Читать книгу Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Рошани Чокши - Страница 4
Prolog
ОглавлениеDreizehn Jahre zuvor …
Die Matriarchin des Hauses Kore umfasste das Weihnachtsgeschenk in ihrem Arm noch ein wenig fester. Das fein gearbeitete Miniaturtheater verfügte über farbenfroh bemalte Schauspieler und winzige Requisiten – Schwerter, Umhänge, ein Karussell, das sich drehte –, und einen roten Samtvorhang, den man mittels einer klitzekleinen Seilwinde öffnen und schließen konnte. Séverin würde begeistert sein. Die Idee dazu war ihr gekommen, nachdem sie in der Woche zuvor mit ihm im Theater gewesen war. Jeder andere Sechsjährige hätte das Geschehen auf der Bühne verfolgt, doch der kleine Séverin hatte unablässig das Publikum beobachtet.
»Du verpasst das ganze Spektakel, mein Schatz«, hatte sie ihn sanft ermahnt.
Woraufhin Séverin mit großen violetten Augen zu ihr aufgesehen hatte. »Meinst du?«
Danach ließ sie ihn in Ruhe schauen, und hinterher erzählte er hellauf entzückt, wie sich die Gesichter der Zuschauer verändert hatten, wenn auf der Bühne etwas passiert war. Einerseits schien ihm die Magie der Aufführung völlig entgangen zu sein. Andererseits hatte er sie möglicherweise vollständig durchschaut.
Die Matriarchin lächelte in sich hinein, als sie die Stufen des Landsitzes von Haus Vanth erklomm, dessen Fenster anlässlich der Winterversammlung einladend leuchteten. Obwohl die Versammlung stets an einem anderen Ort stattfand – dieses Jahr im kalten Schatten der Alpen an der Rhône –, hatte sich der Ablauf seit Jahrhunderten nicht verändert. Jedes Haus des Ordens von Babel brachte neue, ungezeichnete Schmiedekunstschätze aus den Kolonien mit, um sie bei der Mitternachtsauktion zu versteigern. Für viele der Häuser war es eine Herausforderung, zugleich aber auch ein Zeichen ihrer Macht und ihres Wohlstands, nicht nur eigene Schätze beisteuern, sondern ebenso neue ersteigern zu können. Alle Häuser hatten mindestens ein gesondertes Interessengebiet, einige unter ihnen verfügten allerdings über genügend Ressourcen, um mehreren Vorlieben zu frönen.
Das besondere Augenmerk des Hauses Kore lag auf dem Gebiet der Botanik, doch nicht ausschließlich. Die Kammern und Truhen ihres illustren Hauses waren gefüllt mit ebenso vielen Schätzen verschiedenster Art, wie es Sprachen auf der Welt gab. Andere Ordensfraktionen, wie Haus Dažbog in Russland, bezogen nur wenige herkömmliche Reichtümer aus ihren Kolonien, und so hatten sie sich stattdessen auf den Handel mit Schriftstücken und Geheimnissen spezialisiert.
So unterschiedlich die teilnehmenden Häuser auch waren, Sinn und Zweck der Winterversammlung blieb stets derselbe: den Eid zu erneuern, die westliche Zivilisation mit ihren Errungenschaften, vor allem aber die Babelfragmente, zu schützen, und so die göttliche Kunst des Schmiedens zu bewahren.
Allen hehren Zielen zum Trotz handelte es sich jedoch im Grunde um ein gigantisches Fest.
Das Anwesen des Hauses Vanth badete im Licht der frühen Wintersonne. Aus den Schornsteinen quoll Rauch und schlich katzenartig über das Dach. Die Matriarchin sah die Festlichkeiten bereits vor sich: Zimtstangen in Kelchen voll Glühwein, Gebinde aus Tannenzweigen und künstliche Schneeflocken, geschmiedet, um wie eingefangene Sterne zu funkeln … und zwischen alledem: Séverin. Ein entzückendes Kerlchen, ernsthaft und aufgeweckt. Das Kind, das sie sich für sich selbst gewünscht hätte.
Sie strich sich mit der Hand über den flachen Bauch. Manchmal wurde sie sich der Leere in ihrem eigenen Körper nur allzu bewusst. Doch dann fiel ihr Blick auf den Babelring an ihrem Finger und sie reckte das Kinn. Macht besaß einen feinen Sinn für Ironie, dachte sie. Die ureigene Macht der Frauen, die Freuden der Geburt zu erleben, war ihr versagt geblieben. Die Macht allerdings, die ihr aufgrund ihrer Geburt als Frau hätte versagt bleiben müssen, war ihr gewährt worden. Noch immer war ihre Familie empört darüber, wie ausgerechnet sie es geschafft hatte, die Matriarchin von Haus Kore zu werden.
Es musste ihnen ja nicht gefallen.
