Читать книгу Die silbernen Schlangen (Bd. 2) - Рошани Чокши - Страница 14

Zofia

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Zofia zog das nun futterlose Sakko wieder an und riss einen der Phosphoranhänger von ihrer Kette.

Während der letzten Monate hatte sie die Formel perfektioniert und musste ihn jetzt lediglich dicht an ein Objekt halten, um herauszufinden, ob sich dahinter ein verborgenes Portal befand. Nacheinander hob sie den Anhänger an alle Statuen, doch nirgendwo leuchtete er auf.

Für das, was hier versteckt war, gab es andere Vorsichtsmaßnahmen. Zofia runzelte die Stirn. Sie zitterte. Arktische Luft umgab sie. Plötzlich erblühte ein weißer Fleck an der Tür, wuchs, übertünchte die Goldverzierungen auf den Fliesen und kroch die Wände hoch. Sobald das Weiß die Göttinnen erreichte, zogen sie sich langsam, aber unaufhaltsam in ihre Nischen zurück. In ein paar Minuten wären sie vollkommen verschwunden. Selbst das Rätsel auf dem Boden verblasste allmählich.

LIEBEVOLL VERSIEGELTE LIPPEN

ZEUGEN VON GEHEIMNISSEN

EINST BEKANNT

Damit konnte Zofia erst einmal nichts anfangen, doch in Enriques Augen bemerkte sie einen neuen Glanz. Rechts neben ihm stand Hypnos und fuhr sich grübelnd über die Lippen. »Darauf kann ich mir wirklich keinen Reim machen«, verkündete er.

»Dann behalte du die Zeit und die Tür im Blick«, antwortete Enrique und näherte sich den Skulpturen. »Der Kammerdiener meinte, wir hätten zwanzig Minuten. Zofia?«

Zofia befestigte ihren Anhänger wieder an der Kette. »Kein Anzeichen für ein Tezcat-Portal. Falls es eins gibt, dann ist es außergewöhnlich gut getarnt.«

Enrique lief langsam auf und ab. Zofia kramte in den Taschen ihres Sakkos und brachte noch mehr Chardonnet-Seide, eine Streichholzschachtel und eine Garnitur kleiner Meißel zum Vorschein, nebst einem geschmiedeten Eisstift, der Wasser aus der Luft sog und gefrieren ließ. Zofia nahm den Raum genauestens unter die Lupe, aber keiner der Gegenstände schien ihr besonders zweckmäßig.

»Ich h-hätte ein Z-Zeichen v-vermutet, einen H-Hinweis auf den Schatz.« Hypnos blies in die Hände, um sich aufzuwärmen.

»Wie ein X auf einer Schatzkarte?«, fragte Enrique.

»Das wäre durchaus hilfreich.« Vor Empörung vergaß Hypnos, mit den Zähnen zu klappern. »Jemand sollte diesem Schatz mitteilen, dass er unsere Geduld auf eine unangemessen harte Probe stellt. Der Einfachheit halber hätte man ihn ja wenigstens in einer der Göttinnen verstecken können. Stattdessen kredenzt man uns hier seltsame Lippenrätsel.«

»Phönix, hattest du schon mehr Glück? Irgendetwas Neues entdeckt?«, wandte Enrique sich an Zofia.

»Glück ist nutzlos.«

»Na schön, dann eben Erfolg?«

»Nein.«

»Mythologisch gesehen suchen wir etwas, das Dinge hüten oder verbergen soll. Wir haben zehn Göttinnen. Vielleicht erzählt man sich über eine von ihnen Geschichten, in denen es darum geht, etwas zu verstecken?«

»Und woran erkennen wir, um welche Göttin es sich handelt?«, fragte Hypnos.

»Ikonografie.« Enrique musterte die Statuen. Für Zofia sahen sie alle gleich aus, bis auf die Gegenstände in ihren Händen.

Plötzlich schnipste Enrique mit den Fingern. »Natürlich! Das sind die neun Musen aus der griechischen Mythologie, die Göttinnen der Künste. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin! Seht ihr die Lyra?« Er deutete auf eine der Figuren, die eine Art goldene Harfe im Arm hielt. »Das muss Kalliope sein, die Muse der epischen Dichtung. Neben ihr steht Erato, die Muse der Liebeslyrik, mit einer Kithara, und da drüben ist Thalia, die Muse der Komödie, mit ihrer lachenden Theatermaske.«

Zofia betrachtete die Skulpturen mit neuem Interesse. Für sie waren es Meisterleistungen der Schmiedekunst. Marmor, veredelt durch die Gabe der Materie. Doch sonst verrieten sie ihr nichts. Lauschte sie jedoch Enrique, war es, als ginge in ihr ein Licht auf, und sie wollte immer mehr hören.

