Читать книгу Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Рошани Чокши - Страница 12

Enrique Sankt Petersburg, Russland

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Enrique zurrte seinen Schal fester um den Hals, als könnte er so den russischen Winter fernhalten. Bei jedem Schritt wirbelten Schneeflocken auf und landeten wie kalte Küsse in seinem Nacken.

Sankt Petersburg war eine Stadt in der Schwebe zwischen althergebrachter und moderner Magie. Elektrische Straßenlaternen warfen Kreise goldenen Lichts, Brücken spannten sich wie Engelsflügel. Doch die Schatten wirkten zu scharf, und die Winterluft roch metallisch, wie nach getrocknetem Blut.

Neben Enrique und Zofia glänzte die Newa wie schwarzes Glas. Die Lichter aus den palastartigen Häusern am Englischen Kai – einer der prachtvollsten Straßen der Stadt – hatten ihre Fenster verlassen und sich ins schimmernde Nass gestürzt. Ungestört vom Wind sahen die Spiegelungen auf der Oberfläche aus, als hätte man ein zweites Sankt Petersburg in den Fluss gegossen.

Manchmal glaubte Enrique daran – an andere Welten, erschaffen aus den Wahlmöglichkeiten, die er verworfen, den Wegen, die er nicht eingeschlagen hatte. Er starrte ins Wasser, auf das leicht verschwommene Bild des alternativen Sankt Petersburg. In dieser Parallelwelt war Tristan vielleicht noch am Leben. Vielleicht tranken sie dort Kakao und bastelten eine geschmacklose Krone aus Lametta für Séverin, während sie einen Plan ausheckten, wie sie ein Fass des Champagners für die alljährliche Silvesterfeier im L’Éden für sich abzweigen könnten. Vielleicht hätte Laila das Backen nicht aufgegeben und das Hotel röche noch immer nach süßen Köstlichkeiten und er würde sich mit Zofia um den Kuchen zanken. Vielleicht hätte Séverin dort sein rechtmäßiges Erbe nicht ausgeschlagen und vielleicht war der andere Enrique nicht nur ein Mitglied der Ilustrados, sondern Dreh- und Angelpunkt der Pariser Gesellschaft, umgeben von einer Schar staunender Bewunderer, die an seinen Lippen hingen.

Vielleicht.

Ganz in der Nähe kündigte das schwere Geläut der Sankt Petersburger Uhren die achte Abendstunde an. Enrique lauschte. Und da war es, weit in der Ferne, das silberhelle Läuten der Hochzeitsglocken. In zwei Stunden würde das in der Kasaner Kathedrale frisch vermählte Paar in einer Prozession aus winterlich geschmückten Kutschen diese Straße entlangkommen. Was bedeutete: Noch lagen sie im Zeitplan. Sie wurden erst um Viertel nach acht im Haus des Kunsthändlers an der Uferpromenade erwartet. Doch sie hatten noch ein gutes Stück Weg vor sich. Beim zweiten Glockenläuten erschauderte Enrique. In nur einer Stunde würden Séverin und Laila im Mariinskij-Theater ihre Falle für den Kunsthändler zuschnappen lassen, um an die Tezcat-Linse zu kommen. Gott höchstpersönlich hätte Enrique auf der Stelle ewiges Seelenheil versprechen können – nie und nimmer hätte er dort zwischen den beiden sitzen wollen. Leicht besorgt, weil dieser Gedanke vermutlich an Blasphemie grenzte, bekreuzigte er sich schnell.

Neben ihm hatte Zofia sich seinem Schritt angepasst.

Für diese Mission hatte sie sich als junger Mann verkleidet. Ihr flammenhelles Haar hatte sie unter einen großen Hut gestopft, die zierliche Figur wurde durch einen gepolsterten Mantel und ihre geringe Größe durch geschickt konstruierte Schuhe kaschiert. Ihr eigenes Werk, versteht sich. Aus der Manteltasche lugte ein falscher Bart. Zofia hatte erklärt, er sei viel zu kratzig, um länger getragen zu werden als unbedingt notwendig. Sie zitterte nicht. Wenn überhaupt, so schien sie in der Kälte aufzublühen, als wäre sie in ihrem natürlichen Element.

»Weshalb siehst du mich so an?«, fragte sie.

»Es gefällt mir, dich anzusehen.« Entsetzt darüber, wie sich das anhörte, fügte er hastig hinzu: »Ich meine, deine Maskerade ist beinahe überzeugend. Das weiß ich aus rein ästhetischen Gründen zu schätzen.«

»Beinahe überzeugend«, wiederholte Zofia. »Was stimmt denn nicht?«

Enrique deutete auf seinen Mund. Ihre Stimme verriet sie.

