Читать книгу Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Рошани Чокши - Страница 9

Zofia

Оглавление

Während des letzten Jahres hatte Zofia Boguska zu lügen gelernt.

Im Dezember hatte sie den anderen erzählt, sie wolle Chanukka in ihrer polnischen Heimatstadt Głowno feiern, wo ihre Schwester Hela als Gouvernante für die Kinder ihres Onkels arbeitete. Doch das war nicht die Wahrheit. In Wahrheit lag Hela im Sterben.

Nun stand Zofia in voller Reisemontur vor der Tür zu Séverins Arbeitszimmer. Weder hatte sie das Gepäck in ihr Gemach gebracht, noch hatte sie den Mantel oder den veilchenfarbenen Hut abgelegt, der – wie Laila gesagt hatte – ihre Augen »hervorhob«, weshalb sie ab und an ängstlich ihre Lider betastete. Sie hatte nicht so bald wiederkommen wollen. Da Séverin keine neuen Akquisitionsmissionen angenommen hatte und ihre Fähigkeiten bei der Suche nach dem Buch Die Göttliche Lyrik bisher keine große Hilfe gewesen waren, war es auch gar nicht notwendig gewesen. Zwei Tage zuvor hatte sie jedoch einen Brief von Séverin erhalten, mit der Aufforderung, umgehend ins L’Éden zurückzukehren. Warum, hatte nicht darin gestanden.

»Fahr ruhig, Zosia, es geht mir schon viel besser«, hatte Hela gesagt und ihr einen Kuss auf den Handrücken gedrückt. »Du musst dich doch auch um dein Studium kümmern. Bekommst du nicht ohnehin Schwierigkeiten, weil du so lange nicht an der Universität warst?«

Zofia wusste nicht mehr, wie viele Lügen sie inzwischen erzählt hatte. Letzten Endes war ihr keine Wahl geblieben. Sie musste zurück, denn ihr Erspartes ging zur Neige. Und Hela hatte recht – ihr Zustand schien sich tatsächlich zu bessern. Vor einigen Tagen noch war sie von Fieberkrämpfen geschüttelt worden. Als sie wieder einmal ins Delirium gefallen war, hatte ihr Onkel nach einem Rabbi geschickt, der die Sterberituale durchführen sollte. Doch stattdessen war ein neuer Arzt gekommen. Er beharrte darauf, Zofia habe für seine Dienste gezahlt, und obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, bat sie ihn herein. Hoffnung ließ sich nicht von Statistiken beeindrucken. Einen Versuch war es wert. An diesem Abend verabreichte der Arzt Hela eine Arznei, von der er behauptete, sie sei nirgends sonst zu bekommen. Und er versprach, dass Hela leben würde.

Und das tat sie.

Am nächsten Tag kam Séverins Brief. Doch auch wenn Hela nun auf dem Weg der Besserung war, entschied Zofia, nicht dauerhaft in Paris zu bleiben. Sie wollte heimkehren und sich um ihre Schwester kümmern … es fehlten ihr lediglich die Mittel. Ihre gesamten Ersparnisse hatte sie für Helas Pflege aufgebraucht. Und für die Zahlungen an ihren Onkel, zum Ausgleich für die Zeit, die Hela seine Kinder nicht unterrichten konnte. Sollte sie sterben, würde er die restlichen Schulden jedoch »großzügig« verfallen lassen.

Schließlich gehörten sie zur Familie.

Und so war Zofia nach Paris zurückgekehrt. Sie wollte sich verabschieden. Außerdem würde sie ihre Laboreinrichtung verkaufen. Mit dem Erlös könnte sie Hela weiter pflegen.

