht, und die meisten wollten es wohl auch nicht, sich aus eigener Kraft von Hitler und seinem Regime zu befreien. Es bot sich ihnen keine Alternative an, seit die Alliierten 1943 eine bedingungslose Kapitulation gefordert hatten. So ging der Krieg auch nach der erfolgreichen Invasion der Alliierten vom Juni 1944 weiter, sogar noch als die geschlagene Wehrmacht auf die Reichsgrenzen zurückgetrieben wurde. Hitlers verzweifelte Bemühungen, die verschiedenen Fronten zu stabilisieren, waren auch im fünften Kriegsjahr vergeblich. So blieb ab Sommer 1944 nur noch die Hoffnung auf eine Zuspitzung der Krise im Feindlager, um die eigene Chance zu erhöhen und neue politische Konstellationen zu schaffen.

Sogar Hitlers fanatischste Gefolgschaft, Himmler und seine schwarzen SS-Schergen, hoffte, den Krieg zu überleben, versuchte selbst Friedenskontakte nach Ost und West zu knüpfen. Hitler freilich hielt von alledem nichts. Er wusste, dass keiner seiner Feinde mit ihm einen Waffenstillstand abschließen würde. Die Casablanca-Forderung nach bedingungsloser Kapitulation des Reiches (vgl. Dokument 11, S. 175) kündigte die Auflösung des Nationalsozialismus, die Sühne der beispiellosen Verbrechen des NS-Regimes sowie die völlige Entmachtung und das Ende des Bismarckschen Nationalstaates an. Hitler wollte nicht wie Kaiser Wilhelm II. ins Exil gehen. Sich rechtzeitig selbst zu opfern, um das eigene Volk zu retten bzw. durch einen Rücktritt womöglich das Regime zu bewahren kam ihm gar nicht erst in den Sinn. Während andere, auch in seiner unmittelbaren Umgebung, nach einem Ausweg aus der drohenden Niederlage suchten, blieb ihm nur die Inszenierung eines eisernen Willen: Sieg oder Untergang.

So suchte er stets nach militärischen Erfolgen und Vergeltung, obwohl die Abwehr der Invasion im Westen scheiterte und die Ostfront unter den Sommeroffensiven der Roten Armee im Juni 1944 zerbrach. Trotz örtlich und zeitlich begrenzter Abwehrerfolge sowie eines erstaunlich hohen Rüstungsausstoßes musste die Wehrmacht auf die Reichsgrenze zurückgehen. Im Dezember 1944 setzte Hitler noch einmal alles auf eine Karte. Der Vorstoß der mühsam zusammengekratzten Kräfte zur Schlacht in den Ardennen scheiterte jedoch.10 Hitler hatte endgültig verspielt. Die Alliierten setzten ab Jahresanfang 1945 zum Sturm auf Deutschland an. In ihrer Hand lag nun das Schicksal des Reiches, das schon längst zum bloßen Objekt bei ihren Tagungen und Konferenzen geworden war.

1945

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