Zofias Miene verdunkelte sich. »Ich wusste es. Das muss eine genetische Veranlagung mütterlicherseits sein.« Sie zog einen Schmollmund. »Ich dachte, die Kälte würde helfen, aber meine Lippen wirken immer etwas zu rot.«

Enrique klappte die Kinnlade herunter.

»Das war es doch, was du meintest, oder?«, fragte Zofia.

»Äh … ja. Genau.«

Nun, da sie ihre Lippen erwähnt hatte, musste er sie natürlich anschauen. Sie waren in der Tat sehr rosig. Einem Winterapfel gleich. Wie sie wohl schmeckten? Plötzlich ging ihm auf, was er da gerade dachte, und er schüttelte sich. Zofia brachte ihn durcheinander. Dieses Gefühl hatte sich schleichend eingestellt und überfiel ihn zu den unmöglichsten Zeiten. Enrique zwang seine Gedanken in andere Bahnen. Zu Hypnos. Hypnos verstand ihn. In Enrique kämpften zwei Seiten um die Vorherrschaft, und er war nie sicher, welche die Oberhand gewinnen würde, die spanische oder die philippinische. Hypnos wusste aus Erfahrung, wie es war, mit einer zwiegespaltenen Seele zu leben, als Sohn eines Kolonisators und einer Kolonisierten. Bislang war ihr Verhältnis zwanglos, was Enrique schon ganz gut gefiel, doch auf lange Sicht wollte er mehr. Er wollte jemanden, der immer zuerst nach ihm Ausschau hielt, wenn er einen Raum betrat. Jemanden, der ihn ansah, als lägen die Geheimnisse dieser Erde in seinem Antlitz verborgen, der ihn gut genug kannte, um seine Sätze zu beenden. Jemanden, mit dem er Kuchen teilen konnte.

Hypnos könnte dieser Jemand für ihn sein.

Ein Partner für ein erfülltes Leben. Eines, wie es auch Tristan hätte haben sollen, dachte Enrique unvermittelt. Er murmelte ein Gebet und berührte sacht die Blume an seinem Revers. Es war eine getrocknete Mondwinde, eine der letzten, die Tristan je geschmiedet hatte. Waren sie frisch, absorbierten sie das Mondlicht und konnten es hinterher über einige Stunden abgeben. Trocken war diese hier nur mehr ein Schatten ihres vormals leuchtenden Selbst.

»Die hast du von Tristan«, stellte Zofia fest.

Enrique ließ den Arm sinken. Er hatte sich unbeobachtet gefühlt. Als er zu ihr hinabblickte, auf ihre Hand in der Tasche, bemerkte er einen nahezu identischen Stängel zwischen ihren Fingern. Und er wusste, Tristan war bei ihnen.

DAS HERRENHAUS MIT Blick auf den Fluss ragte vor ihnen auf wie ein überdimensionales, festlich geschmücktes Puppenhaus. Schnee hatte sich in den Lamettagirlanden an den unzähligen imposanten Säulen verfangen. Der Weg zum Eingang war gesäumt von Tannen, in denen versteckte Glöckchen bimmelten. Bonbonfarbene Mosaiken bedeckten die Kuppeln und die frostverzierten Fenster wirkten wie aus Zucker.

»Erinnerst du dich an unsere Rollen?«, fragte Enrique.

»Du verkörperst einen leicht ablenkbaren, exzentrischen Menschen …«

»Einen Schriftsteller, genau«, unterbrach er Zofia.

»Und ich bin der Fotograf.«

»Ein sehr schweigsamer Fotograf.«

Zofia nickte.

»Lenk den Kammerdiener nur ein paar Minuten ab. Das sollte mir genug Zeit verschaffen, um nach Aufzeichnern Ausschau zu halten, bevor wir den Göttinnensaal betreten.«

Er zupfte den Kragen seines leuchtend smaragdgrünen Samtsakkos zurecht, das er sich von Hypnos geliehen hatte, dann betätigte er den enormen Türklopfer in Form eines brüllenden Löwen. Offenbar war er geschmiedet, denn er verengte die Augen zu Schlitzen, täuschte ein Gähnen vor und ließ daraufhin ein kräftiges, blechernes Gebrüll hören, das die Eiszapfen vom Türrahmen schüttelte. Enrique stieß einen Schrei aus.

Zofia blieb gelassen und hob lediglich eine Augenbraue, sobald er sich wieder gefasst hatte.

