Читать книгу Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Рошани Чокши - Страница 13
Séverin
ОглавлениеSéverin hatte sieben Väter, aber nur einen Bruder.
Sein vierter und ihm liebster Vater war Maßlosigkeit. Maßlosigkeit war ein freundlicher Mann mit vielen Schulden – was es gefährlich machte, ihn zu lieben. Tristan zählte stets die Minuten, die er fort war – aus Angst, er könnte sie verlassen –, ganz gleich, was Séverin auch tat, um ihn zu beruhigen. Nach Maßlosigkeits Beerdigung fand Séverin einen dreckverschmierten Brief unter seinem Schreibtisch.
Meine kleinen Goldgruben, es tut mir außerordentlich leid, aber ich werde mein Amt als euer Vormund nicht länger ausüben können. Ich habe um die Hand einer reizenden reichen Witwe angehalten, die nicht wünscht, Kinder um sich zu haben.
Séverin hielt den Brief fest umklammert. Wenn Maßlosigkeit bald heiraten wollte, warum hatte er sich dann mit Rattengift das Leben genommen? Ein Gift, das nur im Gewächshaus aufbewahrt wurde, um Schädlinge fernzuhalten. In einem Gewächshaus, das Maßlosigkeit so gut wie nie betrat, Tristan hingegen liebte.
»Du hast ja noch mich«, hatte Tristan bei der Beerdigung gesagt.
Ja, dachte Séverin. Aber war sein kleiner Bruder wirklich die Person, die er vorgegeben hatte zu sein?
WÄHREND DIE TROIKA durch die Straßen von Sankt Petersburg rumpelte, holte Séverin Tristans Taschenmesser hervor. Eine schimmernde Ader mit Goliaths betäubendem Gift verlief entlang der Schneide. Wenn er das Messer berührte, bildete er sich ein, über weiche Federn zu streichen, über Rückstände von Tristans Gewalttaten. Doch dann erinnerte er sich an Tristans breites Grinsen und seine klugen Witze. Es passte einfach nicht zusammen. Wie konnte jemand so viel Liebe und zugleich so viel Finsternis in seinem Herzen tragen?
Die Troika kam zum Stehen. Durch die zugezogenen Samtvorhänge vernahm er Gelächter, Violinenklänge und das glockenhelle Klirren von Gläsern.
»Wir haben soeben das Mariinskij-Theater erreicht, Monsieur Montagnet-Alarie«, schallte es vom Kutschbock her.
Séverin steckte das Messer in eine Innentasche seines Sakkos. Sie war mit Stahl ausgekleidet, damit er sich nicht aus Versehen verletzte. Bevor er ausstieg, schloss er die Augen und rief sich das Bild von Roux-Joubert in den Katakomben ins Gedächtnis. Ihm tropfte Ichor von den Lippen, das goldene Blut der Götter. Und Séverin spürte abermals, wie die schwarzen Federn aus seinem Rücken sprossen, die Flügel sich an seine Schultern schmiegten, wie ihm Hörner wuchsen. Und er spürte diesen unverkennbaren Rausch der Unbesiegbarkeit. Der Göttlichkeit. Ob gut oder schlecht, kümmerte ihn nicht. Er wollte mehr davon.
Im Inneren des Mariinskij-Theaters stolzierte die ruhmreiche Elite Sankt Petersburgs auf und ab und vertrieb sich die Zeit vor Beginn der Aufführung. Am Eingang drehte sich eine geschmiedete Eisskulptur langsam um sich selbst. Sie sah aus wie Snegurotschka, das Schneemädchen aus den russischen Märchen. Das Kleid mit den Eissternen und Kristallperlen funkelte im Licht und erzeugte Frostmuster auf dem roten Teppichboden. Frauen trugen Kokoschniks mit Goldapplikationen und Schwanenfedern und kicherten hinter vorgehaltenen blassen Händen. Ambradüfte vermischten sich mit Tabakrauch und Salz, gelegentlich versetzt mit einem metallischen Hauch von Schnee. Zwei Frauen in Pelzen aus Hermelin und Zobel gingen an ihm vorüber. Er schnappte Fetzen ihres Geschwätzes auf.
