Читать книгу Eine Blau-Weisse Autobiografie "5:04" – Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben - Rolf Rojek - Страница 23
1991 – Wie Trompeten-Willy wirklich auf Schalke kam.
ОглавлениеTätä, tatä, tätätäre täte – Attacke! Wenn Marino Fioretti, von allen nur Fio gerufen, mit seiner Trompete zur Attacke geblasen hat, bebte das Stadion. Das war damals schon eine geile Fan-Aktion, die Fio ins Leben gerufen hat. Fio erreichte mit seiner Attacke nicht nur auf Schalke Kultstatus, er war der erste Fan, den ich kannte, der sich eine eigene Autogrammkarte anfertigen ließ.
Fio war von Beruf Baggerführer. Der damalige Schalke-Hauptsponsor Müller zahlte Fio 7.500 DM im Jahr für seinen Einsatz und machte ihn zum ersten bezahlten Fan in der Fußballbundesliga. Nicht jeder Fan war damit einverstanden, aber Fio genoss den Ruhm, den er sich mit seiner Trompete erspielt hatte. Er war nicht nur bei den Schalke-Spielen anwesend, sondern immer öfters auch auf größeren Fan-Veranstaltung.
Mein Fan-Club Blau-Weiß Saerbeck organisierte Anfang der 90er Jahre ein großes Fußballturnier und kein geringerer als FIFA Schiedsrichter Walter Eschweiler pfiff das Finale. Nach dem spannenden Endspiel wurde in der Saerbecker Bürgerhalle zur Siegerehrung mit anschließender blau-weißer Nacht eingeladen. Über 250 Fans gaben sich an diesem Abend die Kante. Das kühle Bier floss in Strömen in die durstigen Sportlerkehlen. Die meisten Teilnehmer konnten besser trinken als kicken, aber das war egal. Wichtig war, dass Alle Spaß hatten.
Es war eine schöne und gelungene Veranstaltung, die sich gegen Mitternacht so langsam auflöste. Und wie bei vielen anderen Veranstaltungen auch, ging der harte Kern in die Verlängerung. Der harte Kern bestand aus fast 50 Gästen, die nicht einmal gehen wollten, als Band und DJ ihre Sachen packten. Immer wieder wurden Fangesänge und das Vereinslied „Blau und Weiß wie lieb ich dich“ angestimmt. Der Gesang war laut, aber nicht schön. In Saerbeck störte das niemanden.
Zu später Stunde kam einer der Gäste mit zwei Glas Bier in der Hand auf mich zu, gab mir ein Glas und sagte: »Ich bin der Willy und komme vom Niederrhein.«
Schön, dachte ich und stieß mit Willy auf Schalke an. Doch dann erzählte mir Willy unaufgefordert seine traurige Lebensgeschichte. Er ist schon sein ganzes Leben ein echter Schalker und würde so gerne mehr für diesen Club geben. Aber leider kann man ja nicht immer alles so machen, wie man es gerne hätte. Trotz seines gehörigen Alkoholpegels setzte Willy einen traurigen Dackelblick auf. Ich fragte ihn, was er denn gerne mehr machen würde. Willy druckste herum und erzählte dann, dass er Probleme mit Fio hätte. Er würde auch gerne mal die Attacke auf Schalke blasen, aber angeblich hat Fio ihm das verboten. Ich war verwundert, da ich Fio so nicht kannte und mir deshalb auch nicht vorstellen konnte, dass er so etwas sagen würde. Und Willy sah auch nicht so aus, als könnte er Trompete spielen. »Wie, du kannst Trompete spielen?«, fragte ich ihn verwundert. Jetzt hatte ich ihn scheinbar bei seiner Ehre gepackt, denn er schaute mich böse an. »Na klar kann ich das. Soll ich es dir beweisen« antwortete er. »Wenn ich höre, wie du die Attacke bläst, werde ich sofort mit Fio sprechen«, sagte ich, da ich auch schon einen im Tee hatte …
Willy stellte wortlos sein Bier auf den Tisch und torkelte zu der Band, die gerade dabei war, ihre Sachen einzupacken. Und tatsächlich packte einer der Männer eine Trompete aus und gab diese Willy. Eigentlich war ich schon darüber verwundert, dass Willy überhaupt noch die Bühne hochkam. Noch überraschter war ich, als er sich mit wackligen Beinen in der Mitte auf der Bühne positionierte, die Trompete kurz testete, ansetzte, und dann sauber und fehlerfrei „Il Silenzio“ spielte, ich glaube zumindest, dass es das Lied war. Danach folgte die Attacke. Ich war echt überrascht, das hätte ich ihm nie zugetraut. Und ehrlich: es hörte sich wirklich gut an.
Willy kam stolz zu mir an den Tisch und strahlte. »Na, wie habe ich das gemacht?«, fragte er. Was sollte ich sagen? Willy hatte mein Wort, ich würde mit Fio sprechen. Außerdem hatte Fio in der letzten Zeit öfters über gesundheitliche Probleme gesprochen, einige munkelten bereits, dass er aufhören wolle.
Irgendwann habe ich also Fio angerufen und ihn gefragt, ob er Willy wirklich die Attacke auf Schalke verboten hätte. Ich fragte ihn auch, wie er seine Zukunft auf Schalke sieht. Nach einem längeren Gespräch einigten wir uns darauf, dass auch Willy mal die Attacke auf Schalke blasen darf, immerhin ist diese nicht geschützt. Ich informierte Willy im Anschluss über das Gespräch. Er war stolz und jubelte vor Freude. Wir einigten uns darauf, dass er in 14 Tagen erstmalig mit seiner Trompete auf Schalke die Attacke blasen soll.
Ein paar Tage vor dem besagten Spiel rief Willy mich an und druckste ein bisschen herum. Er freut sich unheimlich, dass er die Attacke spielen darf, aber er hat derzeit ein kleines Problem. Er sei arbeitslos und könne sich keine Eintrittskarte für das Spiel kaufen, zumal er auch eine junge Familie hat.
»Das ist doch kein Problem, Willy. Die Stehplatzkarte bezahlt der Fan-Club Verband«, sagte ich zu ihm. Er freute sich und legte nach. Denn normalerweise geht er immer mit seiner Partnerin auf Schalke, aber sie hat natürlich auch kein Geld für eine Eintrittskarte. Ich versprach Willy, dass ich ihm für seinen Auftritt zwei Stehplatzkarten besorgen würde. Lange Rede, kurze Hose: Willy blies ein paarmal die Attacke im Stadion, alle waren begeistert und wir hatten einen Ersatz für Fio gefunden. Willy wurde später auch ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Schalker Fan-Club Verband und erhielt einige Sonderrechte. So bekam er vom Schalker Fan-Club Verband immer seine Stehplatzkarten und später auch eine neue Trompete. Seine erste Trompete schenkte er mir und immer, wenn ich diese ansehe, denke ich immer daran, wie alles mit der Attacke angefangen hat …
»Jeder Mensch ist austauschbar, aber nicht jeder ist ersetzbar.«
(Tobias Neufeld)