Читать книгу Eine Blau-Weisse Autobiografie "5:04" – Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben - Rolf Rojek - Страница 17

1984 – Zu Besuch bei Olaf Thon.

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Die Bayern kommen! Am 27. Oktober 1984, es war der 10. Spieltag, waren die Bayern wieder zu Gast im Parkstadion in Gelsenkirchen. Nein, wir haben das Spiel nicht wie so oft gegen die Bayern verloren, aber wir haben auch nicht gewonnen. In der 31. Minute brachte Klaus Augenthaler die Bayern mit 1:0 in Führung, aber in der 79. Minute konnte Bernhard Dietz den Ausgleich zum 1:1 Endstand erzielen.

Ich hatte wie zu jedem Heimspiel für unsere Mitglieder einen Bus von Saerbeck nach Gelsenkirchen organisiert. Klar, gegen Bayern einen Bus voll zu bekommen war wirklich keine Kunst. Denn so wie heute, waren auch früher die Spiele gegen die Lederhosen immer ausverkauft. Und weil die Nachfrage zu diesem Spiel so groß war, habe ich einen alten Gelenkbus für über 70 Personen organisiert: Keine Toilette, keine Klimaanlage, keinen Luxus, dafür aber viele Plätze für wenig Geld.

Normalerweise braucht ein Bus für die 104 Kilometer von unserem Vereinslokal „Dorfkrug“ in Saerbeck bis zum Busparkplatz am Parkstadion, wenn es alles gut läuft, etwa anderthalb Stunden. An diesem Tag haben wir mehr als zwei Stunden benötigt, da wir vier Pinkelpausen einlegen mussten. Und jeder, der zum Fußball fährt, weiß was das bedeutet. 70 feiernde Fußballfans nach jeder Pinkelpause wieder in den Bus zu bekommen, das ist ein Akt.

Wir sind damals immer über die A52 bei Marl nach Gelsenkirchen gefahren, da wir von hier aus besser zur Braukämperstraße 79 kamen. Genau, mein altes Zuhause, hier wohnten meine Eltern. Mutti und Vati haben während wir auf Schalke waren, auf unsere beiden kleinen Töchter Susi (7) und Melanie (4) aufgepasst. Thomas, unser Ältester, war schon immer mit im Stadion. An normalen Spieltagen lief es meist wie folgt ab: Opa Franz stand schon immer wartend auf der Straße. Der Bus rollte langsam an, hielt und öffnete die Tür. Ich stieg aus und hatte Susi und Melanie an der Hand. Ein kurzes »Hallo« zum Vater, anschließend habe ich ihm schnell eine Tasche mit all den wichtigen Dingen, die man als „Babysitter“ benötigt, übergeben, bin wieder eingestiegen und Abfahrt. Wenn die Formel 1 heute einen Reifenwechsel in 2,8 Sekunden schafft, waren wir mit gefühlten 20,8 Sekunden nicht schlecht. Da wir diesmal viele neue Mitfahrer dabeihatten, ließ ich den Bus etwas länger an der Straße stehen und zeigte auf das Haus, in dem meine Eltern lebten. Dann ergänzte ich, dass meine Eltern oben in der vierten Etage wohnten, genau da, wo gerade meine Mutter aus dem Küchenfenster die „Kinderübergabe“ anschaute. Ja, da oben wohnte ich viele Jahre. Aber: »Da unter uns, also ganz unten, da wohnte ein Star, da wohnte Olaf Thon.« Die Fans waren aus dem Häuschen und drückten ihre Nasen an den Fensterscheiben platt, trommelten mit den Fäusten dagegen und sangen wie bekloppt „Olaf Thon, Olaf Thon, Olaf Thon!“ Mag sein, dass die überschwängliche Begeisterung auch am Alkoholkonsum lag, immerhin wurde auf den 104 km doch schon das eine oder andere Bier getrunken. Auf den restlichen 3 Kilometern von der Braukämperstraße bis zum Parkplatz am Stadion habe ich den Fans noch die Geschichte erzählt, als der kleine Olaf früher meine Riesenfahne schwenken wollte.

Zum Spiel gegen die Bayern gibt es nicht viel zu sagen, wir haben 1:1 gespielt …

Während heute die meisten Fan-Clubs so schnell wie möglich vom Busparkplatz verschwinden wollen und teilweise sogar richtig böse werden, wenn es einmal länger dauert, war das früher noch ein bisschen anders. Man hat sich mit den anderen Fan-Clubs an den Bussen unterhalten und noch gemeinsam ein Bierchen getrunken. Oft wurden auf dem Busparkplatz auch Fahrgemeinschaften zum nächsten Auswärtsspiel gebildet. Es wurde noch viel miteinander gesprochen, vielleicht, weil es WhatsApp oder E-Mail noch nicht gab.

