Читать книгу Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Рошани Чокши - Страница 8
Enrique
ОглавлениеZum fünften Mal in dieser Minute strich Enrique Mercado López sich übers Haar und das blütenweiße Hemd. Er räusperte sich. »Meine sehr verehrten Herren Ilustrados, ich danke Ihnen vielmals, dass Sie heute hier erschienen sind, um meinem Vortrag über antike Weltmächte beizuwohnen. Zur Veranschaulichung habe ich Ihnen eine Auswahl von Schmiedekunstobjekten aus aller Welt mitgebracht. Ich bin der Überzeugung, wir sollten uns bei unserem Streben nach der Unabhängigkeit der Philippinen von historischen Erkenntnissen leiten lassen. Formen wir mithilfe unserer Vergangenheit unsere Zukunft!«
Er hielt inne. Blinzelte. »Hmm … mithilfe unserer Vergangenheit … oder … der Vergangenheit?«
Er sah auf seine Unterlagen. Die Hälfte des Vortrags, den er über Wochen vorbereitet hatte, war angestrichen, durchgestrichen, unterstrichen oder komplett umgeschrieben.
»Der Vergangenheit«, entschied er und fügte eine weitere Änderung hinzu.
Dann ließ er den Blick durch den Lesesaal der Bibliothèque nationale de France schweifen.
Mit den runden Bleiglasfenstern in der Kuppeldecke und den geschwungenen Bögen aus filigranem Gitterwerk, die an Rippen riesiger Fabelwesen erinnerten, mit den buchgesäumten Wänden und den geschmiedeten Nachschlagewerken, die auf grazilen goldenen Regalen thronten und stolz ihre Seiten aufplusterten, war dies einer der schönsten Lesesäle, die er je gesehen hatte.
Doch bis auf Enrique war er menschenleer.
In der Mitte des Raumes schwebte eine große leuchtende Kugel und zeigte die Zeit an: halb zwölf.
Die Ilustrados waren zu spät. Viel zu spät. Um zehn hätte die Versammlung beginnen sollen. Hatten sie sich im Datum vertan? Oder waren die Einladungen verloren gegangen? Kaum vorstellbar. Er hatte die Adressen sorgfältig überprüft und sich den Erhalt bestätigen lassen. Aber ihn so mit Nichtachtung zu strafen, das läge ihnen fern … oder? Inzwischen hatte er seinen Wert als Historiker und Kurator doch sicherlich zur Genüge unter Beweis gestellt. Er hatte Artikel für La Solidaridad geschrieben und darin – wie er glaubte – eloquent dargelegt, weshalb die Kolonien ihren Kolonisten ebenbürtig waren. Zudem zählte zu seinen Gönnern nicht nur Hypnos, ein Patriarch des Ordens von Babel, sondern auch Séverin Montagnet-Alarie, der einflussreichste Investor von Paris und Besitzer des elegantesten Hotels in ganz Frankreich.
Enrique ließ seine Notizen sinken und stieg vom Podium hinab. Betrübt lief er zu dem in der Mitte des Raumes aufgebauten Tisch. Er war für die neun Mitglieder des inneren Kreises der Ilustrados gedeckt … zu denen bald ein zehntes gehören würde, wie er hoffte. Der Salabat genannte Ingwertee war abgekühlt und bald müsste er die Warmhalteplatten voll Afritada und Pancit zudecken. Das Eis im Sektkühler war nur mehr eine Pfütze.
