Читать книгу Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Рошани Чокши - Страница 7
Laila
ОглавлениеLaila starrte auf den Brief, den das Zimmermädchen ihr überreicht hatte. Erst hatte sie gedacht, es handelte sich um eine Nachricht von Zofia, die von ihrer Reise aus Polen zurückgekehrt war. Oder von Enrique, der ihr mitteilte, wie sein Vortrag vor den Ilustrados gelaufen war. Oder von Hypnos, der sie fragte, wann sie mal gemeinsam zu Abend essen könnten. Am allerwenigsten jedoch hatte sie mit diesem Absender und diesen Worten gerechnet:
Ich weiß, wie wir Die Göttliche Lyrik finden.
Treffen um zwölf.
SÉVERIN
Das Rascheln der Decke ließ sie zusammenfahren.
»Komm wieder ins Bett«, ertönte eine schlaftrunkene Stimme.
Kühles Dezemberlicht fiel durch das Erkerfenster ihrer Suite im Palais des Rêves, des Cabarets, in dem sie als Tänzerin L’Énigme auftrat. Mit dem Licht kamen auch die Erinnerungen an den vergangenen Abend. Sie hatte jemanden mit auf ihr Zimmer genommen, was in letzter Zeit nicht unüblich war. Dieses Mal war es der Sohn eines Diplomaten, der ihr nach dem Auftritt Champagner und Erdbeeren spendiert hatte. Er hatte ihr auf Anhieb gefallen. Sein Körper war nicht geschmeidig, sondern kantig, seine Augen waren nicht von sattem Violett, sondern blass wie junger Wein, seine Haare nicht pflaumenschwarz, sondern goldblond.
Sie mochte, wer er nicht war.
Deshalb konnte sie ihm auch das Geheimnis verraten, das sie Tag für Tag von innen heraus auffraß. Ein Geheimnis, dessentwegen ihr eigener Vater sie verabscheute. Ein Geheimnis, das sie selbst ihren engsten Freunden nicht anvertrauen konnte.
»Ich sterbe«, hatte sie gewispert und ihn auf sich gezogen.
»So?« Der Diplomatensohn hatte gegrinst. »Du kannst es wohl nicht abwarten, was?«
Jedes Mal, wenn sie die Worte vor einem ihrer Liebhaber aussprach, schien die Wahrheit zu schrumpfen, und Laila hatte das Gefühl, sie verkleinern zu können, bis sie eines Tages in ihre Hand passte und sie nicht mehr zu überwältigen drohte. Der Jaadugar hatte gesagt, ihr Körper – nicht geboren, sondern geschaffen – würde nur bis zu ihrem neunzehnten Geburtstag bestehen und somit auch sie. Ihr blieb also nur noch rund ein Monat. Die einzige Chance, zu überleben, lag darin, Die Göttliche Lyrik zu finden. Das Buch enthielt das Geheimnis um die Macht des Schmiedens – die Kunst, je nach Begabung, Materie oder Geist zu beherrschen. Vielleicht wäre ihre geschmiedete Hülle damit in der Lage, fortzubestehen. Doch trotz monatelanger Bemühungen waren alle Spuren zum Buch im Sand verlaufen. So hatte sie keine andere Wahl, als die restliche Zeit zu genießen. Und genau das tat sie.
Nun aber breitete sich ein schmerzhaftes Gefühl in ihrer Brust aus. Sie legte den Brief auf den Toilettentisch. Ihre Finger zitterten vom Lesen. Von der Art, ihn zu lesen. Eindrücke durchfluteten sie: Séverin, der Siegelwachs auf das Papier tropfen ließ. Das Leuchten in seinen violetten Augen.
Laila warf einen Blick über die Schulter zu dem jungen Mann auf ihrem Bett.
