Читать книгу Der Tod bucht Zimmer 502 - Ronald Ryley - Страница 15

10

Оглавление

11:30 pm, Thurloe Square

Drei Stunden nach Mildreds Abreise konnte Alison zumindest teilweise aufatmen. Roy hatte gemeinsam mit Ken sämtliche Spuren des Krimiabends restlos beseitigt. Die Sitzbank in der Kammer auf halber Treppe stand wieder in der Werkzeugkammer bei den restlichen altbackenen Möbeln von Mildred, die noch auf ihre Abholung warteten. Die vom Küchenmesser zerhackte Tür, die selbstverständlich eine billige Kopie gewesen war, hatten sie mit dem unversehrten Original ausgetauscht sowie das Kunstblut und alle anderen Spuren entfernt. Roy war ein Goldstück. Ein Butler der alten Schule. »Machen Sie Feierabend«, sagte Alison und ließ sich in ihren Sitzsack plumpsen. »Ich bleibe hier noch ein wenig am Kamin und genieße das Feuer. Vielleicht meldet sich mein Honeybun noch.«

»Der große Unbekannte«, neckte er sie.

»Roy.« Sie wusste, dass er es nicht so meinte. Schließlich hatte er ihrem Freund selbst schon einmal Roastbeef zubereitet.

»Dann begebe ich mich in die Küche, Madam. Falls Sie doch noch einen Wunsch haben sollten.«

»Um Himmels willen«, antwortete Alison. »Sie haben zwei anstrengende Tage im Savoy Theater vor sich und obendrein auch noch eine Stunde auf der Toilette gelegen. Und das mit 71 Jahren. Ihnen müssen doch alle Knochen weh tun.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind verrückt, dass Sie sich so etwas antun.« Jetzt, im Nachhinein, schämte sie sich fast dafür, musste aber dennoch lachen. Wie er zwischen Toilettenschüssel und Wand gelegen hatte. »Danke, Roy.«

»Immer wieder gerne, Madam.« Roy neigte den Kopf leicht zur linken Seite, so wie er es immer tat, wenn er nachdachte. »Sie hielt mich wirklich für tot, nicht wahr?«

»Definitiv.«

Roys Lippen zuckten leicht, und in seinen Augen war eine gewisse Schadenfreude unübersehbar.

»Aber erlauben Sie mir eine Frage, Roy. Wie haben Sie das mit dem Kunstblut gemacht? Sie hätten Kens Gesicht sehen sollen. Er hat es tatsächlich für echt gehalten.«

Roys Mundwinkel tänzelten amüsiert auf und ab. »Ein alter Trick aus dem Schultheater. Rote-Beete-Saft mit Gelatine«, er führte Zeigefinger und Daumenspitze zusammen, »und ein wenig Zucker. Das haftet besser.«

Alison lachte. »Deswegen hat es dem Hund so geschmeckt.«

»Wissen Sie, Alison …« Roy beugte sich in ihre Richtung. »… Aber erzählen Sie es bitte keinesfalls weiter …«

Sie schüttelte den Kopf, in spannungsvoller Erwartung des Geheimnisses, das er ihr offenbaren würde.

»Ich hatte schon immer einen gewissen Hang zur Schauspielerei.« Seine haselnussbraunen Augen strahlten. Selbst in seinem hohen Alter hatte das Lächeln, das durch seinen perfekt geschnittenen, weißen Vollbart hindurchschimmerte, unwiderstehlichen Charme. Ein Wunder, dass Roy keine Kinder hatte. In seiner Jugendzeit mussten ihm die Frauen zu Füßen gelegen haben.

