Читать книгу Eine Blau-Weisse Autobiografie "5:04" – Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben - Rolf Rojek - Страница 8
1961 – Der Umzug nach Beckhausen.
Оглавление1961 zogen meine Eltern mit meinen Geschwistern und mir nach Gelsenkirchen-Beckhausen in die Braukämperstraße. Hier bin groß geworden, hier habe ich meine Jugend verbracht und hier bekam ich den letzten Schliff, um als Schalker in die blau-weiße Fanszene einzutauchen.
Die neue Wohnsiedlung der GGW wurde auf den Wiesen und Feldern von Bauer Holz gebaut. In den Wohngebäuden in Beckhausen sollten eigentlich Familien mit Kindern, mit vielen Kindern, ein neues Zuhause finden. Die Wohnsiedlung umfasste sieben vierstöckige Gebäude mit je zwei Eingängen für insgesamt acht Familien und drei sechsstöckige Gebäude mit drei Eingängen für insgesamt 36 Familien. Auf keinen Fall war das eine Ghetto-Siedlung, denn hier war alles sauber und neu.
Vorher wohnten wir, Papa Franz, Mutter Anita, meine zwölf Jahre ältere Schwester Renate, mein zwei Jahre jüngerer Bruder Klaus und der frischgeborene Bruder Peter, auf kleinstem Raum in zweieinhalb Zimmern. Der Umzug in die Braukämperstraße erschien meinen Eltern daher wie ein Umzug in eine bessere Welt mit bedeutend mehr Lebensqualität – obwohl dort auch nur drei Zimmer mit knapp 77 qm auf uns warteten. Die Vorfreude meiner Eltern auf unser neues Domizil war so groß, dass sie sich fast jedes Wochenende über eine Stunde zu Fuß auf den Weg machten, um den aktuellen Baustand auf der Baustelle zu begutachten.
Der Umzug in die neue und größere Wohnung hatte zur Folge, dass meine Eltern sich entschlossen, die Familie weiter zu vergrößern. Knapp zwei Jahre später wurde meine Schwester Gaby geboren und zwei weitere Jahre danach haben meine Eltern mit der Geburt meines Bruders Uwe die Familienplanung abgeschlossen.
Jetzt könnte man meinen, dass ein Familienleben mit sieben Personen auf 77 qm sich äußerst schwierig gestaltet. Dem möchte ich hier widersprechen, denn erstens war es früher so üblich und zweitens fand ich unser Familienleben zwar turbulent, laut und lebhaft, aber keinesfalls unangenehm oder beengend. Außerdem ging es uns doch noch gut.
Wir wohnten mit acht Personen oben in der vierten Etage, ganze 56 Stufen hoch. Ganz unten im Haus lebte die Familie Römer, die nicht nur ein Zimmer mehr, sondern auch mit knapp über 80 qm eine größere Wohnfläche hatte. Dafür hatte die Familie aber auch elf Kinder und war mit Abstand die größte Familie in der Braukämperstraße. Wir Kinder aus den beiden Wohnblöcken wurden daher bei allen anderen immer nur die „Römerbande“ genannt.
Ja, der gute Heinz Römer. Er hat seine Familie nach dem Umzug von der Braukämperstraße noch ein wenig weiter vergrößert, ich glaube, auf insgesamt vierzehn Kinder. Nie hätte ich gedacht, dass sich unsere Wege nach seinem Umzug noch einmal kreuzen würden, aber dat is Schalke. Ich traf Heinz irgendwann bei einer Stadionführung in unserer alten Glückauf Kampfbahn. Heinz wohnte dort in der alten Tribüne für mehr als 33 Jahre, er war als Platzwart für die Stadt und den Verein tätig.
