Читать книгу Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Рошани Чокши - Страница 6

Séverin Noch zwei Wochen bis zur Winterversammlung …

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Séverin Montagnet-Alarie ließ den Blick über das Terrain schweifen, das einst der Garten der Sieben Sünden gewesen war. Seltene, namhafte Pflanzen hatten früher den Boden bedeckt: Aureum mit milchigen Blättern und Chrysanthemum parthenium von hellem Gelbgrün, knochenfarbene Hyazinthen und nachtblühende Fackeldisteln. Und doch waren es die Rosen gewesen, die sein Bruder Tristan am meisten geliebt hatte. Sie waren zuerst gepflanzt worden, und er hatte sie gehegt und gepflegt, bis sie mit ihren tiefroten Blütenblättern und dem betörenden Geruch aussahen und rochen wie der Inbegriff von Sünde.

Jetzt, gegen Ende Dezember, wirkten die Gärten kahl und trostlos. Séverin atmete tief ein, beißende Kälte drang in seine Lunge.

Der Wohlgeruch der Blumen war fast verflogen.

Er hätte natürlich sein Faktotum bitten können, einen Gärtner mit einer Schmiedegabe für Pflanzen zu engagieren. Jemanden, der die Anlage wieder in ihrer ganzen Pracht erstrahlen ließ. Aber er wollte keinen Gärtner. Er wollte Tristan.

Doch Tristan war tot und der Garten der Sieben Sünden war mit ihm gestorben.

An seiner Stelle befanden sich dort nun Hunderte geschmiedeter Illusionsteiche. Die spiegelglatten Oberflächen zeigten Bilder von Wüstenlandschaften oder, sofern sich der Abend bereits über das Anwesen senkte, den Himmel bei Dämmerung. Die Gäste des L’Éden waren von dieser Kunstform äußerst angetan. Sie wussten nicht, dass es Séverins Reue war, die ihn dazu veranlasst hatte – nicht sein Sinn für Ästhetik. Wenn er in die Teiche blickte, wollte er nicht sein eigenes Gesicht darin reflektiert sehen.

»Monsieur?«

Séverin wandte sich um. Eine seiner Wachen kam auf ihn zu.

»Ist alles vorbereitet?«, fragte er.

»Ja, Monsieur. Wir haben den Raum exakt so hergerichtet, wie Sie es verlangt haben. Ihr … Gast … befindet sich nun im Dienstzimmer neben den Stallungen.«

»Und haben wir auch Tee für unseren Gast?«

»Oui.«

»Très bien.«

Séverin atmete tief ein und zog die Nase kraus. Sie hatten die Rosenstöcke an den Wurzeln herausgezogen, sie verbrannt und den Boden versalzen. Trotzdem nahm er jetzt, Monate später, immer noch den Phantomgeruch von Rosen wahr.

SÉVERIN STEUERTE AUF ein kleines Gebäude in der Nähe der Pferdeställe zu. Er berührte das alte Taschenmesser von Tristan, das in seiner Sakkotasche steckte. Ganz gleich, wie oft er die Klinge auch säuberte, er bildete sich nach wie vor ein, die zarten Vogelfedern und Knochensplitter zu fühlen, die es vorher besudelt hatten. Erinnerungen an Tristans Gräueltaten. Der Beweis für seinen Hang zur Gewalt, den sein Bruder so sorgfältig vor ihnen verborgen hatte.

Manchmal wünschte Séverin, er hätte es nie erfahren. Er hätte Laila nicht aufsuchen dürfen. Dabei hatte er sie doch nur von dem irrsinnigen Schwur entbinden wollen, mit dem sie sich selbst dazu zwang, ihn als Mätresse zur Winterversammlung zu begleiten.

Aber er hatte sie nicht angetroffen. Stattdessen fand er Briefe an Tristan und daneben seine Gärtnertasche – von der Laila behauptet hatte, sie wäre verschwunden.