Nun klopfte sie an Séverins Tür. Hinter sich hörte sie die eiligen Schritte seines Faktotums. »Mademoiselle Boguska«, zischte er leise, »sind Sie sicher, dass das nicht warten kann? Monsieur Montagnet-Alarie ist äußerst beschäf–«

Da öffnete sich die Tür und Séverin stand plötzlich vor ihr. Er warf seinem Bediensteten einen kurzen Blick zu und der Mann eilte den Flur hinunter. Zofia fragte sich, wie Séverin es schaffte, ohne Worte Befehle zu erteilen. Diese Art Macht würde sie selbst nie besitzen. Aber – sie umfasste ihr Kündigungsschreiben noch fester – wenigstens würde sie jemanden retten, den sie liebte.

»Wie war deine Reise?«, erkundigte sich Séverin und trat zur Seite, um sie einzulassen.

»Lang.«

Jedoch weit weniger schlimm, als sie hätte sein können. Séverin hatte seinem Brief ein Erste-Klasse-Ticket für ein privates Zugabteil beigelegt, sodass sie unterwegs mit niemandem hatte sprechen müssen. Im Abteil hatte es Lampen mit vielen Fransen gegeben und einen einfarbigen Teppich. Sie hatte beinahe die ganze Fahrt damit verbracht, laut Dinge zu zählen. Nicht nur, um sich zu beruhigen, sondern auch, um sich auf die Aufgabe vorzubereiten, die vor ihr lag.

Abrupt streckte sie Séverin das Schreiben hin. »Ich muss zurück. Meine Schwester braucht mich. Ich kündige. Ich bin nur zurückgekommen, um mich von euch allen zu verabschieden.«

Séverin starrte das Dokument an.

»So wie ich das verstanden habe, wolltest du dir mit dieser Anstellung ein Vermögen aufbauen, mit dem du deiner Schwester das Medizinstudium finanzieren kannst. Ist das nicht länger dein Wunsch?«

»D…doch, aber …«

»Warum solltest du dann kündigen?«

Zofia fehlten die Worte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihr Kündigungsgesuch nicht sofort annehmen würde. Immerhin hatte sie momentan nicht einmal eine richtige Aufgabe im L’Éden. Séverin hatte alle Akquisitionsmissionen auf Eis gelegt, nachdem sich die Suche nach dem Schlafenden Palast als fruchtlos erwiesen hatte. Es gab keine Arbeit für Zofia.

»Meine Schwester liegt im Sterben.«

Séverin verzog keine Miene.

»Und deshalb bist du nach Głowno gereist?«

Sie nickte.

»Warum hast du mich belogen?«

Zofia zögerte. Sie dachte an Tristans letztes Lachen und an Helas fiebrig gemurmelte Erinnerungen, an Chanukka gemeinsam mit der Familie, alle um den Tisch versammelt, während die Mutter mit der Schöpfkelle Eintopf verteilte und es nach Kerzenwachs vom Chanukkaleuchter roch.

»Weil ich es selbst nicht wahrhaben wollte.«

Es gab noch einen weiteren Grund. In Głowno hatte Zofia gerade einen Brief an Laila und Enrique begonnen, da hatte Hela sie zurückgehalten. »Beunruhige sie nicht zu sehr. Nachher machen sie sich nur Sorgen, wer sich um dich kümmern muss, wenn ich nicht mehr da bin.« Was, wenn ihre Schwester recht hatte? Aus Scham, womöglich eine Bürde für die anderen zu sein, hatte sie nicht weitergeschrieben.

In Séverins Gesicht zuckte ein Muskel. Noch immer nahm er das Schreiben nicht entgegen. Zofia dachte daran, wie oft sie ihn Tristans Taschenmesser hatte drehen und wenden sehen, wie oft er vor Tristans Tür verweilte, ohne sie je zu öffnen, oder aus dem Fenster blickte, auf das, was einmal der Garten der Sieben Sünden gewesen war. Und da kam es ihr in den Sinn. »Du verstehst mich.«

Séverin wandte sich abrupt ab. »Deine Schwester wird nicht sterben. Womöglich braucht sie dich trotzdem, aber ich brauche dich dringender. Es gibt einiges zu tun.«

Zofia runzelte die Stirn. Im ersten Moment fragte sie sich, wie Séverin sich Helas Genesung so sicher sein konnte, im nächsten überkam sie eine Woge der Freude. Ohne ihre Arbeit hatte sie sich rastlos gefühlt. Außerdem war sie nicht dafür geschaffen, Helas Stelle im Haus ihres Onkels zu übernehmen, wo ihr gesamter Lohn von den verbleibenden Schulden aufgezehrt würde.