Aber Heinz Römer war schon damals nicht der einzige Schalker in der Braukämperstraße. Mittendrin wohnte Heinz Blechinger, der erste Schalker, von dem ich mir persönlich ein Autogramm abholte. Zwei Blocks weiter wohnte die Schalker Familie Burdenski. Vater Herbert erzielte am 22. November 1950 beim ersten Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft nach dem zweiten Weltkrieg den Siegtreffer zum 1:0 gegen die Schweiz. Außerdem war Herbert ein Mann des bekannten Schalker Kreisels – er holte 1937, 1939, 1940 und 1942 die deutsche Meisterschaft auf Schalke. Mit seiner Frau und den beiden Söhnen Dieter und Hans-Joachim „Jochen“ wohnten weitere Schalker in der Braukämperstraße. Dieter war Nationaltorwart und spielte unter anderem in Bremen und auf Schalke, sein Bruder Jochen war ein langjähriges Aufsichtsratsmitglied beim FC Schalke 04.
Doch irgendwann war es auf einmal vorbei mit den kinderreichen Familien in der Braukämperstraße. Die Familie Thon sollte unser neuer Nachbar werden. Ja, die Familie Günther Thon. Und die hatten doch tatsächlich nur ein Kind und bekamen trotzdem die „große Wohnung“. Vielleicht lag es daran, dass Günther schon damals ein großer Sportler in Gelsenkirchen war. 1967 wurde er als 21-jähriger mit seinem damaligen Club, den TSV Horst Emscher, deutscher Amateurmeister. Aber was er noch viel besser hinbekommen hatte, war sein Sohn, der Olaf. Na klar wussten wir damals noch nicht, was aus Olaf einmal werden sollte und wie mein Weg auf Schalke verlaufen würde.
Ich war nahe dran an den Schalkern, aber noch längst nicht mittendrin. Keiner konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, wie sich die Wege der Schalker noch einmal mit meinem kreuzen würden …
Olaf ging mit meinem jüngeren Bruder Uwe in die gleiche Schule, die beiden waren befreundet, sodass auch Olaf zur Römerbande gehörte. Unser damaliger Erzfeind war die „Rottorf-Bande“, die im Block gegenüber von uns wohnte. Oft gab es Kämpfe mit Stöcken, die wir als Schwerter benutzten. Na ja, das Wort Kämpfe ist wohl ein bisschen übertrieben... Wir haben von der Rottorf-Bande aber die selbstgebastelten Bögen im Wäldchen zerstört, sie haben uns dafür Stöcke aus unserem „Waffenlager“ gestohlen. Wenn man heute hört, wie Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren ihre Konflikte austragen, kann man sich über unseren damaligen Bandenkrieg nur kaputtlachen. Aber wir fühlten uns damals wie eine wilde Gang.
Wir wurden älter und die kriegerischen Zeiten änderten sich. Besonders als wir in unserer Bande Verstärkung von Detlef Zedler bekamen. Detlef wohnte zwar nicht in unseren Häuserblocks, aber er war eng mit uns befreundet. Deshalb musste die Rottorf-Bande Detlef auch als Mitglied der Römer anerkennen.
Detlef war ein guter Fußballer und spielte in der Jugendmannschaft des FC Schalke 04 auf dem legendären schwarzen Ascheplatz der Glückauf Kampfbahn. Er hat es sogar geschafft, dass die Schwerter und Bögen gegen Turnschuhe und Lederball eingetauscht wurden und sich unsere Banden nur noch auf dem Bolzplatz der Braukämperstraße bekämpften.
Ja, Detlef hatte einen richtigen Lederball. Was heute vielleicht ein bisschen lächerlich klingt, war damals etwas ganz Besonderes. Wenn wir zum Bolzplatz gegangen sind, hatten die Wenigsten von uns richtige Sportkleidung. Wir kickten meist in Turnschuhen und oft in ganz normaler Straßenkleidung, weil sich kaum jemand einen richtigen Trainingsanzug leisten konnte. Auch wenn die meisten in unserer Mannschaft schon älter waren, durften mein Bruder Uwe und Olaf Thon in der bunt gemischten Truppe mitspielen. Denn früher war es richtig anstrengend, mindestens neun Personen für eine Mannschaft zusammen zu bekommen. Familie Römer konnte uns da wenig weiterhelfen, da die Kinder in unserem Alter entweder Mädchen waren oder Jungs, die absolut kein Fußball spielen konnten. Der Altersdurchschnitt unserer Spieler lag also zwischen 6 und 14 Jahren. Ich glaube bis heute, dass einige unserer Spieler aber nicht wussten, warum ein Ball hüpft oder springt. Wahrscheinlich dachten sie, da sei ein Frosch drin.
