Читать книгу Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Рошани Чокши - Страница 11

Laila

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Laila sah zu, wie Séverin die Sternwarte verließ. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte.

Einerseits wagte sie zum ersten Mal seit Wochen wieder zu hoffen. Sollte Séverins Informant recht behalten, bot sich ihr womöglich doch noch die Chance auf mehr Lebenszeit. Andererseits wurde ihre aufkeimende Euphorie von dem Hass auf Séverin überlagert. Sie verabscheute die Kälte, die aus seinen Augen sprach, und den hämischen Zug um seinen Mund, wenn er lächelte. Und sie verabscheute den Schmerz, der sie bei seinem Anblick durchfuhr und sie daran erinnerte, dass er sie einst in Erstaunen versetzt hatte.

Am schlimmsten aber war die Hoffnung, dass er, sobald er Die Göttliche Lyrik erst einmal gefunden hatte, wieder so werden könnte wie früher. Als würde er nur unter einem Bann stehen. Laila gab sich alle Mühe, diese Illusion im Keim zu ersticken, doch sie hielt sich hartnäckig in ihrem Herzen.

Während Enrique etwas von wegen »Bibliothek« murmelte, sagte Zofia leise: »In meinem Labor –«

»Non«, unterbrach Hypnos sie streng und bedeutete ihnen, sich nicht von der Stelle zu rühren. »Ihr bleibt hier. Ich bin sofort zurück. Ich habe eine Überraschung für euch.«

Er stürzte davon und ließ die drei allein. Laila musterte Zofia von der Seite. Vor der Zusammenkunft hatte sie kaum Zeit gehabt, mit ihr zu sprechen. Jetzt aber fielen ihr einige Sachen an ihr auf. Sie trug noch immer ihre Reisekleidung, hatte geisterhaft violette Schatten unter den Augen, und ihr Gesicht wirkte seltsam dünnhäutig, wie von Kummer gezeichnet. So sollte man nicht aussehen, wenn man gerade Chanukka mit seiner Familie gefeiert hatte.

»Geht’s dir gut, Zofia? Isst du genug?«

Bevor Laila aus dem L’Éden ausgezogen war, hatte sie den Köchen genaue Anweisungen für die Vorbereitung von Zofias Mahlzeiten aufgeschrieben. Zofia mochte es nicht, wenn sich das Essen auf ihrem Teller berührte, sie mochte kein zu buntes oder gemustertes Geschirr und ihr Lieblingsnachtisch waren kreisrunde, helle Butterplätzchen. Früher hatte Laila sich um all das gekümmert. Doch das war vorbei. Daher beschlich sie nun ein noch schlechteres Gewissen, als es sowieso schon der Fall gewesen war. Was gab ihr das Recht, Zofia Löcher in den Bauch zu fragen, wo sie selbst das Hotel verlassen hatte? Sie war diejenige, die sich distanziert hatte.

Laila drehte den Granatring an ihrem Finger. Manchmal fühlte sich ihr Geheimnis an wie ein Gift, das langsam in ihr Blut sickerte. Am liebsten hätte sie es den anderen erzählt, sich von dieser Last befreit. Aber was, wenn die Wahrheit sie abschreckte? Schließlich hatte ihr eigener Vater es kaum ausgehalten, sie anzusehen. Sie wollte die Familie, die ihr blieb, nicht auch noch verlieren.

Zofia zuckte die Achseln. »Also, Goliath hat jedenfalls beunruhigend wenig Appetit.«

»Wenn man bedenkt, dass immerzu nur Grillen auf seiner Speisekarte stehen, kann ich es ihm nicht verdenken«, neckte Laila.

»Er isst nicht so viele Grillen, wie er sollte«, erwiderte Zofia, nahm ein Streichholz aus der Schachtel und steckte es sich zwischen die Zähne. »Ich habe eine Tabelle angelegt und die Menge dokumentiert, die er zu sich nimmt. Die Kurve fällt stetig. Ich könnte sie dir zeigen …«

»Das glaube ich dir auch so«, sagte Laila. »Aber danke.«

Zofia starrte auf ihren Schoß. »Ich weiß einfach nicht, was mit ihm los ist.«

Fast hätte Laila im Reflex Zofias Hand ergriffen. Was für sie ein Zeichen der Zuneigung war, bedeutete für Zofia jedoch nicht zwangsläufig dasselbe. Zofia richtete den Blick auf das schwarze Kissen, auf dem Tristan immer gesessen hatte und das nun unter dem Kaffeetisch lag.

»Vielleicht trauert Goliath«, sagte Laila sanft.

Zofia sah sie an. »Ja, vielleicht.«

Es sah aus, als wollte sie noch etwas hinzufügen, da schlenderte Enrique zu Laila herüber.

»Wir zwei müssen uns mal unterhalten«, murmelte er und setzte sich vor sie.

»Es gibt nicht viel zu erzählen«, erwiderte sie.