»Warum setzen Sie sich nicht einen Augenblick zu mir, Roy, und leisten mir ein wenig Gesellschaft? Haben Sie Lust auf ein Ale?«

Roy hob abwehrend die Hände. »Nicht nötig, Madam.«

»Ach kommen Sie. Ich weiß, wie sehr Sie es lieben.« Also holte sie zwei Flaschen aus dem Kühlschrank, öffnete eine Packung Chips und nahm sie ebenfalls mit ins Kaminzimmer. Roy zeigte sich unangenehm berührt, auch wenn er seine Freude über Alisons Geste nicht verbergen konnte. Zudem hatte sie noch nie einen Menschen gesehen, der sich auf derart vornehme Weise in einen Sitzsack fallen lassen konnte. Gemeinsam mit ihm in diesem noch völlig leeren Kaminzimmer vor einer umgedrehten Obstkiste als improvisiertem Tisch zu sitzen, hatte etwas wunderbar Schräges und Befreiendes.

»Das ist genau das, was Ihre Tante Ihnen immer vorwirft. Sie vermischen die Grenze zwischen Geschäft und Privatsphäre.«

»Ich vermische nichts. Ich bin einfach dankbar, dass ich Sie habe. Ohne Ihre Hilfe hätten wir die Idee von Oliver Montagu für das Chandelier Charity Concert niemals umsetzen können.«

Roy erhob den Zeigefinger. »Sie meinen, ohne Ihr Geld.«

»Warum reden immer alle nur über das Geld? Alles Geld der Welt ist wertlos, wenn Sie keine klugen Köpfe an Ihrer Seite haben, die es verstehen, etwas damit anzufangen. Ich kenne keinen Menschen, der so vielseitig bewandert ist wie Sie.«

Roy wiegelte ab. »Wenn Sie Ihr ganzes Leben als Butler an der Seite von vielseitigen und kreativen Menschen verbringen, kommt das von ganz allein. Sie können schließlich nicht immer warten, bis ein Klempner oder Elektriker im Haus ist.« Er kniff seine Augen zu einem übertrieben verschwörerischen Blick zusammen. »Nicht zu vergessen, all jene Geheimnisse und Tricks, die ich in den zwanzig Jahren an der Seite Ihres Vaters gelernt habe.« Er legte seine linke Hand auf die Brust. »Der Butler eines hochrangigen Mitarbeiters des Scotland Yard zu sein, hat mich immer mit Stolz erfüllt.« Roy erhob den Zeigefinger. »Und ich kann Ihnen verraten, dass es mir möglich war, in all den Jahren meiner Zeit als Butler ein durchaus ansehnliches Vermögen zusammenzusparen.«

Alison betrachtete ihn skeptisch. Meinte er das ernst? Er nahm einen dezenten Schluck von seinem Ale.

»Sie müssen wissen, Alison, dass ich aus sehr bescheidenen Verhältnissen komme. Mein Vater hat seine Erlebnisse im Krieg nie verwunden. Er verfiel dem Alkohol. Auch meine Mutter war von der Arbeit als Sanitäterin bei der Armee schwer traumatisiert. Ich erinnere mich daran, wie wir Kinder jahrelang durch die Stadt zogen und Schrott sammelten, um uns ein paar Pennys hinzuzuverdienen. Eines Tages lief eine reiche Lady vor uns Kindern her, mit einer Tüte voller dunkelroter Kirschen in der Hand. Dieses Rot werde ich nie vergessen. So saftig, süß und prall. Was hätte ich nur für eine dieser Kirschen gegeben. Sie hingegen kaute nur zwei-, dreimal ganz beiläufig auf einer Frucht herum und spuckte die Kerne anschließend wieder aus. Wir Kinder haben uns wie die Stare auf diese Kerne gestürzt, sie vom Boden aufgelesen und bis auf den letzten Fetzen das Fruchtfleisch abgelutscht.« Roy machte einen Moment Pause. Sein Blick hatte sich tief in der Vergangenheit verfangen. Ein Prickeln wanderte über Alisons Haut, während sie dem Fortgang seiner Geschichte lauschte. »Noch heute sehe ich vor mir, wie sie voller Stolz über die Waterloo Bridge flaniert, links abbiegt, das legendäre Savoy Theater passiert und direkt auf das Savoy Hotel zuläuft. Und dort am Eingang steht ein junger Mann in einem edlen maßgeschneiderten Anzug. Er lächelt der Dame freundlich zu, öffnet ihr die Tür und geleitet sie ins Hotel. In diesen Palast. An diesen Ort, wo alle Sorgen vor der Tür gelassen werden. Wo es nicht einen Wunsch gibt, der unerfüllt bleibt.« Roy nahm einen weiteren Schluck aus seinem Ale, atmete tief durch und schaute Alison in die Augen. »In diesem Moment schwor ich mir: Eines Tages werde ich auch in diesem Hause arbeiten.«

