Читать книгу 1945 - Rolf-Dieter Müller - Страница 20

Hitler will aus Deutschland eine Wüste machen

Оглавление

Wäre es allein nach Hitlers Willen gegangen, wären die Zahl der Toten und das Ausmaß der Zerstörungen bei Kriegsende allerdings noch erheblich größer gewesen. Denn er hatte einen teuflischen Plan gegen das eigene Volk ausgeheckt, um dessen verzweifelten Schlusskampf zu steigern und ihm keinen Ausweg zur Beendigung des Krieges zu lassen. Was hatte Hitler vor? Am 19. März 1945 verkündete er seinem Rüstungsminister Albert Speer, der an diesem Tag seinen 40. Geburtstag feierte: „Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf übrigbleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind gefallen!“19 Damit bezog Hitler deutlich Stellung gegen eine ihm gerade von Speer übergebene Denkschrift, die den endgültigen Zusammenbruch der Produktion in vier bis acht Wochen voraussagte, entsprechende politische Konsequenzen anmahnte sowie die Einstellung unnötiger weiterer Zerstörungen beim Rückzug verlangte.20

Am nächsten Morgen präzisierte Hitler seine düstere Ankündigung der staatlichen und ökonomischen Selbstzerstörung. Im berüchtigten „Nero“-Befehl vom 19. März 1945 ordnete er die totale Vernichtung des wirtschaftlichen Lebens in Deutschland an (vgl. Dokument 5, S. 165 f.).21 Alle Verkehrs, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sollten zerstört werden. Speer wurde teilweise entmachtet und die NSDAP-Gauleiter mit der Durchführung dieses „Nero“-Befehls beauftragt. Dies war das Prinzip „Verbrannte Erde“, wie es bereits seit 1943 bei den deutschen Rückzügen im Osten praktiziert worden war.22 Mehr als 250 000 Güterwaggons mit „Räumungsgut“ waren damals ins Reich geschafft, Hunderttausende als Zwangsarbeiter verschleppt worden; selbst Kinder wurden in spezielle Lager gebracht oder als Flakhelfer missbraucht. Man hatte dem Feind eine Wüste überlassen, und Hitler war fest entschlossen, mit Deutschland auch nicht anders zu verfahren.

Eigentlich wollte Speer, der Rüstungsminister des Dritten Reiches, der auch als Hitlers Lieblingsarchitekt dem „Führer“ so nahe stand wie kaum ein anderer in der NS-Hierarchie, mit seinem Vorstoß das Gegenteil von Hitlers Zerstörungsbefehl erreichen. Er hatte deshalb den Zeitpunkt seines 40. Geburtstages sorgfältig als günstige Übergabemöglichkeit der eigenen Denkschrift gewählt. Der Inhalt der Denkschrift war allerdings so brisant, dass sie dem Baumeister des deutschen „Rüstungswunders“ nicht nur die Sympathie seines väterlichen Freundes, sondern leicht auch das Leben kosten konnte.23 Andererseits gab sich Speer als treuer Anhänger seines „Führers“ und machte ihm Hoffnung, den Feind durch ein letztes Aufgebot an Rhein und Oder aufhalten zu können.

Am Vorabend hatte es eine stürmische Lagebesprechung im Bunker unter der Reichskanzlei gegeben, bei der es um die Verteidigung des Saargebietes ging. Hitler bestand trotz aller Einwendungen hartnäckig darauf, dass die Parteistellen die gesamte Saar-Bevölkerung zwangsweise evakuierten. Schon in den letzten Wochen war Speer bemüht gewesen, Hitlers häufige regionale Zerstörungsbefehle soweit wie möglich zu hintertreiben, um die industrielle Substanz und die Lebensmöglichkeiten für die Bevölkerung der betroffenen Gebiete über das bevorstehende Kriegsende hinaus zu erhalten. „Wir haben kein Recht dazu“, so schrieb er dann auch in seiner Denkschrift, „in diesem Stadium des Krieges von uns aus Zerstörungen vorzunehmen, die das Leben des Volkes treffen könnten.“24