»Was?«, fragte er.

»Das war laut.«

»Ja, oder? Dieser Löwe …«

»Ich meinte dich.«

Enrique zog eine Grimasse. In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und der Kammerdiener begrüßte sie mit einem breiten Lächeln. Er hatte helle Haut, einen akkurat gestutzten schwarzen Bart und trug einen bestickten silberblauen Mantel zu bauschigen Hosen.

»Dobryi wetscher«, sagte er herzlich. »Monsieur Wassiljew ist untröstlich, dass er Sie nicht persönlich empfangen kann, doch es freut ihn ungemein, dass man über seine Sammlung berichtet. Insbesondere, wenn es ein so geschätzter Kunstkritiker tut, wie Sie es sind.«

Enrique plusterte sich auf und lächelte ebenso breit zurück. Die falschen Referenzen, die er zusammengestellt hatte, wirkten in der Tat äußerst beeindruckend. Zofia und er traten in das geräumige Vestibül. Bisher schienen die Pläne zu stimmen, die sie sich im Vorfeld besorgt und angesehen hatten. Muster aus Sternen und Rhomben zierten das Mahagoniparkett. Schwebende Laternen erleuchteten die mit Gemälden geschmückten Wände. Sie stellten allesamt Frauen in Bewegung dar. Einige waren mythologisch inspiriert, andere wirkten modern. Enrique erkannte Salomes Tanz der sieben Schleier und eine Darstellung der indischen Nymphe Urvashi, die vor den Hindu-Gottheiten auftrat. Es war jedoch das Porträt einer ihm unbekannten Frau, das die Wand beherrschte. Blutrote Haare kringelten sich an ihrem weißen Hals hinab. Nach den Schuhen zu urteilen, die sie auf dem Schoß hielt, handelte es sich um eine Ballerina.

Der Kammerdiener streckte die Hand aus. »Wir fühlen uns sehr …«

Enrique hob die eigene Hand, zog sie aber zurück, ehe der Mann sie ergreifen konnte, damit er sein Zittern nicht bemerkte. »Unglücklicherweise ertrage ich es kaum, fremde Haut zu berühren. Dies erinnert mich stets an meine Sterblichkeit.«

Der Kammerdiener wirkte ein wenig verstört. »Ich bitte inständig um Verzeihung.«

»Anständig wäre mir lieber«, sagte Enrique blasiert und betrachtete seine Fingernägel. »Nun …«

»Ist die fotografische Ausrüstung angekommen?«, mischte sich Zofia ein.

Enrique brauchte einen Sekundenbruchteil, um seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen. Etwas musste Zofia abgelenkt haben. Sie brachte ihre Einsätze sonst nie durcheinander. Jetzt, da er sie ansah, bemerkte er außerdem, dass sich ihr Schnurrbart an den Rändern leicht ablöste.

»Ja, ist sie. In einer äußerst geräumigen, verschlossenen Reisetruhe«, antwortete der Kammerdiener mit gerunzelter Stirn. Sein Blick irrte flüchtig zu Zofias Bart. »Verzeihen Sie, aber … ist alles in Ordnung?«

Enrique stieß ein hysterisches Lachen aus.

»Ah, dieser gute Mann! Wie aufmerksam er doch ist!« Er nahm Zofias Gesicht in die Hände und drückte unauffällig die Bartenden fest. »Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten … äh …«

Enrique hielt inne. Das war leider alles, was er aus Hamlet behalten hatte. Da setzte Zofia ein: »… in Gestalt und Bewegung, wie bedeutend und wunderwürdig.«

Sprachlos starrte Enrique sie an.

»Sie müssen das exzentrische Gebaren meines Freundes verzeihen«, fuhr sie mit deutlich tieferer Stimme fort, nachdem sie sich offenbar wieder an ihre Rolle erinnert hatte. »Wären Sie so freundlich, mir einige der anderen Räume zu zeigen? Nur ein kurzer Rundgang, mehr wird nicht vonnöten sein. Ich möchte lediglich herausfinden, ob sich weitere Motive für den Artikel eignen.«

Der Kammerdiener machte noch immer große Augen, nickte aber bedächtig. »Hier entlang, bitte …«

Enrique drehte sich langsam um sich selbst, legte die Finger an die Schläfen und atmete tief ein. »Ich werde hier verweilen. Ich muss die Kunst zuerst in mich aufnehmen, sie fühlen, bevor ich mir herausnehme, über sie zu schreiben. Sie verstehen?«

Der Bedienstete schenkte ihm ein angestrengtes Lächeln. »Tun Sie, worauf Sie sich am besten verstehen.«

Und damit führte er Zofia den Flur hinunter.