»Du musst jetzt leider gehen.«
EIN PAAR STUNDEN SPÄTER lief Laila durch die klirrend kalten Straßen von Montmartre. Weihnachten war zwar vorbei, aber der Zauber der winterlichen Feiertage noch nicht ganz verschwunden. Hinter vereisten Fensterscheiben blinkten bunte Lichter. Aus den Bäckereien quoll warmer Dampf, der einen Duft nach pain d’épices verströmte, saftigem Gewürzbrot, das mit bernsteinfarbenem Honig überzogen war. Die Welt verharrte in froher Erwartung auf der Schwelle zum neuen Jahr, und ständig fragte Laila sich, wie viel davon sie wohl noch lebend mitbekommen würde.
In der Morgensonne wirkte das scharlachrote Kleid mit den Onyxen und Rubinen am Kragen, das sie unter dem Mantel trug, ziemlich schrill. Wie in Blut getränkt. Doch damit fühlte sie sich für das gerüstet, was sie im Hotel L’Éden erwartete.
Laila hatte Séverin nicht mehr gesehen, seitdem er ohne Erlaubnis ihre Gemächer betreten und einen Brief gelesen hatte, der nicht für ihn bestimmt gewesen war. Wie anders wären die letzten Wochen verlaufen, wenn er ihn nicht in die Finger bekommen hätte? Wenn sie ihn gar nicht erst verfasst hätte?
Damals hatte sie nicht gewusst, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Die rohe Gewalt, mit der Tristan ums Leben gekommen war, schmerzte sie ebenso sehr wie die dunkle Seite in ihm, die er vor ihnen verborgen hatte. Das Geheimnis war eine zu schwere Bürde für sie gewesen. Sie hatte es nicht für sich behalten können. Und so hatte sie ihrem verlorenen Freund geschrieben, ihm erklärt, was sie herausgefunden hatte und dass sie ihn trotz allem liebte. Von Zeit zu Zeit war es ihr ein Bedürfnis, sich an diejenigen zu richten, die nicht mehr antworten konnten. Darin hoffte sie ein wenig Frieden zu finden.
Sie hatte ihre Gemächer nur für ein paar Minuten verlassen, bei ihrer Rückkehr jedoch Séverin dort angetroffen. Kurz setzte ihr Herz einen Schlag aus. Dann fiel ihr Blick auf den Brief in seiner verkrampften Hand, auf die weiß hervortretenden Knöchel und auf seine Augen, vor Schreck weit aufgerissen und unnatürlich schwarz – wie die Finsternis selbst.
»Wie lang hast du gedacht, das vor mir geheim halten zu können?«
»Séverin …«
»Das ist alles meine Schuld«, murmelte er.
»Unsinn«, erwiderte sie und machte einen Schritt auf ihn zu. »Woher hättest du davon wissen sollen? Er hat sich niemandem von uns anvertraut …«
Doch er wich zurück, seine Hände zitterten.
»Majnun.« Ihr versagte die Stimme beim Klang des Namens, den sie schon so lange nicht mehr benutzt hatte. »Quäl dich nicht. Er ist nun an einem besseren Ort und frei von all seinen Dämonen. Und das könntest du auch sein. Ohne zu sterben.«
Laila ergriff sein Handgelenk, ihre Finger streiften die Schwurmale, die ihre Armreife am Abend seines Geburtstags hinterlassen hatten. Sie hatte gewollt, dass er sie zu seiner Mätresse machte und sie über jeden Fortschritt bei der Suche nach der Göttlichen Lyrik in Kenntnis setzte. Doch den Schwur hatte sie ihm noch aus einem anderen Grund abgenommen. Er sollte wieder etwas anderes spüren als diese stete Taubheit. Und für einen kurzen Moment hatte sie angenommen, sie könnte der Schlüssel dazu sein. Seine grausamen Worte konnte sie nicht vergessen, aber da die Grausamkeit nur seinen eigenen Schuldgefühlen entsprungen war, würde sie ihm verzeihen – solange er sich selbst verzeihen konnte.
»Séverin, entscheide dich für das Leben«, hatte sie ihn angefleht.
Entscheide dich für mich.