Damals gab es für uns Blagen nur Freizeitbeschäftigungen wie Seilspringen, Verstecken, Fangen spielen oder eben auf dem Bolzplatz gehen und gegen die Pille treten. Wenn ein Kind aus der Braukämperstraße zu seinen Eltern gesagt hätte, dass es Schwimmen oder Tennis spielen möchte, wäre sicher ein unverständliches Kopfschütteln oder eine leichte Backpfeife die Antwort gewesen.
Also zurück auf den Bolzplatz. Zu unserer Mannschaft gehörte auch Olaf Thon. Trotzdem waren wir nicht so gut wie die Rottorf-Bande, die fast alle Spiele für sich entschied. Als wir aber irgendwann voller Ehrgeiz den ersten Sieg errungen konnten, brach auf dem Platz direkt wieder der Krieg aus und es wurden ein paar Ohrfeigen verteilt. Fast wie früher mit den Stöcken im Wald …
Detlef Zedler hat uns aber nicht nur zum Fußballspielen gebracht, er hat mich auch mit auf Schalke mitgenommen. Immer wenn Detlef am Samstag ein Heimspiel in der Glückauf Kampfbahn hatte, durfte ich mit. Wir liefen von Beckhausen über Sutum bis nach Schalke. Dort mussten die Kids damals noch auf dem alten Ascheplatz hinter der Tribüne spielen. Immer wenn das Spiel zu Ende war, nahm mich Detlef mit auf die Tribüne, um sich die „richtigen“ Schalker anzugucken. Detlef hat es sportlich bis in die zweite Liga geschafft und sogar einmal im Pokalspiel dem Toni Schumacher einen „eingeschenkt“.
Dank Detlef konnte ich nun alle 14 Tage auf Schalke gehen. Ich muss jedoch zugeben, dass ich als kleiner Junge das Spiel der Schalker noch nicht ganz so ernst genommen habe. Es gab im Stadion viel Wichtigeres. Ich kroch auf allen vieren an den Bierbuden auf dem Boden und sammelte die heruntergefallenen Pfennige der betrunkenen Fußballfans ein. Manchmal hatten wir nach so einem Spieltag stolze 2 DM aufgesammelt, das war damals eine Menge Kohle. Trotz der Pfennige auf dem Boden vor den Bierbuden war es immer ein Erlebnis, wenn die Schalker ein Tor schossen und das ganze Stadion jubelte. Auch wir Kinder haben immer lauthals gejubelt und lagen uns in den Armen. Wir sind wild herumgehüpft und gesprungen und hatten ein dickes Grinsen auf dem Gesicht. Das konnte aber auch passieren, wenn der Gegner mit vielen Fans nach Gelsenkirchen gereist ist. Beim Torjubel der generischen Fans haben wir Kinder vor lauter Pfennige sammeln häufig mitgefeiert, weil wir glaubten, der laute Jubel gilt den Schalkern.
Auch wenn Pfennige sammeln in dem Alter wichtig, vielleicht sogar wichtiger als das Spiel war, eins faszinierte mich jedes Mal – die Stimmung in der Schalker Kurve mit den blau-weißen Fahnen. Das hat mir schon damals gefallen. Jedes Mal, wenn wir nach einem Heimspiel zufrieden nach Hause gegangen sind, habe ich zu Detlef gesagt, dass ich mein gesammeltes Geld sparen und mir davon auch eine blau-weiße Fahne kaufen werde. Der Wille war da, aber meistens hat das Geld nur bis zum nächsten Kiosk gehalten und wurde dann gegen Klümpchen und Schoko-Bonbons eingetauscht.
»Die Jugend ist die Zeit, Weisheit zu lernen. Das Alter ist die Zeit, sie auszuüben.«
(Jean-Jacques Rousseau))