Читать книгу Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Рошани Чокши - Страница 10

Séverin

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Séverin wusste, dass man sich aller Merkmale, die einen Menschen ausmachten, entledigen musste, wenn man ein Gott werden wollte. Im Gespräch mit Zofia hatte er auch den letzten Funken Wärme in seinem Inneren erstickt und sich direkt etwas weniger menschlich gefühlt. Natürlich könnte er ihr das Geld für die erneute Rückreise in ihre Heimat geben. Tat er aber nicht.

Vor ein paar Tagen war ihm durch den Kopf geschossen, dass sie keinen Grund mehr hätte, nach Polen zurückzukehren, wenn ihre Schwester nicht wäre. Doch so kaltblütig war selbst er nicht. Stattdessen hatte er einen Arzt zum Haus ihres Onkels geschickt. Er versuchte sich davon zu überzeugen, dass das auch viel klüger war. Berechnender. Dass es nichts bedeutete. Und noch während er an dieser Sicht festhielt, musste er an ihre erste Begegnung denken.

Etwa zwei Jahre zuvor waren ihm Gerüchte über eine brillante jüdische Studentin zu Ohren gekommen, die man wegen Brandstiftung und Missbrauchs ihrer Schmiedekunstgabe der Universität verwiesen und ins Gefängnis gesperrt hatte. An dieser Geschichte schien ihm jedoch irgendetwas faul und so hatte er sich von seinem Kutscher zum Frauengefängnis bringen lassen. Zofia war scheu wie ein Fohlen, ihre auffallend blauen Augen wirkten eher animalisch als mädchenhaft. Da er es nicht über sich brachte, sie ihrem Schicksal zu überlassen, nahm er sie mit ins L’Éden. Wenige Tage später berichtete ihm das Personal, sie schlafe nachts immer mit einem Bündel Laken auf dem Boden statt in dem Bett mit der Decke aus Schwanendaunen. Als er das hörte, wurde ihm warm ums Herz.

Dasselbe hatte er bei all seinen Ersatzvätern getan. Er und Tristan waren nie lange bei einem von ihnen geblieben, daher war es gefährlich, sich zu sehr an etwas zu gewöhnen. Auch wenn es nur ein Bett war. Séverin hatte daraufhin alles aus Zofias Zimmer entfernen lassen und ihr einen Prospekt in die Hand gedrückt. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich aussuchen, was sie davon gern haben wolle. Jedes Stück werde von ihrem Gehalt abgezogen, gehöre jedoch dann ganz allein ihr.

»Ich verstehe dich«, hatte er ihr zugeraunt.

Da hatte Zofia ihm zum ersten Mal ein Lächeln geschenkt.

ALS ER SICH der Sternwarte näherte, hörte er Klavierspiel. Es war ein beflügelnder Klang, voll der Hoffnung. Wie angewurzelt blieb er stehen. Die Musik war überwältigend, und für einen kurzen, wundersamen Moment schien sie geradewegs von den Sternen zu kommen, wie die sagenhafte Sphärenmusik – der majestätische Rhythmus der kreisenden Planeten. Als sie verstummte, ließ er die angehaltene Luft aus seiner bereits schmerzenden Lunge strömen.

»Nicht aufhören, Hypnos!«, kam es von Laila.

Séverin kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie gerade lächelte, obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sein Pulsschlag übertönte den Nachhall der Melodie. Zu lächeln fiel ihr leicht. Aber sie hatte schließlich auch nichts verloren. Sie mochte ein wenig enttäuscht darüber sein, dass sie Die Göttliche Lyrik nicht gefunden hatten. Jedoch hatte sie mit dem Buch nur die Neugier hinsichtlich ihrer Vergangenheit befriedigen wollen.

»Seit wann kannst du so gut Klavier spielen?«, fragte sie.

»So gut ist er nun auch wieder nicht«, brummelte Enrique.

Vor zwei Jahren hatte Enrique angefangen, das Klavierspiel zu erlernen. Sehr zum Verdruss aller anderen. Denn kurz darauf donnerten seine »Melodien« durch die Flure. Tristan hatte behauptet, ihm gingen die Pflanzen deswegen ein. Irgendwann hatte Zofia dann »aus Versehen« eine holzzersetzende Lösung über das Instrument geschüttet und seine Übungen damit ein für alle Mal beendet.