Schon knapp drei Jahre zuvor, am Jahreswechsel 1941/42, hatte Speers Vorgänger, Fritz Todt, in einer ähnlich dramatischen Situation den „Führer“ beschworen, eine politische Beendigung des Krieges herbeizuführen, da nach dem militärischen Scheitern des „Unternehmens Barbarossa“ vor Moskau und dem Kriegseintritt der USA keine Aussicht mehr bestand, den Krieg zu gewinnen.25 Hitler hatte seinem damaligen Rüstungsminister erklärt, dass es einen politischen Ausweg nicht gab; es blieb nur der verzweifelte Kampf um Sieg oder Untergang. Todt kam bald darauf unter mysteriösen Umständen ums Leben, und mit der Einsetzung seines Architekten Speer als Rüstungsminister fasste Hitler wieder Mut.

Speer setzte mit großem Erfolg die eingeleiteten organisatorischen Änderungen Todts fort. Auch wenn seine Produktionsrekorde nicht immer das hielten, was Speer dem „Führer“ mit fantastischen Zahlen, Statistiken und Prognosen vorgaukelte, so blieb er doch der unersetzliche Organisator der deutschen Rüstung. Sein System der Selbstverwaltung der Wirtschaft, das den Unternehmern einen größtmöglichen Freiraum gab, um die gestellten Aufgaben zu erfüllen und sie vor Eingriffen der Wehrmacht, Partei und SS weitgehend schützte, hatte sich bewährt. Von den Ideologen war es wegen seiner erkennbaren Anlehnung an angloamerikanische Vorbilder in der Wirtschaftsordnung stets argwöhnisch betrachtet worden.26

Die deutsche Wirtschaft lieferte Hitler die Waffen zur Fortsetzung seines Krieges, obwohl dieser längst sinnlos geworden war und immer mörderischer wurde. Mehr als sieben Millionen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene arbeiteten unter teilweise unmenschlichen Bedingungen in Bergwerken und Fabrikhallen.27 Viele von ihnen fanden dabei den Tod. Speer wusste davon. Aber auch die deutsche Bevölkerung wurde in immer stärkerem Maße in den Produktionsprozess einbezogen. Bestandteil dieser Kriegswirtschaft war schließlich auch der „Sklavenstaat“ der SS.28 Millionen politisch Verfolgter und rassisch „Minderwertiger“ gingen dort ihrer „Vernichtung durch Arbeit“ im Rahmen der Kriegsproduktion entgegen. Die deutsche Industrie war darin tief verstrickt. Es gab aber auch Konflikte, da die SS im Verständnis Speers „unrationell“ arbeitete und mit ihrem Machtanspruch eine zunehmende Bedrohung des Rüstungsministers und seiner Schützlinge darstellte.

Im Herbst 1944 zeichnete sich der wirtschaftliche Zusammenbruch bereits in aller Deutlichkeit ab: Zunehmende Produktionsausfälle, ein dem Zerfall preisgegebenes Verkehrssystem, monatlich fast 25 000 total zerstörte Wohngebäude durch den Luftkrieg, Millionen Menschen, die alles Hab und Gut verloren hatten, und ein immer größerer Mangel an lebenswichtigen Versorgungsgütern.

Die zentrale Lenkung der Wirtschaft wurde daraufhin gelockert, die einzelnen Regionen des Reiches sich selbst überlassen und durch Bevollmächtigte und Einsatzstäbe wirtschaftlich verwaltet. Sogar der Schwarze Markt, auf dem sich die Not leidende Bevölkerung versorgte, wurde nun amtlich toleriert. Die Lösung hieß nicht mehr Konzentration auf die leistungsfähigsten Großbetriebe, sondern Streuung der Rüstungsproduktion auf zahlreiche kleine und kleinste Fertigungsbetriebe sowie Mobilisierung der Heimarbeit. Auch Lazarettinsassen wurden eingespannt. In unterirdischen Anlagen wurden die wichtigsten Waffen montiert. Hunderte von mittelständischen Betrieben der Gebrauchsgüterindustrie in wenig luftkriegsgefährdeten Gebieten entgingen auf diese Weise der drohenden Stilllegung. Statt Betten wurden Munitionspackgefäße, statt Haushaltsgeräte Panzerfäuste produziert.29

Der Zusammenbruch der Kohleversorgung beendete aber nicht nur diese letzten Anstrengungen, sondern verschärfte zugleich auch die schlechten Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit.30 Am stärksten betroffen waren die Ausgestoßenen der „Volksgemeinschaft“, politische Gefangene, Häftlingen in den Konzentrationslagern, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die auf der untersten Stufe des Versorgungssystems standen.

