Читать книгу Eine Blau-Weisse Autobiografie "5:04" – Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben - Rolf Rojek - Страница 9
1969 – Schule, Lehre und das Pokalfinale.
Оглавление1969 war ein ganz wichtiges und ereignisreiches Jahr in meinem Leben.
Mittlerweile war ich in der Schalker Fanszene schon als ein verrückter Hund bekannt. Ich trug zu den Spielen der Schalker immer ein altes blaues Baumwolltrikot mit der Rückennummer neun, eine von der Schwester gestrickte blau-weiße Pudelmütze auf dem Kopf, den von der Mutter selbstgestrickten und fast zwei Meter langen blau-weißen Blockschal um den Hals, dazu das mit blau-weißem Isolierband beklebte Tamburin in der einen und natürlich meine 6,20 Meter große Fahne in der anderen Hand.
Meine Fahne war sogar für einen kurzen Moment die größte Fahne in der Nordkurve. Die Fahne war blau-weiß-blau, etwa 2,40 Meter breit und gut 4,50 Meter lang und die blau-weißen Stoffe waren auf zwei gut drei Meter langen Bambusstäben aufgezogen, die miteinander verbunden waren. Natürlich war die Fahne so schon schwer genug, aber wehe, es regnete. Der Baumwollstoff konnte nämlich jede Menge Wasser aufsaugen und die Fahne gewann somit schnell an Gewicht, sehr viel Gewicht. In diesem Schalke Outfit machte ich mich Wochenende für Wochenende auf den Weg, um bei jedem Heimspiel und bei fast allen Auswärtsspielen meine Mannschaft zu unterstützen.
Früher hieß ich bei allen nur Rolli. In der Glückauf Kampfbahn gab es damals den Eisanbieter „Rolli Eiscreme“. Die Verkäufer zogen am Spieltag mit ihrem Bauchladen durch die Blöcke und riefen immer »Rolli Eiscreme!« Das haben meine Freunde mit Freude übernommen und somit war ich als „Rolli Eiscreme“ auf Schalke bekannt.
Im Jahr 1969 fieberte ich dem Sommer entgegen, da ich im Juni aus der Schule entlassen werden sollte. Einen Ausbildungsvertrag als Betriebsschlosser auf der Zeche Hugo hatte ich auch schon unterschrieben in der Tasche. Aber das war nicht der einzige Grund, warum ich mich auf den Sommer freute. Mein FC Schalke 04 stand im DFB-Pokalfinale. Am 14. Juni 1969 sollten wir in Frankfurt das Finale gegen die Bayern bestreiten. Mein erstes Finale. Voller Stolz schaute ich mir jeden Tag meine Eintrittskarte für das Spiel an und betete. Lieber Gott, lass uns die Bayern schlagen! Ja, damals betete ich noch.
Mit meinen Freunden, Harry, Wowo, Ralle und wie sie alle hießen, machten wir große Pläne, was wir nach dem Pokalsieg alles anstellen wollten. Vom Anstreichen des Bahnhofsvorplatzes in blau und weiß bis zur Drei-Tages-Feier in der Glückauf Kampfbahn war alles dabei. Aber es kam alles ganz anders als gedacht …
Am Montag vor dem Finale bekam ich am ganzen Körper kleine Pickelchen. Ich machte mir keine ernsthaften Gedanken darüber, außer, dass ich vielleicht nicht mehr so gut aussah und die Mädels über mich lachen würden. Mehr Sorgen habe ich mir nicht gemacht. Doch plötzlich ließ mich meine Mutter nicht mehr aus dem Bett und sie rief den Doktor an. Früher kamen die Ärzte noch nach Hause, so auch unser Doc. Er stellte nach der Untersuchung die furchtbare Diagnose: Der kleine Rolli hat Windpocken. Ok, dachte ich, dann hast du eben Windpocken. Was solls, dann gehe ich eben mit Pickeln ins Stadion, wen soll das schon stören? Es störte zumindest den lieben Doktor. Neben absoluter Bettruhe gab es auch ein Kontaktverbot zu meinen Freunden. Ich schaute auf meine Eintrittskarte und hätte heulen können. Mit Tränen in den Augen hörte ich die Übertragung im Radio auf WDR 2 in meinem Bett: 1:0 durch Gerd Müller. Manfred Pohlschmidt konnte mit einem Traumtor zum 1:1 ausgleichen, bevor wieder Gerd Müller in seiner unnachahmlichen Art den 2:1 Siegestreffer für die Bayern schoss. Das war also mein erstes Pokalfinale mit meinem FC Schalke 04 …
Im Juni 1969 habe ich im Alter von 15 Jahren endlich nach neun Jahren die Schule verlassen. Nein, ein guter Schüler war ich mit Sicherheit nicht, ich musste aber nie eine Klasse wiederholen. Nein, ein dummer Schüler war ich auch nicht, aber ich war faul und habe die Schule nicht ernst genommen. Für mich gab es nur zwei wichtige Dinge im Leben, den Bolzplatz und Schalke.