Wieder setzte die Musik ein und beschwor weitere Erinnerungen herauf. Séverin krallte die Fingernägel in die Handfläche. Lasst mich in Ruhe, flehte er seine Dämonen an. Sie verschwanden, hinterließen aber den vermeintlichen Duft von Tristans Rosen.

Dieser erinnerungsschwere Geruch brachte ihn ins Straucheln. Gerade noch rechtzeitig riss er den Arm hoch, um sich im robusten Türrahmen abzustützen. Abrupt erstarb die Musik.

Er blickte auf. Hypnos war über das Klavier gebeugt und hatte mitten in der Bewegung innegehalten. Laila saß kerzengerade auf ihrem Lieblingsplatz, der grünen Chaiselongue, Zofia auf ihrem Hocker, eine ungeöffnete Streichholzschachtel im Schoß. Und Enrique schritt nicht mehr auf und ab, sondern war vor seinen Aufzeichnungen zur Göttlichen Lyrik, die am Bücherregal hingen, stehen geblieben.

Vor Séverins innerem Auge schoben sich zwei Bilder übereinander.

Früher. Heute.

Früher hätte es Tee und Butterplätzchen gegeben. Gelächter. Langsam richtete er sich auf, ließ den Türrahmen los und zupfte seine Manschetten zurecht. Herausfordernd sah er die anderen an.

Niemand erwiderte seinen Blick. Bis auf Hypnos.

»Wie ich höre, hast du gute Neuigkeiten für uns, mon cher

Séverin nickte steif und deutete auf die Notizen am Bücherregal.

»Bevor ich anfange, fassen wir noch einmal zusammen, was wir bereits wissen …«

Hypnos seufzte. »Muss das sein?«

»Das letzte Mal ist lange her«, sagte Séverin.

»Knapp zwei Monate, um genau zu sein«, gab Laila spitz zurück.

Séverin sah sie nicht an. Stattdessen gab er Enrique ein Zeichen. Für einen Moment starrte Enrique ihn ausdruckslos an, dann begriff er. Er räusperte sich und deutete auf eine Skizze, die ein Hexagramm – das Emblem des Gefallenen Hauses – und eine goldene Honigbiene sowie den Turm von Babel zeigte.

»In den letzten Monaten haben wir versucht, Die Göttliche Lyrik ausfindig zu machen, ein uraltes Buch über das Geheimnis der Schmiedekunst. Mit dem darin enthaltenen Wissen soll man die Babelfragmente zusammenfügen können und – laut dem Gefallenen Haus – zu göttlicher Macht gelangen«, sagte Enrique. Er suchte Séverins Blick, als wollte er sichergehen, dass er auch auf dem richtigen Weg war. Séverin hob die Augenbrauen.

»Äh … zum Buch selbst gibt es nur wenige Informationen«, beeilte er sich zu sagen. »Die meisten davon stammen aus Legenden. Der einzig sichtbare Beleg für die Existenz des Buchs ist die verblasste Schrift auf einem Stück Pergament. Ein Tempelritter soll damals den Titel niedergeschrieben haben. Allerdings fehlen einige Buchstaben …«

Enrique zeigte ihnen eine Abbildung:

DIEGÖTTLICHELYR

»Der Überlieferung zufolge gibt es das Buch schon seit der babylonischen Sprachverwirrung«, fuhr er fort. Der altbekannte Glanz der Aufregung trat in Enriques Augen. »Angeblich haben ein paar Frauen die obersten Steine des Turms berührt, wodurch ihnen das Wissen der heiligen Sprache zuteilwurde. Diese Erkenntnisse hielten sie in einem Buch fest und machten es sich und ihren Nachfahren zur Aufgabe, die Geheimnisse darin zu hüten, damit niemand die heilige Sprache dazu missbrauchen könnte, den Turm von Babel wiederzuerrichten. Ist das nicht faszinierend?«

Enrique lächelte, seine Hand flog zur nächsten Skizze, auf der neun Frauen abgebildet waren.

