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8:00 pm, Rotherhithe Street

So sehr die Scheibenwischer des alten Rover Mini auch kämpften, die Rotherhithe Street war kaum noch zu erkennen. Das Wasser rann die Frontscheibe schneller herunter, als sie es beiseite schaufeln konnten. Die Scheibenheizung war chancenlos. Kurbelte Teddy Chan die Fensterscheiben hoch, glich das Fahrzeuginnere binnen Sekunden einer zugedampften Duschkabine, und sein Sohn war nonstop mit dem Wegwischen des Beschlags beschäftigt. Kurbelte er die Fensterscheiben nur einen kleinen Spalt herunter, strömte statt Frischluft derart viel Regenwasser herein, dass sie sich vorkamen wie Englands Pilgerväter während der Überfahrt. »Lass es, Dad. Den Rugby Lead World Cup können wir endgültig knicken.«

»Ach komm, das Spiel wird doch eh erst ab der Halbzeit richtig spannend.«

»So ein Blödsinn.«

»Ich kriege das hin.«

»Gar nichts kriegst du hin! Erst kommst du viel zu spät, und jetzt kommt deine Karre nicht einmal mit ein bisschen Regen klar.«

Teddy trat auf die Bremse und fuhr links ran.

»Es ist sicher nur ein Schauer, Dustin.«

»Sicher.« Dustin verschränkte die Arme und ließ sich in die Lehne des Beifahrersitzes fallen.

Teddy stupste ihn mit dem Ellenbogen an. »Danach sind die Straßen frei, und wir brettern direkt durch. Du wirst sehen!«

Dustin schnaufte. »Sicher, Dad. Deine Klapperkiste macht doch schon bei 20 Meilen pro Stunde schlapp.«

»Nichts über meinen Mini. Das ist ein echter Rover, ein Rennwagen quasi.«

»Zum Wegrennen vielleicht. Wie Mum.«

»Sie ist nicht weggerannt. Wir nehmen uns einfach eine kleine Auszeit.«

»Mit Betonung auf aus

»Ich bieg das wieder hin, Dustin. Versprochen.«

»Du meinst, so wie diesen dämlichen Männerabend.«

Teddy schnaufte. »Dustin, hey. Die Situation ist für niemanden von uns leicht.«

»Wir hätten es einfach lassen sollen.«

»Ich bin nicht schuld am Wetter, Dustin.«

»Am Wetter nicht.«

»Was willst du damit sagen? Ich habe mir extra für dich Zeit genommen.«

»Und ich? Meinst du nicht, ich hätte vielleicht auch was Wichtigeres vorgehabt?«

»Was Wichtigeres als Rugby?« Teddy zog die Augenbrauen in die Höhe. »Hast du eine Freundin?«

»Oh Mann.« Dustin rollte die Augen. »Du hast absolut keinen Plan, oder? Kennst du deine Fälle besser als mich, Dad?«

Wenn er sich seinen Sohn so ansah, konnte er das manchmal denken. Mit seinem radikalen Kurzhaarschnitt hätte man ihn schon fast für einen Rekruten der British Army halten können. Wo war nur sein kleiner Junge geblieben? Der Dustin, der unbedingt einmal im Jahr zu Tante Wenwen nach Hongkong fliegen wollte und total vernarrt in Teddys Frühlingsröllchen war.

»Wieso bleibst du nicht einfach auf Arbeit und lässt mich in Ruhe.«

Teddy wurde hellhörig. »Dustin, wenn es da irgendein Problem gibt, über das du reden willst …«

»Problem? Du bist das Problem!« Dustin schlug mit seinen Händen auf die Oberschenkel, holte mit dem Arm aus und rammte dabei versehentlich seinen Ellenbogen in die Beifahrertür. »Fuck! Warum kannst du nicht einfach ein stinknormales Auto fahren? So wie alle anderen Menschen auch?« Er löste den Gurt, öffnete die Tür, krabbelte regelrecht aus dem Wagen und hielt sich seine Lederjacke schützend über den Kopf, sodass der Regen in alle Richtungen spritzte. »Dustin, bitte, bleib hier!«

Weit gefehlt. Er schlug die Tür mit seinem rechten Fuß zu und rannte durch den Regen die Rotherhithe Street hinunter.