Nachdenklich betrachtete Enrique das Arrangement. Dass die Ilustrados nicht erschienen waren, wäre vielleicht weniger schlimm, hätte er noch andere Gäste eingeladen. Er dachte an Hypnos und ihm wurde warm ums Herz. Ihn hatte er einladen wollen, aber beim kleinsten Anzeichen von zu viel Verbindlichkeit zog der gut aussehende Patriarch sich zurück, denn ihm gefiel die Grauzone zwischen Freundschaft und Liebesbeziehung. Das Ende der Tafel zierte ein Blumenstrauß von Laila, die gewiss nicht aufgetaucht wäre. Ein einziges Mal hatte er sie vor zehn Uhr wecken wollen, doch sie hatte ihn angeknurrt und eine Vase nach ihm geworfen, die nur knapp an seinem Kopf vorbeigesegelt war. Als sie schließlich gegen Mittag die Treppe heruntergestolpert kam, hatte sie sich an nichts erinnern können. Daraufhin hatte Enrique beschlossen, der vormittäglichen Laila fortan aus dem Weg zu gehen. Blieb Zofia. Zofia hätte sicher gern teilgenommen und kerzengerade auf ihrem Stuhl gesessen, mit einem wissbegierigen Funkeln in den flammenblauen Augen. Derzeit befand sie sich jedoch auf der Rückreise von einem Familienbesuch in ihrer polnischen Heimatstadt.
In einem Anflug von Verzweiflung hatte er sogar erwogen, Séverin einzuladen, was ihm dann allerdings etwas zu unaufrichtig erschienen war. Zum einen hatte er diesen Vortrag unter anderem deshalb organisiert, weil er nicht für immer Séverins Historiker bleiben konnte. Zum anderen war Séverin … nicht mehr derselbe. Zwar machte Enrique ihm das nicht zum Vorwurf, doch auch ihm reichte es irgendwann, wenn man ihm stets die Tür vor der Nase zuschlug. Sich selbst redete er ein, es ginge nicht darum, Séverin zu verlassen, sondern darum, wieder am Leben teilhaben zu können.
»Ich habe es versucht«, murmelte er zum hundertsten Mal, »ich habe es wirklich versucht.«
Wie oft er das wohl wiederholen musste, bis die Schuldgefühle endlich nachließen? Trotz ausgiebiger Recherchen hatten sie keine Spur zum Schlafenden Palast gefunden, zu dem Ort, an welchem die Schätze des Gefallenen Hauses aufbewahrt wurden, darunter das Artefakt, das Séverin mehr als alles andere zu finden trachtete: Die Göttliche Lyrik. Dieses Werk in die Finger zu bekommen, würde dem Gefallenen Haus den Todesstoß versetzen. Denn dann würde dessen Plan, die Babelfragmente zusammenzufügen, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Sie mussten dieses Buch an sich bringen. Vielleicht hätte Séverin dann das Gefühl, Tristan gebührend gerächt zu haben.
Aber es sollte wohl einfach nicht sein.
Als der Orden beschlossen hatte, sich der Sache selbst anzunehmen, hatte Enrique Erleichterung verspürt. Tristans Tod ging ihm noch immer nah. Nie würde er seinen ersten Atemzug vergessen, sobald das Ableben seines Freundes zur schrecklichen Gewissheit geworden war. Angestrengt und stockend, als hätte er mit der Welt darum ringen müssen. Zu leben war ein Privileg. Und das gedachte er nicht mit dem Durst nach Rache zu vergeuden. Er wollte weitaus Bedeutsameres erreichen.
Nach dem tragischen Vorfall war Laila aus dem L’Éden ausgezogen. Séverin war so kalt und unzugänglich geworden wie ein Stein. Einzig Zofia war mehr oder weniger dieselbe, doch jetzt war sie nach Głowno gereist … geblieben war ihm Hypnos. Hypnos, der Enriques Vergangenheit gut genug verstand, um – vielleicht – Teil seiner Zukunft sein zu wollen.
»Hallo?«, meldete sich plötzlich eine Stimme.
Enrique fuhr herum, zupfte sein Sakko zurecht und setzte ein breites Lächeln auf. Womöglich waren seine Bedenken umsonst gewesen und sie waren tatsächlich alle spät dran … doch als die Gestalt näher kam, sackte er in sich zusammen. Das war kein Mitglied der Ilustrados. Nur ein Kurier, der ihm zwei Umschläge hinstreckte.
»Sind Sie Monsieur Mercado López?«
»Unglücklicherweise ja.«
»Die hier sind für Sie.«
Einer der Briefe kam von Séverin. Der andere von den Ilustrados. Mit klopfendem Herzen öffnete Enrique den zweiten Brief und überflog ihn. Heiße Scham durchflutete ihn.