»Man nannte sie die Verlorenen Musen, vermutlich in Anlehnung an die griechischen Göttinnen der Künste und Inspiration. Überaus passend, wenn man bedenkt, dass das Schmieden ebenfalls als göttliche Kunst betrachtet wird. In der Antike hat man den Musen zahlreiche Denkmäler gesetzt.« Er starrte wehmütig auf die Bilder. »Und über Die Göttliche Lyrik wird berichtet, es handele sich dabei nicht bloß um irgendein Buch, das jeder lesen kann, sondern man brauche besondere Fähigkeiten dafür, die ausschließlich an die Nachfahren der Verlorenen Musen vererbt würden.«

»Was für ein Schwachsinn«, spottete Hypnos und schlug wieder und wieder dieselbe Taste auf dem Klavier an. »Die Fähigkeit, ein Buch zu lesen, soll auf eine Blutlinie zurückzuführen sein? So funktioniert Schmiedekunst nicht. Die Gabe wird nicht vererbt. Sonst würde ich eine für die Geistschmiedekunst besitzen.«

»Mythen sollte man nicht rundheraus abtun«, widersprach Enrique leise. »Die meisten Mythen sind nur mit Spinnweben verklebte Wahrheiten.«

Hypnos’ Gesichtszüge wurden weicher. »Oh, aber natürlich, mon cher. Nichts läge mir ferner, als dein Handwerk zu verhöhnen.«

Er warf ihm eine Kusshand zu und Enrique … errötete. Séverin runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden hin und her. Hypnos fing seinen Blick auf und grinste schief.

Offenbar hatte er etwas verpasst.

Rasch lenkte Séverin seine Aufmerksamkeit wieder auf Enrique, der eine vergilbte Karte entrollte. Sie zeigte den südlichen Zipfel des indischen Subkontinents. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Laila sich beinahe wehmütig vorbeugte. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus.

»Zuletzt befand sich Die Göttliche Lyrik in Pondicherry, Indien«, sagte Enrique. »Laut den Dokumenten des Babelordens schickte man damals jemanden aus dem Orden los, um das Buch zu holen, doch als der Bote dort ankam, hatte bereits jemand das Artefakt im Namen des Ordens an sich genommen …«

»… woraufhin der Diebstahl für knapp zwanzig Jahre unter den Teppich gekehrt wurde und man behauptete, es wäre verschwunden«, fügte Hypnos hinzu.

Enrique nickte. »Dank Roux-Joubert wissen wir aber, dass wir Die Göttliche Lyrik am ehesten im Schlafenden Palast finden … und genau dort endet unsere Spur.« Er sah zu Séverin. »Es sei denn, du konntest tatsächlich in Erfahrung bringen, wie wir zum Palast gelangen.«

Früher war dieser Moment immer der beste gewesen – der Moment, in dem er etwas Neues enthüllte und dabei zusah, wie sich die Überraschung auf ihren Gesichtern abzeichnete. Er hatte mit Vorliebe geheimnisvolle Andeutungen auf ihre nächste Akquisition gemacht. Zum Beispiel hatte er Laila einmal eine über und über mit goldenen Rosen verzierte Torte backen lassen, weil sie kurz darauf in Griechenland nach der Hand des Midas gesucht hatten. Diesmal konnte er ihnen nicht einmal in die Augen sehen.

»Ja«, sagte er daher nur und blieb in der Tür stehen. »Die Koordinaten des Schlafenden Palasts werden nur von einer Tezcat-Brille offenbart, und wo die sich befindet, weiß ich.«

Zofia beugte sich interessiert vor. »Eine Brille?«

Da zerschnitt Lailas Stimme die Luft. »Und woher stammt dieses Wissen?«, fragte sie kühl.

Sie sah ihn nicht an, er sah sie nicht an.

»Von einem Informanten«, gab Séverin ebenso kühl zurück. »Noch dazu hat er mir eröffnet, dass sich der Schlafende Palast irgendwo in Sibirien befindet.«

»Sibirien?«, wiederholte Hypnos. »Dort … da soll es vor Geistern nur so wimmeln.« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, als erwartete er, dass ihm sofort jemand beipflichtete. Die anderen starrten ihn jedoch nur mit ausdruckslosen Gesichtern an.