Liebster Tristan, ich dachte, ich würde dir einen Gefallen damit tun, keine Gegenstände von dir zu lesen. Nun aber frage ich mich jeden Tag, ob ich die dunkle Seite in dir früher hätte bemerken können. Vielleicht hättest du dich dann nicht an den armen Vögelchen vergangen. Ich lese alles in der Klinge. Das Töten. Deine Tränen. Auch wenn ich dich nicht in jeder Hinsicht verstanden habe, so habe ich dich doch von Herzen lieb. Bitte vergib mir …

Schon davor hatte Séverin gewusst, dass er sein Versprechen Tristan gegenüber nicht gehalten hatte: Er hatte nicht auf ihn aufgepasst. Doch erst anhand der Briefe erkannte er, wie sehr er tatsächlich versagt hatte. Danach dachte er fortwährend an seine Versäumnisse. Wenn Tristan geweint hatte, war er gegangen, um ihm seinen Freiraum zu lassen. Wenn Tristan wütend ins Gewächshaus gestürmt und tagelang nicht mehr herausgekommen war, hatte er ihn nicht gestört. Er hätte ihm nachlaufen müssen. Stattdessen hatte er ihn einfach seinen Dämonen überlassen.

Beim Lesen der Briefe sah er nicht nur Tristan mit dem todesstarren Blick vor sich, sondern auch die Mienen der anderen, von Enrique, Zofia, Hypnos. Und von Laila. Den glanzlosen Ausdruck in ihren Augen, den der Tod dort hinterlassen hatte. Ein Tod, für den er verantwortlich war, weil er nicht auf sie aufgepasst hatte. Weil er nicht gewusst hatte, wie.

Laila hatte ihn schließlich in ihrem Zimmer erwischt. Er erinnerte sich nicht an jedes einzelne ihrer Worte, aber an die letzten: »Du kannst nicht alle vor allem beschützen. Du bist auch nur ein Mensch, Séverin.«

Er hatte die Augen geschlossen, die Hand schon auf dem Türknauf. Dann muss sich das ändern.

SÉVERIN BETRACHTETE SICH als so etwas wie einen Künstler auf dem Gebiet des Verhörs.

Es kam auf die Kleinigkeiten an und die mussten mehr nach Zufall als nach Kalkül aussehen. Der wackelige Stuhl. Der widerlich süße Blumenduft. Die zu Beginn dargereichten versalzenen Köstlichkeiten. Und das Licht. Es wurde von versteckten Glasscherben reflektiert und warf überall blendend helle Tupfer an Decke und Wände, sodass man nicht anders konnte, als seine Aufmerksamkeit auf den Holztisch zu richten, auf dem soeben warmer, duftender Tee serviert worden war.

»Sitzen Sie bequem?«, fragte Séverin und nahm dem Mann gegenüber Platz.

Der zuckte zusammen. »Ja.«

Séverin lächelte und schenkte sich Tee ein. Der Mann vor ihm war dünn und blass und hatte einen gehetzten Ausdruck in den Augen. Er musterte den Tee misstrauisch. Séverin trank einen großen Schluck.

»Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?«

Der Mann zögerte, dann nickte er.

»Warum … warum bin ich hier? Sind Sie …« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Gehören Sie zum Orden von Babel?«

»Gewissermaßen.«

Einige Monate nachdem sie bei Haus Kore eingebrochen waren, hatte der Orden Séverin und die anderen damit beauftragt, nach dem verlorenen Schatz des Gefallenen Hauses zu suchen. Angeblich sollte er an einem Ort versteckt sein, den man den Schlafenden Palast nannte. Doch niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, wo dieser sich befand. Sollten sie erfolgreich sein, dürfte Séverin im Gegenzug die Kostbarkeiten als Erster genauer untersuchen – ein Privileg, das sonst nur Ordensmitgliedern vorbehalten war. Im Grunde wäre er ja auch längst einer von ihnen geworden, wenn der Wunsch danach nicht verloschen wäre. Nach alledem, was mit Tristan geschehen war.

Der Orden behauptete, er wolle den Schatz in seinen Besitz bringen, um dem Gefallenen Haus auch den letzten Rest Macht zu rauben, aber Séverin wusste es besser. Die Mitglieder des Gefallenen Hauses hatten ihre Karten offengelegt. Sie waren Schlangen, die lange Schatten warfen. Ohne ihre Reichtümer würden sie zwar deutlich schwächer dastehen, das war jedoch nicht der Hauptbeweggrund des Ordens. Die ganze Sache war viel simpler. Durch die Kolonien besaßen die Häuser Kostbarkeiten im Überfluss: Es gab Kautschuk im Kongo, Silber in der Mine von Potosí, Gewürze in Asien. Die verlorenen Wunder aber, die das Gefallene Haus gehortet hatte, stellten eine weitaus größere Verlockung dar. Die Ordensmitglieder würden sich wie die Wölfe darauf stürzen. Deswegen musste er schneller sein. Ihm ging es jedoch nicht um Gold oder Silber. Was er suchte, war wesentlich wertvoller: Die Göttliche Lyrik.