Sie mussten sich bloß fügen.
Zu beiden Seiten der schmiedeeisernen Eingangstür thronte je eine große, mit tropfenden Kerzen geschmückte Tanne. Auf der obersten Stufe der Freitreppe grüßte sie der Haushofmeister von Vanth.
»Willkommen, Madame, bitte erlauben Sie mir.« Er nahm ihr das Geschenk ab.
»Seien Sie ja vorsichtig«, ermahnte ihn die Matriarchin.
Sie lockerte die Schultern. Seltsamerweise fehlte ihr nun das Gewicht des Pakets. Für einen Moment hatte es sie daran erinnert, wie es sich anfühlte, Séverin zu tragen. Schläfrig hatte er sich mit seinem warmen Körper an sie geschmiegt, als sie ihn im Anschluss an den Theaterbesuch nach Hause gebracht hatte.
»Madame, verzeihen Sie.« Der Haushofmeister verzog bedauernd das Gesicht. »Ich möchte Sie nicht von den Feierlichkeiten fernhalten, aber … sie … ähem, wünscht, mit Ihnen zu sprechen.«
Sie.
Die Tanne zu ihrer Linken raschelte, als eine Frau dahinter hervortrat.
»Lassen Sie uns allein«, befahl die Frau dem Haushofmeister.
Sofort tat er wie geheißen. Die Matriarchin empfand eine widerstrebende Bewunderung für diese Dame, die weder Macht noch Status im Hause Vanth besaß und doch darin herrschte. Lucien Montagnet-Alarie hatte sie von einer archäologischen Exkursion in Algerien mitgebracht und sechs Monate später hatte sie ihm den gemeinsamen Sohn geschenkt: Séverin.
Es gab viele Frauen, die man wie sie mit dem Kind eines weißen Mannes im Bauch in ein fremdes Land verfrachtet hatte. Sie galten weder als Ehefrauen noch als Mätressen, sondern wandelten wie exotische Geister an den Rändern der Gesellschaft. Doch nie zuvor war der Matriarchin eine Person mit derartigen Augen untergekommen. Séverin mochte als Franzose durchgehen, die Augen aber hatte er von seiner Mutter: düster und violett, wie ein in Rauch gehüllter Abendhimmel.
Der Orden von Babel interessierte sich für Séverins Mutter genauso wenig wie für die haitianische Mutter des Erben von Haus Nyx. Dennoch hatte die Algerierin etwas Besonderes an sich. Das konnte daran liegen, dass sie sich nicht um Gepflogenheiten scherte und sich in ihre absurden Tuniken und Tücher hüllte. Oder an den Gerüchten, die sich um sie rankten. Angeblich besaß sie Kräfte jenseits der bekannten Schmiedegaben. Man erzählte sich, der Patriarch des Hauses Vanth habe sie in einer verwunschenen Höhle gefunden, eine Erscheinung mit unergründlichen Augen, aufgetaucht wie aus dem Nichts.
Geheimnisumwoben.
»Woher nehmen Sie das Recht, mir so aufzulauern?«
Kahina ging nicht darauf ein.
»Sie haben ihm etwas mitgebracht«, sagte sie.
Keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Und?«
Ein Anflug von Schuldgefühlen durchzuckte die Matriarchin, als sie den Blick der anderen auffing: Hunger. Hunger nach allem, wozu sie als Matriarchin in der Lage war und was Kahina selbst versagt blieb. Kahina hatte die Macht besessen, Séverin zur Welt zu bringen, doch ihn ihren Sohn zu nennen, wurde ihr nicht gestattet.
Macht besaß Sinn für Ironie.
»Warum haben Sie dieses Geschenk gewählt?«
Die Frage brachte die Matriarchin des Hauses Kore aus dem Konzept. War das denn wichtig? Sie hatte schlicht und einfach gedacht, es würde ihm gefallen. Sie sah ihn schon vor sich, wie er hinter dem Miniaturtheater hockte und die Puppen bewegte, den Blick nicht auf die Bühne, sondern auf das imaginäre Publikum gerichtet.
Er hatte ein Gespür für Zusammenhänge und dafür, was in anderen Menschen Staunen hervorrief. Vielleicht würde einmal ein Künstler aus ihm.
»Lieben Sie ihn?«, fragte Kahina weiter.
»Wie bitte?«
»Lieben Sie meinen Sohn?«
Meinen Sohn. Die Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Die Matriarchin konnte mit Séverin ins Theater gehen und ihn mit Geschenken überhäufen, so viel sie wollte – er gehörte nicht zu ihr. Für ihr Herz machte das jedoch keinen Unterschied.
»Ja«, antwortete sie.
Kahina nickte. Sie schien sich für etwas zu wappnen. Schließlich sagte sie: »Wenn das so ist … bitte … versprechen Sie mir, ihn zu beschützen.«