»Scheiße!« Teddy zog die Handbremse an, den Schlüssel ab und stieg ebenfalls aus. Nur wenige Meter von ihnen entfernt blinkten die Lichter des Mayflower Pub. Sein Sohn lief direkt darauf zu. »Dustin!«

Der drehte sich um und riss die Arme samt Jacke in die Höhe. »Warum kannst du nicht einfach ein stinknormaler Vater sein?« Schon war er hinter der Tür im Pub verschwunden. Teddy stürmte hinterher.

Der Pub war rammelvoll. Massenweise drängten sich die Gäste um die Bildschirme mit der Live-Übertragung des Rugby-Spiels. Die Halbzeitpause hatte gerade begonnen. Die letzten freien Plätze befanden sich in der Mitte der Theke. Der Barkeeper stand Dustin direkt gegenüber, die Arme in die Hüften gestemmt, und wartete offensichtlich darauf, dass er seinen Ausweis hervorholte. Teddy schob sich durch die anderen Pubgäste hindurch und winkte dem Barkeeper zu. »Schon okay.«

Der Barkeeper beäugte Teddy misstrauisch. »Gar nichts ist okay, wenn er bei mir an der Bar ein Bier bestellt.«

»Ich bin sein Vater.«

»Er ist höchstens 15.«

»16«, konterte Dustin.

»Dann zeig mir deinen Ausweis. Ich habe keinen Bock auf Stress mit den Bullen, verstanden?«

Teddy zog seine Dienstmarke. »Ich bin ein Bulle.«

Der Barkeeper stützte sich auf den Tresen. »Was kann ich für euch tun?«

»Zwei Chicken und Bacon Sandwiches und zwei halbe Guinness.«

Endlich war auf Dustins Gesicht wenigstens ein Ansatz von guter Laune zu erkennen.

»Danke, Dad.«

»Männerabend ist Männerabend.« Er reichte Dustin das frisch gezapfte Bier weiter, forderte ihn zum Anstoßen auf, nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe. »Hör zu, mein Junge. Ich bin nicht perfekt. Und ich habe sicher auch viel falsch gemacht. Aber ich will immer nur das Beste für dich, ist das klar?«

»Warum bist du dann nie da, Dad?«

»Weil ich versuche, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.«

»Warum machst du sie nicht einfach besser für Mum?« Er senkte seinen Kopf. »Und für mich?«

Teddy drehte sich seinem Sohn zu und fasste ihn an beiden Schultern, um ihm direkt in die Augen sehen zu können. Er hatte so verdammt viel von seiner Mutter. Wie hatte alles nur so schrecklich aus dem Ruder laufen können? »Alles, was ich in meinem Leben tue, tue ich für dich, Dustin. Du bist hier geboren. Du hast es nicht verdient, dasselbe durchzumachen wie ich. Du weißt nicht, wie sehr ich kämpfen musste, um hier Fuß zu fassen. Gut, vielleicht willst du nie nach Oxford oder Cambridge. Aber ich will, dass du es könntest, hörst du? Dass du eines Tages nicht mehr in so einer engen Bude leben musst. Dass du dir ein Haus leisten kannst. Ein richtiges Auto.«

»Was ist das?«

Teddy boxte ihm in die Seite, und sie lachten. »London ist ein hartes Pflaster, Dustin. Ich sehe manchmal Dinge …« Er nahm einen ordentlichen Schluck Bier und lauschte dem Rauschen des Regens, der unmittelbar vor dem Pub auf die Themse niederprasselte. Er liebte dieses Geräusch. Er war so jung gewesen, als sie hierhergezogen waren, dass er sich an gar nichts anderes mehr erinnern konnte. London war sein Leben, Hongkong nichts als ein ferner Schatten. Trotzdem hatte es ihn sein Leben lang verfolgt. »Ich will, dass du es einfacher hast als ich.«

»Und ich will doch über etwas mit dir reden, Dad.«

Teddy wurde hellhörig. »Ist es schlimm?«

»Dad!« Dustin riss die Arme in die Höhe. »Warum glaubst du, dass ich immer und überall nur am Scheißebauen bin?«

Teddy grinste. »Vielleicht, weil du mein Sohn bist?«

Dustin lachte. »Stimmt das, was Opa immer erzählt hat? Dass du den Mädels früher erzählt hast, du könntest in die Zukunft sehen und ihnen damit ordentlich Geld abgeknöpft hast?«

Teddy kippte kurz seinen Kopf zur Seite und umfasste sein Bier. »Wir wollten über dich reden. Schon vergessen?« Sein Telefon klingelte. Umgehend griff Dustin nach seiner Hand.