Vor einer Göttin mit ausgebreiteten Flügeln blieb Enrique stehen. »Seltsam, dass es eine zehnte Statue gibt. Diese hier passt nicht in die Reihe. Warum überhaupt Musen? Vielleicht in Anlehnung an die Sage des Ordens von den Verlorenen Musen?«

»Dieses Kunstwerk stammt aber nicht vom Orden«, erinnerte Zofia ihn.

»Recht hast du.« Enrique nickte nachdenklich. »Und dann ist da diese zehnte Göttin, die keinen Sinn ergibt. Sie ist in der Tat sehr bemerkenswert, seht euch nur die Form –«

»Das ist jetzt nicht der Augenblick, in Verzückung zu geraten«, tadelte Hypnos und deutete auf den Boden. »Wenn ich richtig gezählt habe, sollten wir noch etwa zehn Minuten haben.«

Inzwischen überzog der weiße Hauch fast die Hälfte des Raumes und kroch bereits über die Beine von fünf Statuen.

»Ich glaube, diese hier ist gar keine Göttin«, sagte Enrique. »Ich erkenne keine aussagekräftigen ikonografischen Bezüge. An den Flügeln hat sie etwas Blattgold, aber das will nicht viel heißen. Und ihre Miene ist vollkommen ausdruckslos.«

Zofia rührte sich nicht, doch irgendetwas an der Statue rief ihr die Kindheit mit ihrer Schwester ins Gedächtnis.

»Lasst mich auch mal sehen«, beschwerte sich Hypnos und trat dichter an die Figur heran. Er musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Also, wenn ich so aussähe, würde ich mich jedenfalls nicht als Göttin bezeichnen. Nichts an dieser Aufmachung sagt: Kniet nieder, ihr Sterblichen!«

»Das ist auch keine Gottheit … sondern ein Seraph. Ein Engel«, gab Enrique zurück. Er fuhr mit der Hand über Gesicht und Schultern der Statue und dann am Körper hinab.

Hypnos stieß einen Pfiff aus. »Oh, là, là, ganz schön forsch von dir!«

»Ich versuche lediglich, eine Unregelmäßigkeit zu entdecken, einen Mechanismus, der zum Vorschein bringt, was auch immer sie verstecken mag.«

Das Weiß war mittlerweile bis zu der Engelsskulptur vorgedrungen. Es breitete sich zunächst an den Füßen aus und zog den Marmor allmählich zurück in die Wand. Zofias Atem bildete Wölkchen. Je länger sie den Engel betrachtete, desto stärker drängte sich ein Kinderspiel in ihr Bewusstsein, das sie und Hela früher gespielt hatten. Sie hörte ihre Schwester flüstern: Kannst du ein Geheimnis für dich behalten, Zosia?

»Hypnos? Zofia? Irgendwelche Ideen?«, fragte Enrique.

»Liebevoll versiegelte Lippen zeugen von Geheimnissen, einst bekannt«, murmelte Zofia und berührte ihren Mund. Dann trat sie zu den anderen beiden. »Hela und ich hatten früher ein Spiel – es hatte mit einer Geschichte zu tun, die uns unsere Mutter erzählt hat. Sie handelt von Engeln und Kindern: Bevor wir geboren werden, kennen wir alle Geheimnisse des Universums. Doch bei der Geburt legt uns ein Engel einen Finger auf die Lippen, um sie zu versiegeln. Deshalb hat jeder Mensch eine Vertiefung über der Oberlippe.«

Hypnos hob die Brauen. »Hübsche Geschichte …«

Doch Enrique grinste. »Gar nicht so abwegig … es verdeutlicht das Konzept der Anamnesis

Zofia blinzelte.

»Klingt wie eine Krankheit«, sagte Hypnos.