Sobald sie außer Sicht waren, zog Enrique eine geschmiedete Kugel aus der Tasche, warf sie in die Luft und sah zu, wie sie den Raum nach Aufzeichnern absuchte. Die Worte des Kammerdieners hallten in seinem Kopf nach. Worauf Sie sich am besten verstehen. Er fühlte sich zurückversetzt in den Lesesaal der Nationalbibliothek, als er mit feuchten Fingerspitzen Notizen des Vortrags umklammert hatte, zu dem niemand erschienen war. Und als er den Brief der Ilustrados gelesen hatte.

Schreiben Sie Ihre inspirierenden historischen Artikel. Tun Sie, worauf Sie sich am besten verstehen …

Noch saß der Schmerz tief. Enriques Referenzen hatten ihm nichts genutzt. Er hatte ohnehin kaum erwartet, dass die Worte seiner Professoren und Mentoren großes Gewicht haben würden, aber dass nicht einmal Séverins Einfluss geholfen hatte … Dessen öffentliche Unterstützung bedeutete einen allerorts gleichermaßen hochgeschätzten Faktor: Geld. Doch womöglich waren seine Ideen so töricht, dass kein Geld der Welt es wert war, seinen Ausführungen zu lauschen. Vielleicht war er einfach nicht genug.

Worauf Sie sich am besten verstehen.

Enrique knirschte mit den Zähnen. Inzwischen war die Aufspürkugel auf dem Boden angelangt. Die Luft war rein. Am anderen Ende des Vestibüls hörte er Schritte. Zofia und der Kammerdiener kamen zurück. In wenigen Augenblicken würden sie den Göttinnensaal betreten, in dem sich die Tezcat-Brille befand, die sie letzten Endes zu der Göttlichen Lyrik führen würde. In den Augen der Ilustrados tat Enrique offenbar nichts weiter, als sich mit toten Sprachen und staubigen Büchern die Zeit zu vertreiben, und seine Ideen erschienen ihnen wertlos. Entdeckte er jedoch Die Göttliche Lyrik, wäre das Beweis genug, dass mehr in ihm steckte. Dann konnten sie nicht länger übersehen, dass seine Fähigkeiten Macht verhießen.

Jetzt musste er das Buch nur noch auftreiben.

DER ANBLICK DES Göttinnensaals ließ Enrique beinahe auf die Knie sinken. Er glich dem Foyer eines verlassenen Tempels. Lebensgroße Göttinnenstatuen lehnten sich aus Wandnischen, und an der reich verzierten himmelblauen Decke drehten sich mechanische Sterne und Planeten wie auf einer unsichtbaren Achse. Angesichts eines solchen Kunstwerks kam er sich klein und unbedeutend vor, allerdings auf eine erhabene Art, als wäre er Teil eines größeren Ganzen, umgeben von göttlicher Liebe. So hatte er früher während der Sonntagsmesse empfunden. Hier, in diesem Raum, durchströmte ihn seit Jahren zum ersten Mal dasselbe Gefühl.

Ehrfurchtsvoll raunte der Kammerdiener: »Der Saal ist wahrlich überwältigend. Wenngleich nur für kurze Zeit.«

Enrique wurde hellhörig. »Wie meinen Sie das?«

»Der Göttinnensaal hat eine einzigartige Eigenschaft. Noch verstehen wir deren Funktion nicht vollständig, aber wir erhoffen uns, dass Ihr Artikel ein wenig Licht in die Sache bringen kann. Sie müssen wissen … die Göttinnen … verschwinden.«

»Wie bitte?«

»Jede Stunde«, bekräftigte der Mann. »Sie verschmelzen mit der Wand und die Goldornamente verblassen.« Er sah auf die Uhr. »Nach meiner Schätzung sollten Sie noch etwa zwanzig Minuten haben, bis alles unsichtbar wird, um erst zur darauffolgenden Stunde wiederzuerscheinen. Doch mir schien es genügend Zeit für Ihre Fotografien und Notizen. Zumal es hier drinnen empfindlich kalt wird, sobald die Tür geschlossen ist. Wir glauben, der Schöpfer dieses Kunstwerks hat einen geschmiedeten Mechanismus zur Temperaturkontrolle eingebaut, möglicherweise um den Stein und die Farbe zu schützen. Wie dem auch sei, lassen Sie es mich wissen, falls ich Ihnen behilflich sein kann.«

Und damit verließ der Diener den Saal und schloss die Tür hinter sich. Enriques Herz klopfte ein stetes Oh nein, oh nein, oh nein.