Er bedachte sie mit einem Ausdruck, der klar zu sagen schien: »Ich glaube dir kein Wort.« Doch er hakte nicht weiter nach. Sie hatte ihm zwar von dem Jaadugar in ihrem Dorf berichtet, der einst Die Göttliche Lyrik gehütet hatte, mehr aber auch nicht. Enrique und Zofia wussten beide, dass sie das Buch unbedingt finden wollte, nur nicht, warum. Und sie brachte es nicht über sich, ihnen ihr Geheimnis anzuvertrauen.

Leise ächzend drehte Enrique ihr den Rücken zu. Laila begriff sofort, was er damit beabsichtigte, seufzte und kratzte ihn sanft zwischen den Schulterblättern.

»Mich krault sonst niemand«, klagte er und rekelte sich wohlig.

»In Polen gab es mal einen Hund, der etwas Ähnliches gemacht hat«, stellte Zofia fest.

»Mir fehlt gerade die Kraft, auf diese Beleidigung einzugehen«, sagte Enrique amüsiert und zugleich gekränkt.

»Das war keine Beleidigung.«

»Du hast mich quasi als Hund bezeichnet …«

»Ich habe gesagt, dass dein Verhalten mit dem eines Hundes vergleichbar ist.«

»Das ist nicht gerade ein Kompliment.«

»Wäre es denn ein Kompliment, wenn ich dir sagen würde, dass es ein sehr wohlerzogener Hund war?«

»Nein …«

Laila mischte sich nicht ein, genoss aber das stete Gemurmel ihrer zaghaften Zänkereien. Es klang wie ein Echo ferner Tage. Nachdem Tristan gestorben war, hatte sie erst versucht, Abstand zu wahren, jedoch in der Nähe der anderen zu bleiben. Doch nun, bei Séverins Anblick, wurde ihr wieder bewusst, wie sehr dieser Versuch zum Scheitern verurteilt gewesen war. Hätte sie nicht den Entschluss gefasst, das L’Éden zu verlassen, wäre die Wunde jedes Mal von Neuem aufgerissen. Er ließ sie einfach nicht los. Es kam ihr vor, als könnte sie den Duft der Gewürznelken immer noch riechen, obwohl er diese alte Gewohnheit längst abgelegt hatte. Als er gerade den Raum verlassen hatte, waren ungebetene Erinnerungen wach geworden. Erinnerungen, von denen er nicht einmal wusste, dass sie existierten. Zum Beispiel von dem Angriff der geschmiedeten Kreatur in der unterirdischen Bibliothek von Haus Kore. Sie hörte seine Stimme, die als Erstes zu ihr durchgedrungen war, als sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte: Laila, ich bin’s, dein Majnun. Du wirst mich wirklich noch in den Wahnsinn treiben, wenn du jetzt nicht aufwachst.

»Voilà!«, rief Hypnos und schob einen mit Leckereien beladenen Servierwagen durch die Tür. Es gab farbenfrohe Plätzchen – die Zofia verabscheute –, Schinkensandwiches – bei denen sich Enrique sicher der Magen umdrehte – und … einen dampfenden Samowar mit warmem Kakao. Den nur Tristan getrunken hatte.

Auf Hypnos’ Gesicht zeigte sich kein unverhohlen katzenhaftes Grinsen wie sonst. Sein Lächeln war flüchtig und schüchtern. Hoffnungsvoll.

»Ich dachte, nun ja, bevor wir mit der Planerei anfangen, könnten wir uns vielleicht … ein wenig stärken?«

Enrique starrte auf den Wagen und brachte letztendlich nur ein verwirrtes »Oh« hervor.

Laila wünschte, sie hätte nicht bemerkt, wie Zofia sich sehnsüchtig vorgebeugt hatte, nur um gleich darauf entsetzt zurückzuweichen. Und jetzt stand Hypnos vor ihnen, das Lächeln wie eingefroren. Schließlich ließ er die Schultern sinken.

»Na, wenn ihr keinen Hunger habt, bleibt mehr für mich«, sagte er, eine Spur zu fröhlich.

Hätte Laila sich wie früher um die Verpflegung gekümmert, wäre das nicht passiert. Mit einem Mal schien der Raum zu schrumpfen und weckte so viele schmerzhafte Erinnerungen in ihr, dass sie kaum noch Luft bekam.

»Entschuldigt mich«, sagte sie und erhob sich.

Zofia runzelte die Stirn. »Gehst du schon?«

»Tut mir leid«, erwiderte Laila.

»Plätzchen?«, fragte Hypnos hoffnungsvoll und hielt ihr eins entgegen, als sie an ihm vorbeiging.

Laila gab ihm einen Kuss auf die Wange und nahm es ihm ab.

»Ich fürchte, die anderen haben gerade gegessen«, flüsterte sie.