Er setzte nach: »Nun ja, das war noch vor meiner Zeit als Patriarch … Mein Vater erzählte mir, vor Jahren sei dort etwas Eigenartiges vorgefallen. Am Baikalsee soll man schreckliche Laute vernommen haben, geradeso als würden sich einige Mädchen die Seele aus dem Leib schreien. Das nahm derartige Ausmaße an und versetzte die dortigen Einwohner so sehr in Aufruhr, dass die russische Fraktion, Haus Dažbog, den Orden gebeten hat, sich der Sache anzunehmen. Mein Vater sandte daraufhin eine kleine Gruppe von Geistschmiedekünstlern aus. Er wollte herausfinden, ob irgendjemand unter fremdem Einfluss stand. Aber niemand konnte je irgendetwas feststellen.«

»Und dann hörte es einfach auf?«, fragte Laila.

Hypnos nickte. »Letzten Endes ja. Die Ortsansässigen waren überzeugt, dass dort Mädchen ermordet worden seien, aber man fand nie auch nur eine Leiche.« Mit dünner Stimme fügte er hinzu: »Ich hoffe sehr, der Schlafende Palast befindet sich nicht in Sibirien.«

Enrique setzte eine zerknirschte Miene auf. »Ich denke, schon allein der Name bestätigt es uns. Es ist nicht eindeutig geklärt, welchen Ursprung das Wort ›Sibirien‹ hat, aber es klingt verdächtig ähnlich wie das tatarische Wort sib ir für schlafendes Land. Daher auch der Schlafende Palast. Ich kann mich aber auch irren«, sagte er hastig, als er den panischen Ausdruck auf Hypnos’ Gesicht sah. »Wo finden wir diese Brille denn überhaupt? In einer Bank? Einem Museum?«

»Auf einem privaten Anwesen«, sagte Séverin.

Er stupste den Mnemospion an seinem Kragen an. Der Schmiedekunstkäfer erwachte mit einem Zittern zum Leben, surrte mit den juwelenfarbenen Flügeln und klickte mit den Zangen. Er riss den Mund auf und projizierte ein Bild an das Bücherregal, auf dem ein stattlicher Herrensitz an der Newa zu sehen war. Der Straßenname stand am Rand: Anglijskaja Nabereschnaja. Der Englische Kai in Sankt Petersburg in Russland.

»Das nenn ich mal ein … großes Haus«, sagte Enrique.

»Und es liegt in Russland?«, fragte Zofia und kniff die Augen zusammen.

Séverin wechselte zu einer weiteren Außenaufnahme des Anwesens. »Die Tezcat-Brille befindet sich in der privaten Sammlung eines Kunsthändlers, in einem Raum, den man den Göttinnensaal nennt. Allerdings konnte ich keine Informationen …«

Enrique schrie auf. »Von dieser Installation habe ich gehört! Sie ist Hunderte von Jahren alt, und niemand weiß, von welchem Bildhauer sie stammt. Falls sie überhaupt der Bildhauerei zuzuordnen ist. Aber das ist meine Vermutung. Ich wollte sie immer schon mal sehen!« Er strahlte sie alle an und seufzte. »Was sich wohl alles im Göttinnensaal befindet?«

Zofia hob eine Augenbraue. »Göttinnen?«

»Das ist doch nur der Name dieses Meisterwerks«, sagte Enrique missbilligend.

»Der Name lügt also?«

»Nein, der Name soll nur das Wesen der Kunst einfangen, möglicherweise verbirgt sich darin aber etwas ganz anderes.«

Zofia runzelte die Stirn. »Manchmal verstehe ich Kunst einfach nicht.«

Hypnos hob sein Glas. »Hört, hört.«

»Wir müssen also nur in diesen Saal, die Tezcat-Brille finden und wieder raus«, fasste Zofia zusammen.

»Nicht ganz«, erwiderte Séverin. »Die Tezcat-Brille ist ein Gestell mit Ornamenten, aber einen entscheidenden Teil – nämlich eine Linse – trägt der Kunsthändler um den Hals.« Er hielt kurz inne und schaute auf seine Notizen: »Ein gewisser Monsieur Michail Wassiljew.«

»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor …«, sagte Hypnos und rieb sich das Kinn. »Und ihm gehört auch der Göttinnensaal?«

Séverin nickte.