»Ist das der Hotelier aus Paris?«, wisperte die eine. »Wo er wohl sitzen wird?«
»Starr ihn nicht so an, Jekaterina«, ereiferte sich die andere. »Gerüchten zufolge wärmt ihm heute Nacht irgend so eine Cabaret-Diva oder Kurtisane das Bett.«
»Ich für meinen Teil sehe niemanden an seiner Seite«, gab die Erste hochnäsig zurück.
Séverin beachtete sie nicht weiter und wandte den Blick stattdessen zur Eingangstür aus Elfenbein und Gold. Träge schlichen die Sekunden dahin. Séverin drehte an dem diamantenen Siegelring, der an seinem kleinen Finger steckte. Laila würde es ihm übel nehmen, dass er sie so herbeizitierte, aber sie ließ ihm keine Wahl. Sie hatten sich bereits vor fünfzehn Minuten hier treffen wollen. Séverin sah sich im Foyer um. Ein Kellner in einem glänzenden silbernen Sakko trug auf einem Tablett einige aus Eis geformte, verzierte Gläser mit Schwarzpfefferwodka, daneben Porzellantellerchen mit Zakuski: Essiggurken und glasig schimmernder Fischrogen, Fleischhäppchen in Aspik und dicke Scheiben Roggenbrot.
Ein Mann mit einem Hermelinkragen fing seinen Blick auf und sah ebenfalls zum Eingang. Er schenkte ihm ein wissendes Lächeln, nahm zwei Gläser vom Tablett und reichte Séverin eins davon.
»Za ljubow!«, sagte er beschwingt und kippte den Wodka herunter. Dann senkte er die Stimme. »Das bedeutet ›Auf die Liebe‹, mein Freund.« Er zwinkerte und schaute wieder zur Tür. »Auf dass sie bald erscheinen möge.«
Séverin leerte das Getränk in einem Zug. Es brannte sich einen Weg durch seine Kehle. »Oder lieber darauf, dass sie niemals wieder erscheinen möge.«
Verwirrt sah der Mann ihn an, doch ehe er etwas erwidern konnte, verkündete ein Ansager oberhalb der gewundenen goldenen Treppe: »Meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, Ihre Plätze einzunehmen!«
Die Menschenmenge setzte sich in Bewegung und Séverin schlenderte langsam hinterdrein. Laila war noch immer nicht da. Offensichtlich trieb sie ihn aber selbst in ihrer Abwesenheit in den Wahnsinn. Er meinte, sie aus dem kehligen Gelächter anderer Frauen herauszuhören, wähnte sie hinter einem Fächer, den sie niemals bei sich tragen würde. Er dachte, sie durch das verschwommene Gold eines schwebenden Kandelabers dabei ertappt zu haben, wie sie mit der bronzefarbenen Hand über jemandes Sakko strich. Nur handelte es sich kein einziges Mal um sie.
Im Zuschauerraum glitten goldene Champagnerlüster über die Köpfe der Gäste hinweg, die mit einer flinken Handbewegung volle Gläser auf sich zuschweben ließen. Ein Schmiedekünstler hatte die Stickereien auf den roten Seidenvorhängen über der Bühne so bearbeitet, dass die Fäden sich immer neu zu schwimmenden Kois verwoben. In Séverin regte sich ein Drang, den er noch aus seiner Kindheit kannte. Er wollte das Publikum beobachten, dessen Blicken folgen. Das Staunen darin sehen. Doch er unterdrückte den Impuls.
Séverin schaute zu der leeren Loge nebenan. Der Kunsthändler Michail Wassiljew musste jeden Moment auftauchen. Ungeduldig tippte er mit dem Fuß auf den Boden und stieß kurz darauf einen leisen Fluch aus. Etwas von dem Magnetresistenzpuder, mit dem Zofia ihre Schuhe überzogen hatte, hinterließ eine feine Staubspur auf dem Holzboden. Er sah hinunter auf den diamantenen Siegelring an seiner Hand, der mit Lailas Kette verbunden war, und runzelte die Stirn. Entweder funktionierte er nicht, oder sie hatte sich entschieden, ihn einfach zu ignorieren.