Ich hatte jedoch das Glück, dass mein Lehrer viel Verständnis für mich aufbrachte. Er hat erkannt, dass viel mehr in mir steckte als das, was ich in der Schule zeigte. Wenn wir Gedichte lernen mussten, lernte ich immer nur eine Strophe und die Rechtschreibung war auch alles andere als gut. Als Englisch als Fremdsprache auf den Schulplan kam, entschied ich mich für Sport als Wahlfach. Die Überredungsversuche meiner Lehrer, Englisch sei eine Weltsprache, konterte ich mit: »Ich kann noch nicht einmal richtiges Deutsch, was soll ich dann mit Englisch.«
Mein Lehrer hat meine Mutter fast bei jedem Elternsprechtag mit den gleichen Worten empfangen. »Der Rolli ist stinkfaul, aber viel zu intelligent, um sitzenzubleiben. Den muss ich einfach mitnehmen.» Er hat mich immer mitgenommen, auch wenn auf meinem Zeugnis nur eine gute Note stand, in Sport. Ich gebe zu, ich habe mir nie ernsthaft Gedanken darüber gemacht, was ich nach der Schule werden wollte. Mein Opa war Betriebsschlosser, mein Vater war Betriebsschlosser. Warum sollte ich nicht auch Betriebsschlosser werden? Schließlich gab mit der Zeche Hugo und der Zeche Nordstern gleich zwei Zechen vor meiner Nase und beide suchten Auszubildende als Betriebsschlosser.
Besonders lustig war damals auch die Berufsberatung in der Schule. Zwei Männer und eine Frau besuchten uns am frühen Morgen in der Klasse. Wie ein Richter mit seinen Beisitzern saßen sie am Tisch und jeder von uns musste einzeln vor ihnen antreten. Nachdem wir unseren Namen genannt hatten, suchten sie in den Listen von unseren Lehrern nach Informationen über uns. Es hieß fast immer: »Betriebsschlosser, Elektriker, Zeche Hugo. Betriebsschlosser, Elektriker, Zeche Nordstern.«
Mein Schulfreund Manfred war ‘ne Granate in Mathematik, er hat mir immer die Hausaufgaben gemacht. Ob Prozentrechnung, Dreisatz oder Algebra, Manfred konnte alles. Ein kleiner Streber war er irgendwie schon. Wir alle haben ihn schon in einer Bank arbeiten sehen, doch die Berufsberatung meinte: »Betriebsschlosser, Zeche Nordstern.« Natürlich hat Manfred bitterlich geweint. Aber seine Eltern haben ihm später doch noch einen Ausbildungsplatz bei der Sparkasse Gelsenkirchen besorgt.
Mit mir fingen fast 40 weitere Abschlussschüler eine Ausbildung auf der Zeche Hugo an. Damals gab es noch eine Lehrwerkstatt, in der wir ein halbes Jahr lang eine Art Grundausbildung absolvierten. Wir haben dort so lange U-Stahl gefeilt, bis wir Blasen an den Händen bekamen. Natürlich war unter uns Auszubildenden, damals hieß es noch Lehrlinge, Fußball das ganz große Thema. Die meisten Auszubildenden waren selbstverständlich Schalke-Fans. Aber natürlich gab es auch in unseren Reihen Anhänger von Rot-Weiß Essen, Rot-Weiß Oberhausen oder dem MSV Duisburg. Es fehlten eigentlich nur Fans von Dortmund und Bochum, dann wäre der Ruhrpott komplett an unserer Werkbank vertreten gewesen.
An jedem Montag wurde in den ersten beiden Stunden an der Werkbank nur über Fußball geredet. Das hat unserem Ausbildungsmeister weniger gefallen. Oft haben wir Lehrlinge uns am Wochenende auch auf dem Sportplatz getroffen, natürlich als Gegner. Denn fast alle spielten irgendwo aktiv Fußball, sei es in Schaffrath, Buer, Hassel, Erle oder wie ich bei Beckhausen 05.
Der Sportplatz und das Vereinslokal in Beckhausen lagen auf der gleichen Straße, auf der ich wohnte. Dass das Vereinslokal und die Pächterin einmal mein Leben komplett auf den Kopf stellen würden, habe ich damals nicht geahnt …
Früher waren Gaststätten noch Begegnungsstätten. Man traf sich dort, um sich zu informieren, zu diskutieren und sich auszutauschen. Es gab häufig einen Flipper, es wurde Skat gespielt oder an der Theke um die nächste Runde geknobelt. Aus der Musikbox spielten unaufhörlich die gleichen Lieder. Egal ob in Beckhausen, auf Schalke oder anderswo: Fußball war immer das Thema Nummer 1 in den Kneipen.
Und das Beste? Na, als Stammgast im Vereinslokal konnte man immer auf Deckel trinken. Wer knapp bei Kasse war, bekam trotzdem sein Bierchen und konnte die selbstgemachte Frikadelle essen. Beim Wirt hatte damals jeder Stammgast Kredit.
»Die größten Meister sind die, die nicht aufhören Schüler zu sein.«
(Ignaz Anton Demeter)