Im Februar und März 1945 befand sich die deutsche Wirtschaft bereits in tiefer Agonie. Das Millionenheer der Flüchtlinge aus dem Osten brachte neues Elend. Während im „Führerhauptquartier“ noch immer fiktive Rüstungspläne geschmiedet wurden, kämpften die Arbeiter in den Betrieben, die Landbevölkerung, die Opfer des Bombenkrieges und der ersten Vertreibungen einen verzweifelten Kampf ums Überleben.31

Die Industriellen und Wirtschaftsführer bereiteten sich auf diese Situation schon seit Monaten vor. Von den einzelnen Betrieben und Branchen ausgehend, hatten sich im vorausgegangenen Jahr verschiedene Gremien mit dem Problem des Übergangs von der NS-Kriegswirtschaft zur Friedenswirtschaft befasst.32 Man suchte nach Lösungen, um jeden abrupten Bruch zu vermeiden und das Abkoppeln vom Nationalsozialismus langsam zu vollziehen. Die Bewahrung der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, das zeigten die Erfahrungen des Zusammenbruchs am Ende des Ersten Weltkrieges und der nachfolgenden Revolution deutlich, hing entscheidend davon ab, dass es gelang, die wirtschaftlichen Probleme nach Kriegsende rasch in den Griff zu bekommen.

Schwierigste Bereiche waren die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen sowie die Schuldenkonsolidierung. Mit der aufgestauten, verdeckten Inflation war praktisch die Vermögenssubstanz des deutschen Volkes aufgezehrt. Überall stießen die Planer, unter ihnen auch der spätere „Vater des westdeutschen Wirtschaftswunders“, Ludwig Erhard33, auf die dominante Rolle der USA. Ohne Hilfe von außen, soviel war sicher, würde es keine Chance geben, sich aus der dirigistischen Zentralverwaltungswirtschaft zu lösen und den Weg in eine freie Wirtschaftsform zu finden. Obwohl Erwägungen auf US-Seite, Deutschland nach dem Plan des Finanzministers Henry Morgenthau rücksichtslos in ein reines Agrarland zu verwandeln34, durchaus ernst zu nehmen waren und damit gerechnet werden musste, dass sich die Sowjetunion einen Anteil an der politisch-wirtschaftlichen Neuordnung Deutschlands sichern würde, waren doch zumindest die materiellen Voraussetzungen für ein Überleben der gewachsenen Wirtschaftslandschaft nicht ungünstig. Denn der Rüstungsboom hatte innerhalb der deutschen Wirtschaft einen enormen Modernisierungs- und Konzentrationsschub bewirkt. Zukunftsorientierte Branchen wie Elektrotechnik und Chemie hatten sich stark entwickeln können. Das Facharbeiterpotenzial war vergrößert worden und rationelle Fertigungsmethoden wie die Fließbandproduktion hatten sich durchgesetzt. Der Schaden, den der Bombenkrieg der Alliierten anrichtete, wurde durch die Erweiterungen der Produktionsanlagen wettgemacht, sodass die Industrie insgesamt nur auf den Stand von 1939 zurückgeworfen wurde.35

Die anderen europäischen Industrien jedoch, soweit sie unter deutscher Herrschaft gestanden hatten, waren durch Stilllegungen, Zerstörungen und Ausschlachtungen für deutsche Zwecke erheblich schwerer betroffen. Damit konnte die Überlegenheit der deutschen Industrie als gefestigt in die Nachkriegsplanungen einkalkuliert werden. Wenn es zudem gelang, die mit den USA nach dem Ersten Weltkrieg geknüpfte Partnerschaft auch nach dem Zweiten Weltkrieg aufzunehmen, boten sich also günstige Aussichten.