Es war ein Schatz, dessen Fehlen der Orden überhaupt nicht bemerken würde, da er schon seit langer Zeit nicht mehr auffindbar war. Überlieferungen des Ordens zufolge war es mithilfe des Buches möglich, die Babelfragmente zusammenzufügen, daher kannte man es auch unter dem Namen Die Göttliche Fügung. Waren die Fragmente einmal vereinigt, konnte man den Turm von Babel wiedererrichten und so zu göttlicher Macht gelangen. Diesen Plan hatte das Gefallene Haus vor fünfzig Jahren verfolgt und war dafür aus dem Orden ausgestoßen worden. Das Buch galt als verschollen.

Bis Roux-Joubert sich verplappert hatte.

Nach dem Kampf in den Katakomben hatten sich diejenigen Mitglieder des Gefallenen Hauses, die sie noch erwischt hatten, als nutzlose Informationsquellen erwiesen. Nicht nur hatte sich jeder Einzelne von ihnen das Leben genommen. Sie hatten sich auch ihre Gesichter und die Fingerspitzen bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Nur Roux-Joubert hatte es nicht geschafft. Nach dem Mord an Tristan hatte er auf seiner Suizidtablette bloß herumgekaut, statt sie zu schlucken. Und so waren seine Geheimnisse nicht mit ihm ins Grab gewandert. Über mehrere Wochen hinweg war er eines langsamen Todes gestorben und hatte im Wahn zu reden begonnen.

»Der Papa vom Doktor ist ein böser Mensch«, sagte er und lachte hysterisch. »Sie, Monsieur, wissen natürlich alles über böse Väter. Sie haben bestimmt Mitleid … oh, wie gemein er doch ist … lässt den Doktor einfach nicht in den Schlafenden Palast … aber das Buch ist dort, es wartet auf ihn. Er wird es finden. Er wird uns das Leben nach dem Tod schenken …«

Er? Die Ungewissheit darüber, wer das letzte Oberhaupt des Gefallenen Hauses gewesen war, quälte Séverin. Es gab keinerlei Aufzeichnungen über ihn. Und obwohl die Ordensmitglieder enttäuscht waren, weil der Schlafende Palast nicht aufzufinden war, so beruhigte es sie doch, dass es dem Gefallenen Haus ebenfalls nicht gelungen war.

Nur er und Hypnos, der Patriarch von Haus Nyx, hatten nicht aufgegeben, hatten jede Niederschrift, jeden Bericht zweimal gelesen und nach jeder noch so kleinen Ungereimtheit gesucht – was sie schließlich zu dem Mann geführt hatte, der Séverin jetzt gegenübersaß. Ein alter, runzeliger Herr, der sich lange Zeit hatte versteckt halten können.

»Ich habe meine Schuldigkeit doch schon getan«, sagte dieser nun. »Ich war nicht einmal Mitglied des Gefallenen Hauses, nur einer der vielen Rechtsberater. Und ich habe dem Orden bereits gesagt, dass sie mir damals, als man sie stürzte, irgendeinen Trank verabreicht haben. Ich kann mich an keines ihrer Geheimnisse erinnern. Warum bringen Sie mich hierher? Ich besitze keine wertvollen Informationen.«

Séverin stellte seine Teetasse ab. »Ich bin überzeugt, dass Sie mich zum Schlafenden Palast führen können.«

Der Mann setzte einen höhnischen Gesichtsausdruck auf. »Den hat schon ewig niemand mehr gesehen, genau genommen seit …«

»Fünfzig Jahren. Ist mir bekannt«, sagte Séverin. »Soviel ich weiß, ist er gut versteckt. Aber wie mir meine Spitzel berichteten, hat das Gefallene Haus ein spezielles Paar Linsen hergestellt. Eine Tezcat-Brille, um genau zu sein. Sie soll den Standort des Schlafenden Palasts mitsamt seinen verlockenden Schätzen preisgeben.« Séverin lächelte. »Nun ja, jedenfalls haben sie diese Brille einer Person anvertraut, die offenbar gar nicht weiß, was sie da hütet.«

Der Mann starrte ihn mit offenem Mund an.