Als er hörte, wie eine Tür aufging, setzte Séverin sich aufrechter hin. Er rechnete fest damit, dass es Laila war. Das Geräusch war jedoch nicht aus ihrer Loge gekommen, sondern aus der von Wassiljew. Zwei bewaffnete Männer tauchten nebenan auf. Ihre Ärmelaufschläge waren hochgekrempelt. Darunter leuchtete im Licht der Gaslampen scharlachrot das Blutschmiedetattoo, das ihnen Zutritt zu Wassiljews Privatsalon in der unteren Etage gewährte. Ein kleines Symbol, ein Apfel, blitzte auf, doch da wandten sich die Wachen auch schon wieder ab und sahen sich prüfend um.
»Warum sitzt er heute nicht in der üblichen Loge?«, murmelte der eine.
»Seine wird gerade instand gesetzt«, sagte der Zweite. »Sie haben sogar den Salon unten restauriert. Mussten irgendwelche Metallpfosten in den Ecken anbringen oder so ähnlich.«
Der andere Wachmann nickte. Dann schnaubte er verächtlich und scharrte mit einem Schuh über den Boden. »Machen die hier gar nicht mehr sauber? Sieh dir mal den ganzen Baustaub an. Igitt.«
»Das alles wird Wassiljew gar nicht gefallen. Er ist heute Abend eh ziemlich nervös.«
»Nun ja, theoretisch hat er auch allen Grund dazu. Schließlich wurde der Löwe aus Veritgestein am Eingang gestohlen. Er weiß nur noch nichts davon, also kein Sterbenswörtchen zu ihm.« Der Mann schüttelte sich. »Er ist momentan so schon kaum zu ertragen.«
Séverin lächelte in sein Glas.
Einer der Wachmänner griff nach der Flasche Champagner, die in einem Eiskübel vor sich hin schwitzte.
»Wenigstens hat das Mariinskij-Theater an eine prickelnde Entschädigung gedacht.«
Der Zweite grunzte.
Dann gingen die beiden hinaus, zweifellos um Wassiljew zu versichern, dass alles im Lot war. Derweil verwandelte sich der gestickte Koi auf dem Vorhang in eine kunstvolle 5.
Noch fünf Minuten, bis die Vorstellung begann.
Wieder öffnete sich Wassiljews Tür. Séverin krallte die Finger in die Armlehnen. Erst als sie ins Schloss fiel, wurde ihm klar, dass es dieses Mal nicht die Loge des Kunsthändlers gewesen war, sondern seine. Plötzlich schwängerte der Duft von Rosenwasser und Zucker die Luft.
»Du bist spät dran«, sagte er.
»Verzeih mir, Séverin, dass du so lange in sehnsüchtiger Erwartung ausharren musstest«, erwiderte Laila gelassen.
Früher hätte sie ihn Majnun genannt, doch das schien eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Er betrachtete sie. Heute Abend trug sie ein prachtvolles goldenes Abendkleid. Unzählige verlockende Schleifen zierten ihre Taille. Ihr Haar war hochgesteckt und in ihren Locken prangte ein Kopfschmuck mit goldenen Federn, der aussah wie eine kleine Sonne. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht weiter hinab zu ihrem Hals. Er war nackt.
»Wo ist deine Kette?«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Tss, Diamanten zu einem glänzenden Kleid wären ein bisschen zu viel des Guten. Unsere Abmachung gibt dir vielleicht das Recht, zu bestimmen, wer mein Bett teilt, aber was ich anziehe, bestimme immer noch ich. Abgesehen davon treten wir heute zum ersten Mal zusammen in der Öffentlichkeit auf. Eine protzige Diamantkette schreit doch geradezu, dass ich nach deiner Pfeife tanze, weil ich dafür bezahlt werde. Dabei ist es nun wirklich kein Geheimnis, dass eine Frau wie ich außerhalb des Cabarets nur an der Seite eines wohlhabenden Mannes existieren kann. Dein Halsband wäre für heute Abend reichlich übertrieben.«
Den letzten Teil äußerte sie in einem bitteren Tonfall, denn es stimmte. Frauen wie Laila konnten sich in dieser Welt nicht frei bewegen – was die Welt zu einem tristeren Ort machte.