»Oh«, machte Hypnos und ließ die Hände sinken. »Verstehe.«

Hastig floh Laila aus der Sternwarte und warf das Plätzchen in eine Topfpflanze auf dem Flur. Sie wollte nur noch hier weg, hinaus auf die Straße. Sie wollte ihr Geheimnis nicht länger für sich behalten. Am liebsten hätte sie es in die Pariser Dunkelheit hinausgeschrien. Sie stürmte um die Ecke.

Und da stand er.

Séverin. Eine seidig glänzende, nachtschwarze Silhouette. Ein Junge mit einem Mund, der wie gemacht schien für Küsse – und Grausamkeiten. Ein Junge, der sie einst das Staunen gelehrt und sich viel zu nah an ihr Herz geschlichen hatte. Laila griff nach ihrem Hass wie nach einer Rüstung, doch er war schneller.

»Laila«, sagte er, so langsam, als würde er sich ihren Namen auf der Zunge zergehen lassen. »Ich war gerade auf der Suche nach dir.«

Im Grunde konnte Laila nicht hassen. Nicht aus tiefstem Herzen. Und manchmal wünschte sie sich, sie würde es auch nie lernen. Wie angewurzelt stand sie da und starrte ihn an. Sie erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck, als er den Brief an Tristan gelesen hatte. Sie hatte den Schmerz darin gesehen, als ihm klar wurde, was für Höllenqualen sein Bruder ausgestanden und ihm vorenthalten haben musste. Vielleicht war es dieses Bild, das sie letztendlich doch dazu veranlasste, zu sprechen.

»Es tut mir leid, dass du auf diese Art und Weise die Wahrheit über Tristan erfahren musstest, aber ich …«

»Mir nicht«, sagte er und legte den Kopf schief. Dunkle Locken fielen ihm in die Stirn. Seine Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln. »Genau genommen bin ich dir zu Dank verpflichtet. Und da du ja bald meine Mätresse sein wirst, habe ich ein Geschenk für dich. L’Énigme an meinem Arm, ohne ein Zeichen meiner Verbundenheit an ihrem Hals – was würde das für einen Eindruck machen?«

Bis zu diesem Moment hatte Laila die Kassette aus Samt nicht bemerkt, die er bei sich trug. Eine Schmuckschatulle. Er öffnete sie und eine kurze Halskette aus funkelnden Diamanten kam zum Vorschein. Sie waren geschliffen wie Eiszapfen. Allein wenn sie daran dachte, dass sie ihre Haut berühren würden, fing sie an zu zittern.

»Sie sind echt«, sagte er und hielt sie ihr hin.

Laila strich über einen der Edelsteine. Er entzog sich ihren Gedanken. So etwas geschah nur bei geschmiedeten Gegenständen. Séverins Schatten senkte sich über sie.

»Wenn ich dich brauche, wird die Diamantkette warm und legt sich ein ganz klein wenig enger um deinen Hals«, sagte er. »Dann wirst du zu mir kommen und mir Bericht über etwaige Neuigkeiten erstatten. Im Gegenzug werde ich dich über jeden Fortschritt, den wir bei der Suche nach der Göttlichen Lyrik machen, informieren.«

Laila wich zurück.

»Du willst mir ein Halsband anlegen?«

Séverin hob seine Hand. Dort glänzte das Schwur-Tattoo, das ihre eigenen Armreife hinterlassen hatten.

»Ich wollte mich dafür revanchieren. Wir betrachten uns doch als ebenbürtig, oder etwa nicht? Das haben wir einander versprochen.«

Seine Worte waren ein verfälschtes Echo ihrer ersten Begegnung. Sie war sprachlos vor Wut. Séverin trat näher.

»Vergessen wir nicht, dass du diejenige warst, die mich aufgesucht und verlangt hat, meine Mätresse zu sein und mein Bett zu teilen.«

Die geschmiedeten Diamanten schienen wissend zu funkeln, als fragten sie sie höhnisch: Was hast du erwartet?

Er nahm die Kette heraus und ließ sie durch seine Finger gleiten. »Ich gehe davon aus, du hast keine Einwände?«

Eis kroch durch ihre Adern. Einwände? Nein. Sie wollte leben. Ihr Dasein genießen. Und so verspürte sie angesichts dieses Fremden, der dort vor ihr stand, nur Fassungslosigkeit. Je länger sie ihn ansah, desto mehr glich er einem Stück finsterer Nacht, an die sich ihre Augen nur allmählich gewöhnten.

»Nicht im Geringsten«, sagte sie und schnappte ihm das Collier aus der Hand. Dabei ließ sie kaum noch Platz zwischen ihnen und bemerkte mit Genugtuung, wie er zurückzuckte. »Doch an Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig, Monsieur. Ob Frauchen mit Diamantkette oder Hündchen mit Diamanthalsband – bissig können sie beide sein!«

Die silbernen Schlangen (Bd. 2)

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