Wir waren mit unserem Bus aus Saerbeck häufig unter den letzten, die vom Parkplatz rollten. Diesmal drängte ich jedoch auf eine schnellere Rückfahrt, da ich mit Grauen an die zahlreichen Pinkelpausen dachte, die uns auf der Rückfahrt nicht erspart bleiben würden. Also ging es nach dem Spiel gegen Bayern schnell wieder in Richtung Braukämperstraße, um unsere beiden Töchter einzusammeln. Opa Franz wartete bestimmt schon ungeduldig auf uns. Und ja, vom weiten sahen wir schon meinen Vater mit den beiden Mädels auf der Straße stehen. Meine Anweisung an unsere Mitglieder, dass alle im Bus bleiben, um sofort weiterzufahren, hätte ich mir sparen können. Denn auch wenn die Fahrt vom Parkstadion bis zur Braukämperstraße nur knapp sieben Minuten dauert, mussten die ersten schon wieder pinkeln.

Während auf der einen Seite der Straße die Wohnblocks lagen, befanden sich auf der anderen Seite die Felder von Bauer Holz. Natürlich haben die Wiesen förmlich zur Pinkelpause eingeladen. Und jetzt stellt euch bildlich vor, wenn 70 nicht mehr nüchterne Fans auf der Braukämperstraße aussteigen, ihre Bierdosen in den Händen halten und sich dabei laut grölend oder singend in den Armen liegen. Wer gerade keine Bierdose in den Händen hielt, stand pinkelnd am Ackerfeld. Dieses Treiben führte dazu, dass immer mehr Menschen auf die Balkone strömten. Die Wohnsiedlung wurde damals von der GGW gebaut und allein in dem Haus, in dem meine Eltern und Olaf Thon wohnten, hatten 16 Familien ihr Zuhause. In den Häusern links und rechts nebendran wohnten nochmals 52 weitere Familien. Die meisten hatten ihren Balkon zur Straße, auf der unser Bus stand. Und wer von den Anwohnern nicht auf dem Balkon war, schaute aus einem der zahlreichen Fenster dem bunten Treiben zu.

Während ich die Zeit nutzte, um noch ein paar Worte mit meinem Vater zu wechseln, kamen die ersten Fans auf die Idee, zu Olafs Wohnung zu gehen. Mit wedelnden Schals und Fahnen in der Hand zogen die Jungs und Mädels von der Hauptstraße bis zur Eingangstür und grölten unaufhörlich „Olaf Thon, Olaf Thon, Olaf Thon!“ Inge, die Mutter von Olaf, schaute zuerst aus dem Fenster. Als sie dann aber unsere singenden Fans auf sich zukommen sah, zog sie sich ganz schnell zurück. Ich hätte gern gewusst, was sie in diesem Augenblick von uns dachte. Das Spektakel ging jetzt schon 10 Minuten und ein Ende war noch immer nicht abzusehen. Ich musste mich also ordentlich ins Zeug legen, um meine Mitglieder wieder in den Bus zu bekommen. Immer wieder fing einer an zu singen und alle anderen stimmten ein. Sie lagen sich in den Armen und posierten für die Nachbarn auf den Balkonen, die mit ihren Pocket-Kameras Fotos machten. Zum Glück gab es damals noch keine Handys.

Nach weiteren 20 Minuten hatte ich es endlich geschafft und alle, bis auf drei Leute, saßen wieder im Bus. Und wie das so ist, einer von den Dreien wollte unbedingt noch einmal seine Blase entleeren. Kurz bevor die letzten Tropfen fielen, hörte ich meinen Bruder Uwe aus dem Bus schreien: »Dahinten kommt der Olaf!« Tatsächlich, in dem Wagen, der gerade um die Ecke kam, saß Olaf Thon. Wie ein Bienenschwarm stürzten alle wieder aus dem Bus. Meine Mitglieder überrannten mich, stürmten über die Straße und folgten dem Wagen. Und wieder hallte ein schaurig schönes „Olaf Thon, Olaf Thon, Olaf Thon“ über die Braukämperstraße.

Trotz des Unentschiedens gegen die Bayern hatte Olaf gute Laune, denn so viel Zuspruch vor seiner Haustür hat er an diesem Tag nicht mehr erwartet. Ihr könnt euch vorstellen wie lange es nun dauerte, bis der letzte Fan endlich sein Autogramm bekommen hat. Auch als Olaf schon lange in seiner Wohnung verschwunden war, standen die Fans noch immer mit Tränen in den Augen vor der Wohnung und feierten Olaf weiter. Für mich fing nun mein Job wieder von vorne an. Ich glaube es war schon weit nach 20:00 Uhr, als ich endlich alle Mitreisenden im Bus hatte und wir die Fahrt nach Saerbeck fortsetzen konnten.

Ich bin mit Olaf auf der Braukämperstraße großgeworden und habe zahlreiche schöne Momente auf dieser Straße erlebt. Das war meine Heimat. Und jedes Mal, wenn ich heute noch an der ehemaligen Wohnung meiner mittlerweile verstorbenen Eltern vorbeikomme, sehe ich den Gelenkbus auf der Straße und die 70 Fans vor der verschlossenen Tür stehen. Und ein „Olaf Thon, Olaf Thon, Olaf Thon“ ertönt immer wieder in meinen Ohren …

»Das Leben ist nicht immer perfekt, aber es gibt Momente, die machen die Situation perfekt.«

Eine Blau-Weisse Autobiografie

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