… wir haben den Eindruck, diese Position liegt ein wenig außerhalb Ihres Kompetenzbereichs, Kuya Enrique. Das Alter erst verleiht uns Weisheit, und so ist uns bereits die Weitsicht gegeben, die Unabhängigkeit voranzutreiben und zu erkennen, wie wir sie erreichen. Sie sind ein Mann von kaum zwanzig Jahren. Woher nehmen Sie die Sicherheit, zu wissen, was Sie wollen? Mag sein, dass wir uns in friedlicheren Zeiten einmal genauer mit Ihnen und Ihren Angelegenheiten beschäftigen werden. Doch für den Moment unterstützen Sie uns von dort, wo Sie jetzt stehen. Genießen Sie Ihre Jugend. Schreiben Sie Ihre inspirierenden historischen Artikel. Tun Sie, worauf Sie sich am besten verstehen …
Enrique wurde schwindelig. Er sank auf einen der Stühle. Seine halben Ersparnisse hatte er darauf verwendet, den Lesesaal zu mieten, Essen und Getränke zu organisieren und einige der Artefakte als Leihgabe aus dem Louvre hierhertransportieren zu lassen. Und wofür?
Die Tür flog auf. Enrique sah hoch – welche Hiobsbotschaft hatte der Kurier wohl noch zu überbringen? Doch es war nicht der Bote. Ganz und gar nicht. Enriques Puls schoss in die Höhe. Mit diesem Mund, der fürs verschmitzte Grinsen gemacht schien, und Augen, so klar wie gefrorene Feenteiche, marschierte Hypnos auf ihn zu.
»Hallo, mon cher.« Er gab ihm zwei Küsschen auf die Wangen.
Wohlige Wärme durchströmte Enrique. Vielleicht waren nicht all seine Träume töricht. Nur ein Mal wollte auch er umworben werden, jemandes erste Wahl sein. Unentbehrlich sein. Und nun stand Hypnos vor ihm.
»Falls du gekommen bist, um mich zu überraschen und dem Vortrag zu lauschen, weiß ich das sehr zu schätzen … du scheinst allerdings der Einzige zu sein.«
Hypnos blinzelte. »Dem Vortrag lauschen? Mais non. Es ist vor zwölf. Da bin ich doch normalerweise kaum Herr meiner Sinne. Ich bin hier, um dich abzuholen.«
Die wohlige Wärme verpuffte und rasch faltete Enrique seine Träume zusammen und verstaute sie wieder tief in seinem Inneren.
»Hast du denn den Brief nicht erhalten?«, fragte Hypnos.
»Ich habe mehr als genug Briefe erhalten«, murrte Enrique.
Hypnos öffnete den von Séverin und hielt ihn ihm vor die Nase.
EIN PAAR AUGENBLICKE später gesellte Enrique sich zu Laila in Hypnos’ Kutsche. Sie schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. Er lehnte den Kopf an ihre Schulter. Hypnos rutschte zu ihnen auf die Bank, ergriff seine Hand und streichelte sie mit dem Daumen.
»Wie ist es denn gelaufen?«, fragte Laila. »Hast du meine Blumen bekommen?«
Enrique nickte. In seinem Magen brannte noch immer die Scham. Die Ilustrados hatten ihm unmissverständlich mitgeteilt, dass seine Ideen es nicht wert waren, gehört zu werden. Aber den Schatz des Gefallenen Hauses zu finden, dem Orden Die Göttliche Lyrik zurückzubringen … das könnte das Blatt noch einmal wenden. Abgesehen davon fühlte es sich irgendwie richtig an, auf eine letzte gemeinsame Akquisitionsmission zu gehen. Als würde er so nicht nur Tristans Andenken in Ehren halten, sondern auch auf befriedigende Weise mit diesem Kapitel seines Lebens – als Historiker des L’Éden und als Teil von Séverins Mannschaft – abschließen.
»Es ist keiner gekommen«, sagte er, doch seine Worte wurden von dem Geräusch der anfahrenden Kutsche auf dem Schotter verschluckt.
Sie verhallten ungehört.