Das Feuer knackte. Alison nahm Roys Hand. »Und morgen ist es so weit.«

»Und besser, als ich es mir je erträumt hätte: Für ein grandioses Charity-Projekt im legendären Savoy Theater. Ihr Vater würde sehr, sehr stolz auf Sie sein, Alison.«

»Dad würde mir die Leviten lesen, wenn er wüsste, was ich seiner geliebten Schwester angetan habe.« Alison vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Oh Gott, Roy. Ich schäme mich so.«

»Sie wird Ihnen verzeihen. Sie wäre nicht ständig so streng mit Ihnen und würde alle vier Wochen zum Sunday Roast erscheinen, wenn sie Sie nicht tief in ihrem Herzen lieben würde.«

»Mildred? Lieben? Mich?« Alison fragte sich, ob diese Frau überhaupt dazu in der Lage war, ein Gefühl außer Neid, Gier oder Missgunst zu empfinden. »Sie behandelt mich wie ein Kind!«

»Weil sie sich sorgt. Sie sind das letzte bisschen Familie, das sie noch hat, Alison.«

Zu ihrer eigenen Verwunderung kämpfte Alison mit Tränen in den Augen. Roy streichelte ihr die Hand. Er war eben doch mehr als ein Butler. Das Telefon klingelte. In freudiger Erwartung griff Alison nach dem Hörer. Doch anstelle der ihres Honeybuns erschien eine ihr unbekannte Londoner Nummer. Sie hatte noch keine Kraft für ein geschäftliches Gespräch, erst recht nicht zu so später Stunde. Sie reichte den Hörer an Roy weiter und ließ sich zurück ins Sofa plumpsen. Ein Wort von ihm genügte, um Alison zurück in die aufrechte Sitzposition zu katapultieren. Sie kannte diesen Tonfall.

»Wie? Nicht bis nach Sandbanks gekommen?«, fragte er.

Sofort flammten Alisons Erinnerungen an jenen Tag wieder auf, an dem sie die Nachricht über den plötzlichen Tod ihres Vaters erreicht hatte. Roys Gesicht wurde fahl und leer. »Der Regen, die Umleitungen, die schwache Blase von Alfie«, wiederholte er.

»Was ist passiert?«, flüsterte Alison. Ihr Herz raste.

»Ein Unfall!«, rief Roy in den Hörer. Dann: »Oh nein. Tot?«

Alison beugte sich vor, konnte jedoch trotz der unüberhörbaren Aufregung der Stimme im Telefonhörer kein Wort verstehen.

»Ja, machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde es ihr sagen.« Roy legte auf, ließ das Telefon sinken und sah Alison ernst an.

»Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben.«

Alison schluckte. Der Klang von Roys Stimme genügte, um zu wissen, dass sie die Nachricht, die nun folgen würde, lieber nicht hören wollte.

»Oliver Montagu ist im Hotel tödlich verunglückt. Mildred hat soeben sein Zimmer bezogen. Sie erwartet Sie morgen pünktlich um drei Uhr im Savoy zum Afternoon Tea.«

***

Der Tod bucht Zimmer 502

Подняться наверх