»Wo ist Hypnos?«, fragte Zofia.

Wie aufs Stichwort drangen gedämpfte Geräusche an ihre Ohren. An einer der vergoldeten Wände, fast verdeckt von einer Säule, lehnte eine als Fotografieausrüstung gekennzeichnete Reisetruhe. Rasch öffnete Zofia die Schlösser. Der Deckel hob sich und mit säuerlicher Miene kletterte Hypnos heraus. Er schüttelte sich. »Das war höchst … unerquicklich.« Er seufzte theatralisch. Die plötzliche Helligkeit und die Schönheit des Zimmers ließen ihn blinzeln. Ein Ausdruck des Staunens huschte über sein Gesicht, war jedoch wie weggewischt, als er sich ihnen zuwandte. »Zofia, du bist zweifellos auch als junger Mann reizend, aber ohne den Bart gefällst du mir wesentlich besser … Warum ist es so kalt hier? Was habe ich verpasst?«

»Wir haben nur zwanzig Minuten, bevor die gesamte Göttinnen-Installation verschwindet.«

»Wie bitte?«

Während Zofia die Situation erläuterte, begutachtete Enrique die Statuen in ihren Nischen. Sie ähnelten sich auf seltsame Art. Seinen Informationen zufolge stammten sie aus verschiedenen Tempeln rund um den Globus … und doch trugen sie alle die fließenden Marmortuniken hellenischer Gottheiten … nur eine nicht. Sonst waren alle nahezu identisch, bis auf die Gegenstände, die sie zierten – Lyren, Masken, Schriftrollen oder Kräuterzweige.

»Merkwürdig. Ich dachte, wir würden auf Parvati und Ischtar, Freya und Isis treffen … aber diese Göttinnen hier … sie wirken alle so austauschbar.«

»Erspar uns die Kunstvorlesung, mon cher«, bat Hypnos. »Konzentrieren wir uns darauf, wo die Tezcat-Brille stecken könnte.«

»Im Inneren einer der Göttinnen«, schlug Zofia vor.

Enrique musterte die Sammlung. »Eher nicht. Ich weiß doch, wie die Geheimverstecke des Gefallenen Hauses funktionieren. Dahinter steckt immer irgendein Rätsel. Und die Mitglieder hätten nichts konstruiert, was die Zerstörung ihres Besitzes zur Folge hätte.«

»Kälte ist die Ausgangslage«, murmelte Zofia.

»Ich w-würde sagen, das ist re-l-lativ of-fensichtlich, ma ch-chère«, antwortete Hypnos mit klappernden Zähnen.

»Verändern wir also diesen Faktor. Fügen Wärme hinzu.«

Zofia schälte sich aus ihrem Sakko und riss mit einem Ruck das Futter heraus.

Hypnos schrie auf. »Das ist Seide!«

»Nicht ganz – das ist Soie de Chardonnet«, verbesserte Zofia und zog ein Streichholz hinter ihrem Ohr hervor. »Eine hoch entzündliche künstliche Seide, die im Mai auf der Weltausstellung präsentiert wurde. Eignet sich nicht für die Massenproduktion. Aber hervorragend für Fackeln.«

Sie entzündete das Hölzchen und hielt es an den Stoff, der sofort aufloderte. Die Luft wurde merklich wärmer. Doch weder an den Wänden noch in den Mienen der Statuen tat sich etwas. Die Chardonnet-Seide brannte wie Zunder, sie würde nicht lange reichen. Eher würde Zofia sich verletzen.

»Zofia, ich glaube, du hast dich getäuscht. Vermutlich bringt Hitze nichts.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher …« Hypnos nahm Enriques Gesicht in die Hände und neigte es sanft in Richtung Boden. Die dünne Schicht Reif auf dem Marmor taute, und etwas Silbriges kam darunter zum Vorschein, wie Buchstaben. »Vielleicht«, fuhr Hypnos fort, »hättet ihr euch den Göttinnen einfach zu Füßen werfen sollen.«

»Natürlich«, erwiderte Enrique und sank auf die Knie. »Der Boden.«

Zofia hielt ihre Fackel tiefer und allmählich fügten die Lettern sich zu einem rätselhaften Satz zusammen:

LIEBEVOLL VERSIEGELTE LIPPEN

ZEUGEN VON GEHEIMNISSEN

EINST BEKANNT

Die silbernen Schlangen (Bd. 2)

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