Auch die sich abzeichnende Aufteilung Deutschlands in mehrere Besatzungszonen der Siegermächte barg keinen lähmenden Schrecken, da Art und Dauer noch nicht absehbar waren. Die Dezentralisierung der Kriegswirtschaft nahm die Selbstständigkeit einzelner Regionen quasi teilweise schon vorweg, erhöhte unternehmerische Spielräume und sicherte sie gegen die Einwirkung von Partei, Staat und Wehrmacht, da Unternehmer gleichsam die Verantwortung für ganze Wirtschaftsregionen übernahmen. Bereits im Geheimen verliefen Bemühungen, Anlagen und Betriebsteile der Rüstungsfertigung, die von einer späteren feindlichen Demontage bedroht waren, abzustoßen, um nicht das Gesamtunternehmen zu gefährden. Parallel dazu wurden wehrmachtseigene Betriebe getarnt privatisiert, um eine Beschlagnahme durch den Feind zu verhindern, und Vermögenswerte ins neutrale Ausland verschoben. Es gab sogar eine partielle Wiederaufnahme der zivilen Fertigung, wie z. B. beim Bau von Landmaschinen.

Über diese stille Umorientierung auf den Frieden, zu einem Zeitpunkt, als die Rüstungsproduktion einen ungeahnten Höhepunkt erlebte, gibt es bislang nur wenige Untersuchungen. Die Indikatoren für einen solchen Prozess sind aber deutlich zu erkennen. So konnte z. B. die angeordnete Untertageverlagerung der wichtigsten Rüstungsanlagen, obwohl die Aktion in enger Zusammenarbeit mit der SS erfolgte, von der Industrie genutzt werden, um den wertvollen Maschinenpark zu vergrößern und über den Krieg zu retten, ohne die Rüstungsziele des Diktators zu erfüllen.36 Dazu gehörten auch Bemühungen, die Betriebe möglichst lange durch Rüstungsaufträge intakt zu halten, Rohstoffe trotz Strafandrohungen zu horten und bei Betrieben im Operationsgebiet Zerstörungen durch die Sprengtrupps der Wehrmacht zu verhindern. Speer wusste die Betriebsführer hinter sich. Im Bereich der Wehrmachtsstellen und vor allem im Einflussgebiet der NSDAP-Gauleiter als Reichsverteidigungskommissare konnten Hitlers Vernichtungsbefehle jedoch verheerende Auswirkungen zur Folge haben. Es kam deshalb darauf an, das in allerletzter Minute beabsichtigte Inferno zu verhindern.37 Tatsächlich gelang es Speer und anderen Stellen – teilweise durch einschränkende eigene Anordnungen –, die Durchführung des Hitlerschen Vernichtungsbefehls größtenteils zu verhindern. Aber es blieb für die Betroffenen und Engagierten bis zum Ende ein riskantes Spiel.

Bis in den April 1945 hinein verfügte der Diktator zudem über ein weiteres Mittel im Kampf für den erträumten „Endsieg“, das die Wirkung von herkömmlichem Sprengstoff bei weitem übertraf: Das ungeheure Arsenal chemischer Kampfstoffe, deren Einsatz den Untergang Deutschlands wohl tatsächlich herbeigeführt hätte. Aber solange sich Hitler in seinem Bunker in Berlin an die Hoffnung einer eigenen letzten Überlebenschance klammerte, zögerte er, diesen Einsatz zu wagen. Als es dann schließlich zu raschen Zerfalls- und Auflösungserscheinungen im Partei- und staatlichen Bereich sowie zum Zusammenbruch der inneren Ordnung des NS-Staates kam und Hitler in der eingeschlossenen Reichshauptstadt den Tod ins Auge fassen musste, war diese letzte furchtbare Waffe nicht mehr einsatzbereit und das Leben der deutschen Bevölkerung sowie seine Existenzgrundlagen gerettet.38

1945

Подняться наверх