Er wandte sich ihr zu, aber sein Blick ging geradewegs durch sie hindurch. Weil Laila nicht miterleben wollte, wie er sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzog, nahm sie sein Gesicht in beide Hände und zwang ihn, sie richtig anzusehen.
»Du kannst nicht alle vor allem beschützen«, sagte sie. »Du bist auch nur ein Mensch, Séverin.«
Bei diesen Worten loderte es in seinen Augen, und in ihr flackerte ein Hoffnungsschimmer auf, der sogleich wieder erlosch, denn er entzog sich ihrem Griff. Ohne einen Ton zu sagen, verließ er das Zimmer. Das Letzte, was sie von ihm gehört hatte, war, dass er die Suche nach der Göttlichen Lyrik wieder aufgenommen hatte. Als könnte er Tristan damit rächen und sich so von der Schuld befreien, dass er lebte, während sein Bruder gestorben war.
Laila schlang den Mantel enger um ihren Körper. Ihr Granatring blitzte auf. Es war nicht lange her, dass sie Zofia gebeten hatte, ihn für sie anzufertigen. Der Stein wirkte ungeschliffen und feucht, als wäre er kein Juwel, sondern ein in Gold eingefasstes Vogelherz. Obenauf prangte die Zahl 24. Noch vierundzwanzig Tage zu leben.
Zum ersten Mal ließ sie nun Zweifel an dieser Zahl zu.
Bisher war es die Erfüllung kleiner Träume gewesen, die sie aufgemuntert hatte – Nachmittage mit Zofia, Hypnos und Enrique, oder ein letzter Winterabend, an dem frischer Schnee die Straßen von Paris zuckerte und ihr Atem Rauchfahnen in die Luft malte. Manchmal bildete sie sich ein, so würde es aussehen, wenn sie starb. Wenn sich ihre Seele aus der Brust löste. Dann wüsste sie wenigstens, dass sich der Tod zwar kalt anfühlte, aber nicht wehtat.
Séverins Brief änderte alles.
Nach Tristans Tod hatte der Orden sie damit beauftragt, die Schätze des Gefallenen Hauses aufzuspüren. Das wiederum setzte jedoch voraus, dass sie den Schlafenden Palast fanden. Und bisher hatte er sich all ihren Versuchen, ihn ausfindig zu machen, widersetzt. Als Séverins Strom von Berichten schließlich versiegt war, hatte der Orden die Suche selbst in die Hand genommen. Für sie und die anderen hatte es demnach keine Winterversammlung mehr geben sollen. Ihr einziger Trost war gewesen, dass sie so wenigstens nicht Séverins Mätresse mimen musste.
Doch wie es nun aussah, käme sie nicht darum herum.
Mit einem Mal drang ein Geräusch zu Laila durch, das ihr zu folgen schien. Das beständige Klipp-klapp von Pferdehufen. Sie blieb stehen und drehte sich langsam um. Eine indigoblaue Kutsche, versehen mit silbernen Ziselierungen, hielt in etwa anderthalb Meter Entfernung. Ein vertrautes Symbol – ein breiter Halbmond, der aussah wie ein listiges Grinsen – schimmerte auf der Tür, die auch sogleich aufschwang.
»Ich bin enttäuscht, dass du mich zu deinem Stelldichein gestern Abend nicht eingeladen hast«, erklang eine ihr wohlbekannte Stimme.
Aus der Kutsche lehnte sich Hypnos und warf ihr eine Kusshand zu. Laila lächelte, fing den Kuss auf und ging auf ihn zu.
»Dafür ist das Bett zu klein«, sagte sie.
»Ich hoffe, das trifft nicht auch auf deinen Gast zu«, erwiderte er und grinste anzüglich. Er zog einen Brief mit Séverins Siegel aus dem Sakko. »Wie ich vermute, wurdest auch du einbestellt.«
Zur Antwort hielt Laila ihren eigenen Brief hoch. Hypnos grinste und machte Platz für sie.
»Lass uns gemeinsam fahren, ma chère. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Laila spürte einen Stich in der Brust.
»Wem sagst du das«, gab sie zurück und stieg ein.