»Ich habe heute Morgen deine Konten überprüft«, fuhr Séverin fort. »Du hast keinerlei Ersparnisse mehr, Zofia.«

Zofia öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Vor Ärger stieg ihr Hitze in die Wangen.

»Du … Dazu hattest du kein Recht. Das ist privat.«

»Nicht für mich. Begleite mich auf diese Mission und ich verdoppele dein Einkommen. Deine Schwester muss nicht weiter als Gouvernante arbeiten, du könntest in den nächsten Jahren bequem für euch beide sorgen. Ich werde sofort veranlassen, dass man ihr Anteile deines Gehalts schickt. Aber nur unter der Bedingung, dass du nicht nach Polen zurückkehrst. Die zusätzliche Summe bekommst du ausgezahlt, sobald der Auftrag erledigt ist.«

»Und ich … darf ich in der Zwischenzeit nichts von meinem Lohn behalten?«

Das gefiel ihr nicht. Sie musste sich ohnehin schon so sehr auf andere verlassen.

»Ich kümmere mich natürlich um deine Lebenshaltungskosten und um die Ausgaben für das Labor.«

»Was ist mit Goliath?«

Séverin wirbelte herum, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Was soll mit ihm sein?«

Zofia reckte das Kinn. Seit Tristans Tod hielt sie die giftige Vogelspinne sicher und geborgen in ihrem Labor. Nur für die Zeit ihrer Reise hatte sie Enrique darum gebeten, auf das Tier aufzupassen. »Eher lasse ich mich bei lebendigem Leibe verbrennen!«, war seine erste Reaktion gewesen. Dies hatte sich jedoch als Übertreibung herausgestellt, denn nach einer kleinen Bedenkzeit hatte er, wenn auch widerwillig, zugestimmt. Sie stellte sich gern vor, wie sehr Tristan sich darüber gefreut hätte.

»Er braucht auch Geld für Kost und Logis.«

Séverin wandte den Blick ab. »Ich kümmere mich darum. Werden wir uns einig?«

Zofia forschte in seinem Gesicht nach bekannten Mustern und Strukturen. Sie war einst in der Lage gewesen, ihn zu entschlüsseln, vielleicht aber auch nur, weil er es zugelassen hatte. Jetzt war er ein Fremder. Ob das eine der Folgen des Todes nahestehender Personen war? Andererseits hatten Hela und sie den Tod ihrer Eltern erlebt, hatten mit angesehen, wie ihr Zuhause und all ihre Besitztümer in Flammen aufgegangen waren. Trotzdem waren sie sich nicht fremd geworden. Zofia schloss die Augen. Hela und sie. Sie hatten einander. Séverin – selbst wenn er mit Blicken Befehle erteilen konnte – hatte niemanden. Ihr Ärger verrauchte.

Als sie die Augen öffnete, dachte sie an Helas mattes Lächeln. Ihretwegen würde ihre Schwester überleben. Zum ersten Mal verspürte Zofia einen Anflug von Stolz. Stets hatte sie sich auf Hela und so viele andere verlassen müssen. Nun würde sie ihre Schuld begleichen. Vielleicht war sie eines Tages auf niemanden mehr angewiesen.

»Ich werde persönlich veranlassen, dass man mir jede Woche mindestens einen Brief von deiner Schwester übermittelt. Auf meine Kosten«, fügte Séverin hinzu.

Zofia dachte an den Handkuss ihrer Schwester. Fahr ruhig, Zosia.

»Einverstanden.«

Séverin nickte und warf einen Blick auf die Uhr. »Dann geh am besten schon mal in die Sternwarte. Die anderen müssten jeden Augenblick hier sein.«

Die silbernen Schlangen (Bd. 2)

Подняться наверх