»Aber warum sollte das Gefallene Haus ihm den Schlüssel zu seinem altehrwürdigen Palast und dem Schatz überlassen?«, fragte Hypnos. »Was hat er mit der ganzen Sache zu tun?«

»Und warum sollte er ihn um den Hals tragen?«

»Angeblich hat er keine Ahnung, worum es sich dabei handelt«, antwortete Séverin. »Meinem Informanten zufolge ist die Linse als persönliches Andenken getarnt. Es sieht aus wie der Schlüssel zum einstigen Schlafgemach seiner Geliebten.«

Laila starrte auf ihren Schoß und fummelte an einer Troddel ihres Kleides herum. Dieser blutrote Farbton machte ihn wütend. Er konnte den Anblick nicht ertragen.

»Aber warum ausgerechnet er?« Enrique ließ nicht locker.

»Er ist einflussreich genug, um bestimmte Sicherheitsmaßnahmen für seinen Besitz zu ergreifen, aber nicht bedeutend genug, um viel Aufsehen zu erregen«, erwiderte Séverin. »Ihn verbindet nichts mit dem Orden, sodass man ihn auch nicht verhören würde. Der größte Skandal in seiner Vergangenheit war die Affäre mit einer Primaballerina, die in die Brüche gegangen ist. Er hat sie geschwängert, sich aber geweigert, sie zu heiraten. Das Kind starb bei der Geburt, woraufhin sie sich umgebracht hat.«

Enrique erschauderte und bekreuzigte sich.

»Anschließend tauchte Wassiljew für einige Jahre ab. Zu der Zeit muss er den Göttinnensaal erworben haben. Seine Schuldgefühle trägt er noch heute um den Hals.«

»Jetzt fällt es mir wieder ein … der russische Eremit«, sagte Hypnos und schüttelte den Kopf. »Wie willst du ihn aus dem Haus locken? Was den Klatsch und Tratsch von Sankt Petersburg angeht, bin ich schon länger nicht mehr auf dem neuesten Stand, aber soweit ich weiß, verlässt er sein Haus nur für …«

»Das kaiserliche Ballett«, beendete Séverin den Satz und wechselte zu einem Bild des stattlichen Mariinskij-Theaters in all seinem Glanz und Prunk. Auf den Außenbalkonen drehten geschmiedete Ballerinen ihre Pirouetten im Mondschein, bevor sie sich in Rauch auflösten. »Die nächste Aufführung ist in drei Tagen und er wird dort sein. Ich brauche einen Platz neben seiner privaten Loge.«

Hypnos schnippte mit den Fingern. »Ist so gut wie erledigt. Für Ordensmitglieder ist dort dauerhaft eine Loge reserviert. Ich kann dir eine Karte besorgen.«

»Wie das?«, fragte Enrique.

»So, wie immer.« Hypnos zuckte mit den Schultern. »Mit Geld, Charme et cetera pp.«

»Ich werde mehr als eine benötigen. Eher zwei oder drei«, sagte Séverin und riskierte einen Seitenblick auf Laila. »Laila wird mich als Mätresse auf diese Mission begleiten. Aber es wäre gut, wenn sich noch jemand anschließen würde.«

Schweigen.

Séverin hob die Augenbrauen. »Man sollte doch meinen, dass zwei Leute genügen, um sich Zutritt zu Wassiljews Haus zu verschaffen. Jemand Drittes kommt mit uns.«

Erneutes Schweigen.

Enrique schien auf einmal fasziniert von seinen Fingernägeln. Zofia machte eine finstere Miene. Séverin sah zu Hypnos. Doch von ihm erntete er nur ein »Ts«.

»Für kein Geld der Welt würde ich mich zwischen euch beide in die Zuschauerloge setzen.«

Enrique griff hastig nach einem Glas Wasser und trank so gierig daraus, dass er sich prompt verschluckte. Zofia klopfte ihm auf den Rücken. Séverin versuchte, Lailas Blick zu meiden, aber es war, als wollte er die Sonne ignorieren. Er musste sie nicht sehen, um zu bemerken, dass sie ihn anfunkelte.

»Es gibt noch einige andere Dinge zu beachten«, sagte Séverin schroff. »Wassiljew hat einen eigenen Privatsalon im Theater, den er nur zusammen mit seinen Wachen aufsucht. Zutritt wird nur denjenigen mit einem ganz bestimmten Blutschmiedekunst-Tattoo gewährt …«

»Blutschmiedekunst?«, wiederholte Zofia und wurde blass.