»Dann geh nicht ran, Dad.« Der Barkeeper stellte ihnen zwei saftige Burger mit einer ordentlichen Portion Pommes vor die Nase.

»Bitte.«

Teddy zögerte. Der Job. Sein Eid. Aber da saß sein Sohn. Der ihn offensichtlich gerade brauchte und sich ihm anvertraute. »Okay.«

Der Klingelton verstummte. Dustin strahlte ihn an, nahm seinen Burger und biss zufrieden hinein. Teddy bedankte sich insgeheim bei dem Regen, der ihn und seinen Sohn hier an diesen Ort gebracht hatte statt in die Copper Box Arena. Mit Dustin in einem Pub an der Theke zu sitzen und zu reden. Ganz offen und ehrlich, von Mann zu Mann … Das machte ihn so unbeschreiblich stolz. Sie sollten das öfter tun. Er würde es öfter tun. »Also, was ist los?« Sein Handy piepte. »Oh nein.«

Dustin stoppte mitten im Kauen. »Dad, bitte.«

Es ging nicht anders. »Wenn mir Ken Kilburn auf die Mailbox gesprochen hat, dann …«

»Dad!«

»Er ist mein Chef, Dustin. Er ist der Chef.« Teddy hatte Verpflichtungen. Die nächste Beförderung stand an. Ein Detective Chief Inspector war nicht nur ein Aufstieg auf die nächste Rangstufe. Er bedeutete mindestens 5.000 Pfund mehr Jahresgehalt. Geld, das er für Dustin dringend brauchen würde. Und für seine neue Wohnung, die er nun ganz allein bezahlen musste. Zumindest so lange, bis Benisha wieder zu sich gefunden hatte. Er griff in die Hosentasche, zog sein Handy heraus und bereute es umgehend. Dustin klatschte seinen Burger zurück auf den Teller, bevor Teddy auch nur ein Wort gesagt hatte. Teddy schloss die Augen und atmete tief durch.

»Ich will es nicht hören, Dad.«

»Dustin, komm. Du bist doch erwachsen.«

Dustin donnerte seinen Ellenbogen auf den Tisch. »Du schnallst es nicht, oder?«

»Wir holen das hier nach, versprochen.«

Dustin nahm sein Bier und trank es in einem Zug halb leer.

»Ich bringe dich bis zur U-Bahn, okay?«

»Klar, die letzten 20 Minuten im Regen bis nach Hause sind kein Problem.«

»Ich rufe deine Mum an und sage, dass sie dich abholen soll.«

Dustin schnaufte. »Vergiss es.«

Teddy nahm sein Handy und wählte Benishas Nummer. Es klingelte.

»Sie ist nicht da, Dad!«

Niemand hob ab. »Was heißt, sie ist nicht da?«

Dustin vergrub sein Gesicht in seinen Händen. »Lass mich in Ruhe.«

»Wo ist sie, Dustin?«

Dustin stand auf und zog sich seine Jacke über. »Frag sie doch selbst. Sowas ist doch dein Job, oder? Du bist doch Bulle.« Er zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Prompt sprang Teddy auf. Dabei stieß er gegen seinen Burgerteller. Scheppernd drehte er Kreise auf dem Tresen und verteilte Pommes in alle Richtungen.

»Dustin, du hast mir versprochen, dass du damit aufhörst.«

»Ach ja?« Er nahm eine Zigarette, schob sie sich demonstrativ in den Mund, »Und du hast versprochen, dass du Zeit für mich hast!«, und verschwand aus dem Pub hinaus in den Regen. Teddy trat vor Wut mit dem Fuß gegen den Tresen. Erst jetzt bemerkte er den riesengroßen Ketchup-Fleck auf seiner Hose.

»Scheiße!«

Der Tod bucht Zimmer 502

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