»Das ist die Idee des kosmischen Verlusts der Unschuld mit der Geburt. Der Daumenabdruck eines Engels passt doch perfekt zum Rätsel, da die Lippen noch von den Geheimnissen zeugen, die der Engel in uns versiegelt hat. Und zwar buchstäblich liebevoll: Gemeint sind der Amorbogen, nach dem römischen Gott der Liebe, und das Philtrum, von griechisch Liebeszauber. Diese Vertiefung direkt unter der Nase … und über den Lippen! Tatsächlich gibt es in der philippinischen Mythologie Diwata, die –«

»Halt, Enrique, für Vorträge haben wir jetzt wirklich keine Zeit!«, unterbrach Hypnos.

»Ach so, klar, entschuldigt!«

Der weiße Hauch hatte sich inzwischen bis zur Taille des Engels ausgebreitet und die Hände verloren bereits ihre Form. Hastig drückte Enrique seinen Daumen auf die Oberlippe der Statue. Im Inneren des Engels ertönte ein Plätschern wie von Wasser. In der Körpermitte bildete sich ein Spalt und mit einem Mal schwangen die beiden Hälften auf wie eine Geheimtür. Dahinter thronte auf einem schlanken Onyxsockel eine kleine, glänzende Metallkiste, nicht größer als die Spanne von Zofias Hand. Über die Oberfläche zogen sich feine Risse, als wäre das Kästchen vor langer Zeit einmal aus verschiedenen Teilen zusammengeschweißt worden.

»Wir haben es gefunden!«, rief Hypnos triumphierend.

Enrique griff nach der Schatulle, zog … doch sie gab keinen Millimeter nach.

»Warte«, sagte Zofia. Sie hielt ein Pendellicht hoch und beleuchtete das Metall. Winzige Dellen zeigten sich dort, wo Enrique es berührt hatte. Als sie es selbst vorsichtig befühlte, spürte sie das Prickeln ihrer Schmiedegabe in den Fingerkuppen. »Das Kästchen ist aus geschmiedetem, mit Stahl verstärktem Zinn.«

»Ist das etwas Schlechtes?«, fragte Enrique.

Zofia nickte und verzog das Gesicht. »Es bedeutet, meine Zündwerkzeuge sind wirkungslos dagegen. Es ist feuerfest.« Sie besah sich das hohle Innere der Statue genauer. »Interessant. Schalldämmung.« Sie betastete mehrere Schichten Schwamm, Kork und Wolle, mit denen die Skulptur ausgekleidet war. Weshalb musste in dem Engel Stille herrschen?

Ein feines Läuten ertönte aus Hypnos’ Uhr. Er hob den Blick. »Noch fünf Minuten.«

Zofia schnürte sich die Kehle zu. Der Raum wirkte zu klein, zu hell, und er erinnerte zu sehr an das Labor in der Universität, worin man sie eingesperrt hatte –

»Phönix.« Enriques Stimme drang sanft an ihr Ohr. »Bleib bei mir. Was haben wir? Du hast immer irgendetwas Brauchbares dabei.«

Sie überlegte. Chardonnet-Seide war hier fehl am Platz. Neben den übrigen Werkzeugen und Streichhölzern blieb nur noch der Eisstift, ursprünglich dafür gedacht, notfalls die Scharniere der Tür einzufrieren.

»Einen Eisstift«, sagte sie.

»In einem Raum, in dem es bereits eiskalt ist?«, fragte Hypnos. »Fassen wir zusammen: Feuer ist also nutzlos … Eis ist nutzlos … Ich bin nutzlos, wenn wir schon dabei sind …«

»Wir können es nicht einmal vom Sockel entfernen, wie sollen wir es dann zerstören?« Zofia wollte nichts einfallen. Doch in Enriques Augen stahl sich ein irrwitziges Funkeln. »Zerstören!«, wiederholte er.

»Und da geht er hin, der Verstand.« Hypnos seufzte.

»Zofia, gib mir mal diesen Eisstift. Er entzieht der Luft Wasser, richtig?«

Sie nickte und reichte Enrique den Stift. Er zog damit jeden der Risse auf dem Kästchen nach. »Wusstet ihr …«

»Oh nein, jetzt legt er los«, murmelte Hypnos.

»… dass der karthagische Feldherr Hannibal im Jahre 218 vor Christus mit seiner riesigen Armee inklusive fast vierzig Elefanten die Alpen überquerte, um das Herz des Römischen Reiches zu vernichten?« Enrique schüttete das Wasser aus, das der Stift aus der Luft gesammelt hatte. Es versickerte in den Ritzen auf der Oberfläche der Schatulle. »Damals mussten steinerne Hindernisse auf quälende, zeitraubende Art aus dem Weg geräumt werden. Man errichtete Feuer, um die Felsbrocken langsam zu erhitzen, und begoss sie dann plötzlich mit eiskaltem Wasser …«

Er hielt den Stift an die Kiste. Das Metall ächzte. Knacken und Klirren hallte laut durch die stille Kammer. Eis quoll durch die Fugen.