Hypnos pfiff durch die Zähne. »Zweifelsohne ein recht teures Vergnügen.«

»Blutschmiedekunst? Was ist das noch gleich?«, fragte Enrique. »Das habe ich doch schon mal irgendwo gehört.«

»Eine Mischung verschiedener Gaben«, erklärte Zofia. »Für Geist und Materie, für Metall in Flüssigkeiten und Festkörpern.«

»Es ist sehr selten, dass man jemanden findet, der sowohl den Geist als auch das Eisen im Blut manipulieren kann«, fügte Hypnos hinzu. Er grinste verschmitzt. »Aber auch äußerst erquicklich.«

Séverin war derartigen Künstlern im L’Éden schon einige Male begegnet. Viele von ihnen konzentrierten sich bei der Optimierung ihrer Fähigkeiten jedoch lieber auf das Schmieden von Eis. Diejenigen aber, die sich auf Blut spezialisierten, wurden vor allem von Klienten aufgesucht, die es entweder nach Betäubung während schmerzhafter medizinischer Eingriffe verlangte oder nach Entspannung, um die Sinne für gewisse »Vergnüglichkeiten« zu schärfen.

»Wir brauchen etwas, um Wassiljew von seinen Wachen zu trennen«, sagte Séverin. »Etwas, das Menschen entzweien kann …«

»Geld?«, fragte Enrique.

»Liebe!«, steuerte Hypnos bei.

»Magnete«, sagte Zofia.

Laila, Enrique und Hypnos starrten sie an.

»Starke Magnete«, verbesserte sich Zofia.

»Kriegst du das hin?«, fragte Séverin.

Zofia nickte.

»Damit haben wir aber noch nicht geklärt, wie wir in den Salon kommen«, gab Enrique zu bedenken.

»Was das betrifft, habe ich schon eine Idee«, sagte Laila. »Schließlich bin ich L’Énigme, und wenn ich das möchte, eilt mein Ruf mir weit voraus.«

Widerwillig sah Séverin sie nun doch an. Tausend Bilder setzten sich vor seinen Augen zusammen und zerfielen wieder. Er sah ihr zuckerbestäubtes Haar. Ihren Körper – verschwommen am Rande seines Blickfeldes – an dem Abend im Palais des Rêves, an dem er sich auf sie geworfen hatte, weil er dachte, Roux-Joubert hätte es auf sie abgesehen. Er erinnerte sich an die Worte, die sie so sehr verletzt hatten, und wünschte inzwischen, sie wären wahr. Wenn sie doch nur nicht echt wäre!

Fragend sah Laila ihn an. »Ich soll dir doch helfen, oder etwa nicht?«

»Ja.« Séverin tat so, als würde er seine Ärmel zurechtzupfen. »Übermorgen brechen wir auf nach Sankt Petersburg. Bis dahin haben wir noch eine Menge zu tun.«

»Und was machen wir, sobald wir die Tezcat-Brille haben?«, fragte Hypnos. »Informieren wir den Orden und –«

»Nein«, unterbrach Séverin ihn scharf. »Ich will nicht, dass sie sich einmischen. Nicht, bevor wir nicht genau wissen, womit wir es zu tun haben. Bald findet die Winterversammlung in Russland statt. Wenn wir bis dahin mehr in Erfahrung gebracht haben, weihen wir sie ein.«

Hypnos runzelte die Stirn, doch Séverin ging nicht weiter darauf ein. Das hier würde er sich vom Orden nicht nehmen lassen. Nicht nach allem, was passiert war. Séverin wandte sich ab, um zu gehen. Draußen wurde es allmählich dunkel.

Früher hatte ihm dieser Raum zeigen sollen, dass die Sterne in Reichweite waren. Früher hatten sie alle den Kopf in den Nacken gelegt und staunend in den Himmel hinaufgesehen. Nun aber schienen die Sterne sie mit ihrem strahlenden Weiß zu verhöhnen: das spöttische Grinsen des Schicksals. Konstellationen, die sich wie eine überirdische Handschrift über das Firmament zogen und das unabänderliche Los aller Sterblichen festlegten. Jedoch nur, bis sie das Buch fanden, dachte Séverin.

Dann könnten die Sterne ihnen nichts mehr anhaben.

Die silbernen Schlangen (Bd. 2)

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