»Oder bist du der Meinung, ich treibe es mit meiner Garderobe zu weit?«, fragte sie mit hochgezogenen Brauen. »Wäre dir die Diamantkette zu einem weniger auffälligen Gewand lieber gewesen?«
»Es geht nicht um deine Aufmachung. Es geht darum, den Schein zu wahren«, sagte er gepresst. »Ich habe von dir erwartet, dass du die Loge mit mir zusammen betrittst, und ich erwarte von dir, dass du deine Kette stets bei dir trägst, so wie ich meinen Schwur.«
In diesem Moment öffnete sich der Vorhang und Ballerinen in weißem Tüll wirbelten über die Bühne. Die geschmiedeten Lichter erfassten Lailas Kleid und verwandelten den Saum in geschmolzenes Gold. Séverin ließ den Blick über die Zuschauer schweifen und stellte zu seinem Ärger fest, dass einige von ihnen sich ihrer Loge zugewandt hatten und Laila anstarrten. Zu spät bemerkte er, dass Lailas Hand die Lehne zwischen ihnen überwunden hatte und auf seinem Arm ruhte. Er zuckte zurück.
»Reagiert man so etwa auf das Mädchen, das man liebt?«, fragte sie. »Meine Berührung wirst du doch wohl noch erdulden können.«
Laila beugte sich zu ihm herüber, und Séverin blieb nichts anderes übrig, als sie zu betrachten: den eleganten Schwung ihres Halses, die vollen Lippen und die Augen eines jungen Schwans. Früher, als sie einander noch vertraut hatten, hatte sie ihm erzählt, dass sie wie eine Puppe zusammengesetzt worden war. Als wäre sie dadurch weniger echt. Diese Bestandteile – die Lippen, die er nachgezeichnet, ihr Hals, den er geküsst, ihre Narbe, die er berührt hatte – waren von erlesener Schönheit. Aber das war es nicht, was sie ausmachte. Was sie ausmachte, war ihre Wirkung auf andere. Sobald sie einen Raum betrat, richteten sich alle Blicke auf sie, als wäre sie eine Attraktion, die die Welt noch nie gesehen hatte. Was sie ausmachte, waren ihr verständnisvolles Lächeln, die Wärme ihrer Hände, der Zucker in ihrem Haar.
Ebenso unvorhersehbar wie diese Gedanken drängten sich ihm nun die Erinnerungen an gerupfte Flügel und Ichor auf, an den ersterbenden Glanz in Tristans Augen und Lailas rasenden Herzschlag. Taubheit kroch durch seinen Körper und ließ alles gefrieren, bis er nichts mehr fühlte.
»Ich liebe dich nicht«, sagte er knapp.
»Dann tu einfach so«, flüsterte sie, legte ihm die Hände an die Wangen und zog ihn zu sich.
Sie war ihm so nah, dass er dachte, sie würde …
»Ich habe die Mäntel im Foyer gelesen, um Wassiljews Sicherheitsvorkehrungen auf die Spur zu kommen«, wisperte sie. »Wassiljew postiert immer zwei Wachmänner vor dem Privatsalon. Einer davon ist bewaffnet, der andere hat das Blutschmiedetattoo, um den Raum zu betreten. Der mit dem Tattoo ist einer meiner … Bewunderer.« Séverin entging nicht, wie sich ihre Lippen bei diesen Worten angewidert kräuselten. »Hypnos hat einige Wachen von Haus Nyx beauftragt, die Besucher von dort fernzuhalten. Ein paar von ihnen sind als Wassiljews Personal getarnt.«
Séverin nickte und entzog sich ihr. Er hasste es, ihr so nah zu sein.
»Das war noch nicht alles«, zischte sie.
»Wir ziehen zu viel Aufmerksamkeit auf uns. Erzähl’s mir später.«
Laila verstärkte den Griff um seine Hand, und Séverin war, als würde sie ihn verbrennen. Ihm reichte es. Er umfasste Lailas Kopf und spürte den Puls an ihrem warmen Hals, als er sich über sie beugte. Ihr Atem stockte.
»Jetzt treibst du es definitiv zu weit«, sagte er und ließ sie los.
NACH SECHZIG MINUTEN wurde die Pause angekündigt.
Der Vorhang schloss sich. Séverin lauschte, ob Wassiljew in der Loge nebenan sich erheben würde.
»Ich habe genug gesehen.«
Es war das erste Mal, dass Séverin ihn sprechen hörte, und er klang nicht wie erwartet. Wassiljew war ein breitschultriger Mann mit dunklem Haar und angegrauten Schläfen. Er machte einen kräftigen Eindruck, trotzdem war seine Stimme dünn, beinahe zart. Um seinen Hals lag eine Goldkette, an deren Ende die Linse der Tezcat-Brille funkelte.