»W-woher …« Er konnte gerade noch an sich halten und räusperte sich. »Dabei handelt es sich bloß um ein Gerücht. Und ganz sicher befindet sich diese Tezcat-Brille nicht in meinem Besitz. Ich weiß nichts darüber, Monsieur. Das schwöre ich Ihnen bei meinem Leben.«

»Unkluge Wortwahl«, entgegnete Séverin.

Er holte Tristans Taschenmesser hervor und strich über die eingravierten Initialen: T.M.A. Tristan hatte damals keinen Nachnamen und so hatte Séverin den seinen mit ihm geteilt. Unten auf dem Messer war ein Uroboros abgebildet, eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss. Einst war sie das Symbol von Haus Vanth gewesen – dem Haus, dessen Patriarch er hätte werden können, wenn alles nach Plan verlaufen wäre. Wenn sein Traum vom Erbe nicht den Tod der Person verschuldet hätte, die ihm auf der Welt am liebsten war. Jetzt stand das Symbol für das, was er ändern wollte.

Selbst wenn sie Die Göttliche Lyrik fanden, würde es nicht reichen, um die anderen zu beschützen. Sie würden bis an ihr Lebensende eine Zielscheibe auf ihrer Brust tragen, und das konnte er nicht zulassen. Deswegen klammerte Séverin sich inzwischen an einen neuen Traum. Er träumte von der Nacht in den Katakomben, als Roux-Joubert sein Gesicht mit goldenem Blut beschmiert hatte, vom Gefühl seiner Wirbelsäule, die sich dehnte, um Platz für Flügel zu schaffen. Er träumte von dem Druck der Hörner, die ihm aus der Stirn sprossen und sich nach hinten bogen, von den glatten Spitzen, die seine Ohren streiften.

Wir könnten zu Göttern werden.

Genau das versprach Die Göttliche Lyrik. Wenn er das Buch besäße, könnte er sich in einen Gott verwandeln. Götter kannten keinen menschlichen Schmerz. Verluste und Schuldgefühle Sterblicher waren ihnen fremd. Und sie verfügten über die Macht der Wiederauferstehung. Er würde seine neuen Kräfte mit den anderen teilen, sie unbesiegbar machen, sie für immer beschützen. Und wenn sie ihn schließlich verließen, wie es von Anfang an ihr Plan gewesen war, würde er nichts fühlen müssen.

Denn dann wäre er kein Mensch mehr.

»Wollen Sie mich damit erstechen?«, fragte der Mann, deutete auf das Messer und stieß sich vom Tisch ab. »Wie alt sind Sie, Monsieur? Um die zwanzig? Denken Sie nicht, Sie sind noch ein bisschen zu jung, um Blut an Ihren Händen kleben zu haben?«

»Ich glaube, dem Blut ist mein Alter egal«, sagte Séverin und klappte die Klinge wieder ein. »Erstechen werde ich Sie trotzdem nicht. Welchen Sinn hätte das, wo ich Sie doch schon vergiftet habe?«

Der Blick des Mannes glitt zu der Teekanne. Über seinen Augenbrauen bildeten sich Schweißtröpfchen. »Sie lügen. Wäre der Tee vergiftet, hätten Sie sich selbst auch vergiftet.«

»Mit ziemlicher Sicherheit«, sagte Séverin. »Aber das Gift war ja nicht im Tee. Ihre Porzellantasse war damit versetzt. Also …« Er zog ein durchsichtiges Fläschchen aus der Tasche und stellte es auf den Tisch. »Hier ist das Gegengift. Gibt es wirklich nichts, was Sie mir gern sagen möchten?«

ZWEI STUNDEN SPÄTER verschloss Séverin einige Briefe mit Siegelwachs. Einen würde er sofort auf den Weg schicken, die anderen erst in zwei Tagen. Kurz zögerte er, doch dann riss er sich zusammen. Schließlich tat er es für sie. Für seine Freunde. Je mehr Rücksicht er auf ihre Gefühle nahm, desto härter würde seine Aufgabe werden. Und so bemühte er sich, nichts zu fühlen.

Die silbernen Schlangen (Bd. 2)

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