»… wodurch sie gesprengt wurden!«, beendete Enrique seinen Satz.

Da barst die Kiste entzwei. Die scharfen Ränder glänzten feucht.

Enrique griff hinein und zog die Tezcat-Brille hervor. In Größe und Form ähnelte sie ganz gewöhnlichen Sehhilfen, nur war sie deutlich aufwendiger gestaltet. Das Gestell war schießpulvergrau und besaß ein verschlungenes Muster aus Linien, Kugeln und Symbolen. Man konnte es wie ein Diadem um den Kopf legen. Von den eckigen Gläsern war nur eines vorhanden, das andere fehlte.

Hypnos grinste und applaudierte. »Sehr gut, ihr beiden! Obwohl ich persönlich es höchst bemerkenswert finde, dass diesmal die Ingenieurin eine Geschichte erzählt und der Geschichtenerzähler den Ingenieur gespielt hat.«

»Geschichtswissenschaftler, nicht Geschichtenerzähler.«

»Geschichte, Geschichten erzählen …« Hypnos wedelte mit der Hand. »Quelle est la différence?«

Erneut bimmelte seine Uhr. Zeitgleich verschmolz die Engelsstatue vollständig mit der Wand. Nun standen sie in einem leeren Raum aus reinstem weißen Marmor. Zofia sah sich gründlich um, doch die Wände in den Nischen waren vollkommen glatt. Keine Spur mehr von den Musen.

»Tja, die Zeit ist um«, sagte Hypnos. »Außerdem sollte man zu einer Hochzeit nicht zu spät zu kommen. Das wäre unhöflich.«

»Du musst zurück in die Reisetruhe.«

»Uff.«

»Entweder das, oder –«

Da öffnete sich die Tür. Herein kam der Kammerdiener mit einem Tablett voller Erfrischungen.

»Ich nahm an, Sie hätten vielleicht …« Er hielt inne, als er Hypnos und den geöffneten Schrankkoffer bemerkte.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst die Tür im Auge behalten!«, zischte Enrique.

»Das habe ich ganz vergessen!«

»Wer in drei Teufels Namen ist das?«, herrschte der Mann. »Wachen!«

»Lauft!«, schrie Enrique.

Die drei sprinteten aus dem Göttinnensaal. Hinter sich hörte Zofia das Tablett klirrend zu Boden stürzen und den Kammerdiener fluchen. In Windeseile rannten sie durch das Herrenhaus, und für einen kurzen Moment war Zofia wie in einem Rausch, in dem alles möglich schien.

Enrique warf ihr einen Blick zu. Seine Wangen waren gerötet und er zog einen Mundwinkel hoch. Zofia erkannte den Ausdruck – so lächelte Laila, wenn sie ihr ein extra Plätzchen zusteckte. Verschwörerisch, als teilten sie ein Geheimnis. Es erfüllte sie mit Dankbarkeit … und gleichzeitig verwirrte es sie. Denn ihr war nicht klar, um welche Art Geheimnis es sich hier handelte.

Am Ende des Flurs winkte die Freiheit, jenseits der breiten Eingangstür. Hypnos erreichte sie als Erster, legte die Hand auf den Griff. Draußen hörte Zofia Hochzeitsgeläut und Hufgetrappel und das Schrammen von Kutschenrädern auf den vereisten Straßen.

Hinter ihr ertönte ein Poltern, dann ein Schlittern und Kratzen. Enrique, der vor ihr lief, warf einen Blick über die Schulter und wurde blass. Hypnos rüttelte an der Klinke. »Verdammt.«

»Hunde! Scheiße!«, rief Enrique.

»Nicht der Fluch, den ich für diese Situation gewählt hätte, aber –«

»Nein, echte Hunde! Beeil dich!«

Zofia sah sich nun ebenfalls um. Ihr Gehirn brauchte eine Millisekunde, um den Anblick zu verarbeiten, bevor die Angst einsetzte: Vier gigantische weiße Tiere jagten auf sie zu.

»Geschafft!«, jubelte Hypnos.