Laila stand auf, die Hand auf Séverins Schulter. Sie zog das Halsband der L’Énigme aus dem Dekolleté, legte es an und berührte es sacht. Sofort breitete sich der Kopfschmuck aus Pfauenfedern über ihr Gesicht, verdeckte ihre Augen und die Nase und ließ nur den Blick auf ihren Mund frei – eine sinnliche Verheißung.
Ihr kokettes Lächeln schien den Menschen um sie herum Alibi genug, als sie sich kurz darauf aus der Menge lösten, hinunter zu den Dienstbotengängen schlichen und in einen dunklen Flur einbogen, der abseits des Foyers lag.
Den Eingang zu Wassiljews Privatsalon bildeten zwei dreieinhalb Meter große Marmorhände, die zum Gebet aneinandergelegt waren. Wurde jemandem Zutritt gewährt, glitten die Handflächen wie Türflügel auseinander. Séverin betrachtete das Portal. Bei allen Akquisitionen war es das Gleiche. Jedes Versteck enthielt eine geheime Botschaft, von der der Eigentümer hoffte, sie würde ihn überdauern. Der Kniff an der Sache war, den Zusammenhang zu verstehen. Bei Wassiljews Aufenthaltsraum war es nicht anders. Man hätte denken können, die Hände repräsentierten einen Gast, der Wassiljew gegenüber seine Demut zum Ausdruck brachte. Doch Séverin vermutete, das genaue Gegenteil war der Fall. Die Türen ragten so weit hinauf, dass sie jeden Menschen – ungeachtet dessen Statur – klein erscheinen ließen. Die Geste wirkte entschuldigend. Für Séverin glich sie einem öffentlichen Schuldbekenntnis. Womöglich war es die gleiche Schuld, die Wassiljew dazu veranlasste, die Tezcat-Linse des Gefallenen Hauses stets bei sich zu tragen. Als Andenken an seine verstorbene, geliebte Ballerina.
Séverin begutachtete die beiden Wachposten. Der eine hatte ein Bajonett geschultert, und so, wie er das Gewicht auf eine Seite verlagerte, tippte Séverin auf ein verletztes Bein. Der andere hielt die Hände locker vor dem Körper verschränkt. Als er Laila entdeckte, grinste er schmierig.
»Mademoiselle L’Énigme!«, sagte er und neigte den Kopf. »Ich habe gehört, dass Sie heute Abend hier sein würden.«
Er nahm kaum Notiz von Séverin, der hinter Laila stand.
»Was verschafft uns die Ehre?«
Laila lachte. Ein schrilles, falsches Lachen.
»Wie mir mitgeteilt wurde, erwartet mich einer meiner Bewunderer in diesem Salon und wünscht, mir persönlich Guten Abend zu sagen.«
»Ach, Mademoiselle, ich würde ja gern …« Der Wachmann grinste anzüglich. »Aber ohne das hier ist es Ihnen leider nicht gestattet, einzutreten.« Er hob die Hand und offenbarte das apfelförmige Blutschmiedetattoo. »Oder haben Mademoiselle womöglich irgendwo eins versteckt?«
Sein Blick wanderte ihren Körper hinab, und Séverin verspürte das dringende Bedürfnis, ihm das Genick zu brechen.
»Sie dürfen das gern überprüfen«, erwiderte Laila schmeichelnd.
Der Wachmann machte große Augen. Er richtete seinen Kragen und ging auf sie zu. Laila hob den Saum ihres Kleides und streckte ihr bronzefarbenes Bein zur Begutachtung hervor. Séverin zählte von zehn rückwärts.
9 …
Der Mann führte eine Hand an ihren Oberschenkel.
7 …
Die andere steuerte auf ihre Hüfte zu. Laila lachte gekünstelt.
4 …
In dem Moment, als er zupackte, zog Laila ein Messer und setzte es ihm an den Hals. Unnütz stand Séverin mit seinem eigenen dahinter.
»Hilfe!«, rief der Wachmann seinem Kollegen zu.
Doch der machte keinerlei Anstalten, sein Bajonett zu zücken.
»Halt mir dieses Weibsstück vom Leib!«
Mit erhobenem Messer trat Séverin vor. »Ich fürchte, der arbeitet nicht für Sie, sondern für uns.«
Laila presste die Klinge fester an die Haut des Mannes.
»Wenn Sie mich umbringen, kommen Sie nicht hinein.« Er fing an zu schwitzen. »Sie brauchen mich.«
»Falsch«, sagte Laila. »Wir brauchen nur Ihre Hand.«
Seine Augen weiteten sich. »Nicht, bitte …«
Laila sah zu Séverin. Der hob das Messer höher.
»Nein …«
Séverin ließ seine Hand niedersausen, änderte aber im letzten Moment den Winkel und schlug dem Mann mit dem Griff auf den Hinterkopf. Der sackte in sich zusammen.
»Widerlicher Typ«, zischte Laila und steckte ihr Messer wieder ein. Als sie Séverins Blick bemerkte, zuckte sie nur die Achseln. »Ich wollte dir noch sagen, dass ich ihn auch alleine außer Gefecht setzen kann. Aber du wolltest mir ja nicht zuhören.«
Dazu fiel Séverin nichts mehr ein.
Mithilfe der Wache von Haus Nyx schleiften sie den Bewusstlosen zum Eingang und hielten sein Handgelenk mit dem Blutschmiedetattoo an die dafür vorgesehene Stelle. Als sich die Türflügel ruckelnd öffneten, ließ Séverin den Mann auf den Boden plumpsen.
Er warf der anderen Wache einen Blick zu. »Bereite die Hochzeitskutsche vor.«
Der nickte und eilte davon.
Im Inneren des Salons hingen opulente Vorhänge, Porträts einer rothaarigen Ballerina zierten die lakritzschwarzen Wände. Wassiljew saß an einem Schreibtisch und schien zu zeichnen. Beim Anblick von Laila und Séverin stürzten seine Männer vor.
»Ziemlich staubig hier drin, nicht?«, fragte Séverin.
Er drückte auf den mit den Magneten verbundenen Siegelring von Zofia. Sofort flogen die Wachen rücklings in die vier Ecken des Raumes.
Früher an diesem Tag hatten sich einige ihrer Leute als Handwerker ausgegeben, unter Zofias Anleitung ein paar kräftige Magnetpfosten aufgebaut und etwas von dem Resistenzpuder unter dem Schreibtisch verteilt.
Mit blassem Gesicht starrte Wassiljew sie an.
»Aber wie …?«
»Magnete«, sagte Séverin mit einem grimmigen Lächeln. »Faszinierend, nicht wahr? Es reichen winzige magnetische Partikel auf einem Schuh, um der Anziehung standzuhalten. Und jetzt: Ihre Kette samt Linse, wenn ich bitten darf.«
Er hätte erwartet, dass Wassiljew die Forderung verwirrte. Stattdessen jedoch neigte der Mann sein Haupt. Sein gesamter Körper drückte Schuld aus. Ebenjene Schuld, die Séverin zuvor bereits in der Gestaltung des Eingangs erkannt hatte.
»Ich wusste, dass dieser Moment irgendwann kommen würde.«
Séverin runzelte die Stirn und wollte gerade etwas sagen, da griff Wassiljew zu einem Champagnerglas, trank es in einem Zug leer und schüttelte sich. Er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.
»Begnadet der, der seine Bürde kennt«, sagte Wassiljew. Sein Blick wanderte zu dem Champagner. »Sehr freundlich von Ihnen, mit der Geistschmiedekunst veredelten Champagner bereitzustellen. Er befreit von jeglichen Schuldgefühlen, obwohl mir ohnehin wenige Menschen geblieben sind, denen ich heutzutage Rede und Antwort stehen muss.«
Wassiljew löste die Kette von seinem Hals. Seine Bewegungen wirkten fahrig. Die Tezcat-Linse funkelte hell im dunklen Raum. Sie war so groß wie ein gewöhnliches Monokel und eingefasst in etwas, das aussah wie ein Schlüssel. Er legte sie auf die Tischplatte. Allmählich senkten sich seine Lider.
»Sie ist unberechenbar, müssen Sie wissen«, sagte er matt. »Sie wird Sie finden. Und dann wird sie endlich zur Vernunft kommen.«
Das Kinn sackte ihm auf die Brust, als er das Bewusstsein verlor. Laila sah zu Séverin, das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Von wem redet er?«
Doch darauf wusste auch Séverin keine Antwort.