Die Tür schwang auf. Vage spürte Zofia Hypnos’ Hand, die sie am Arm packte. Mit einem kräftigen Ruck zog er sie in die eisige Sankt Petersburger Nacht. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss, während die Kälte sie traf wie ein Faustschlag.

Auf der Anglijskaja Nabereschnaja erklangen die Hochzeitsglöckchen an fünfzehn weißen Troikas, die von je drei Apfelschimmeln gezogen wurden. Geschmiedetes Feuerwerk schwirrte in den Himmel, explodierte und formte Bilder von Braut und Bräutigam, brüllenden Bären und eleganten Schwänen, die in der Dunkelheit verglühten.

»Da vorne«, sagte Enrique.

Eine der Kutschen wies einen schwarzen Streifen in der Mitte auf. Gerade als sie vor ihnen um die Ecke bog, öffnete sich die Tür des Herrenhauses. Enrique fluchte lauthals. Er hatte das Trottoir erreicht und winkte wie verrückt der Troika, doch sie wurde nicht langsamer. Lautes Knurren drang an Zofias Ohren.

»Wir schaffen es nicht rechtzeitig!«, japste Hypnos. Sein Gesicht glänzte vor Anstrengung.

Blitzschnell riss Zofia einen der Phosphoranhänger von ihrer Kette und schleuderte ihn den Hunden entgegen. Gleichzeitig zwang sie dem metallischen Objekt ihren Willen auf: Entzünde dich.

Flammen züngelten empor und die Wachhunde winselten. Eine Feuersäule schnitt ihnen den Weg ab. Die riesigen Pfoten kratzen über den Boden, als die Tiere panisch kehrtmachten.

Am Ende des Grundstücks kam die Troika endlich schlitternd zum Stehen, während die restlichen Kutschen sie umfuhren und überholten. Zeitgleich mit dem Wagenschlag öffnete sich erneut die Haustür. Hastig kletterten Hypnos und Enrique ins dunkle Innere des Gefährts. Zofia ergriff das Geländer, spürte Lailas warme Hände und ließ sich auf die Sitzbank ziehen.

Etwas abseits saß Séverin. Er mied ihre Blicke, klopfte zweimal gegen das Wagendach und schon rasten sie davon. Zofia schaute aus dem Fenster. Die Flammen erloschen. Der Kammerdiener und einige Wachen waren nach draußen gerannt. Doch ihre Troika hatte aufgeholt und war nun wieder Teil der Hochzeitsprozession.

Hypnos legte sich quer über die Bank, den Kopf in Lailas Schoß, die Beine auf Enriques Oberschenkeln. Aus irgendeinem Grund war Zofia neugierig, wie Enrique sich verhielt, wenn Hypnos ihm so nah war. Sie hatte die Szene nicht vergessen, deren Zeugin sie vor ein paar Monaten geworden war. Die Erinnerung beunruhigte sie, drängte sich ihr auf: der Kuss, Berührungen ohne jede Eile, wie bei einer Zündschnur, die zuerst langsam abbrannte, um schließlich in einer Explosion zu gipfeln, allerdings in einer, die sie nicht verstand, nicht hervorrufen konnte. Sie empfand ein schmerzliches Ziehen in der Brust, doch sie vermochte sich nicht zu erklären, woher es rührte.

»Zofia hätte sich fast von Hunden zerfleischen lassen«, verkündete Hypnos. »Natürlich ist sie ein Genie und hat Enrique darauf gebracht, wie wir an die Brille kommen, aber danach musste ich sie retten. Ernsthaft, Phönix, was würdest du nur ohne uns tun?«

Er grinste breit. Zofia war jedoch nicht zum Lächeln zumute. Sie dachte an Hela, die ihr davon abgeraten hatte, den Brief an ihre Freunde zu schreiben. Beunruhige sie nicht zu sehr. Nachher machen sie sich nur Sorgen, wer sich um dich kümmern muss, wenn ich nicht mehr da bin. Selbst wenn der Lohn für ihre Arbeit Helas Leben gerettet hatte, selbst wenn die anderen ohne ihre Erfindungen nicht weit kamen – es gefiel ihr nicht, jemandem eine Last zu sein, weil sie so war, wie sie war. Und doch war ihr schmerzlich bewusst, dass sie oft Hilfe brauchte, wo andere Leute sich allein zurechtfanden. Dieses Wissen saß in ihrem Bauch wie ein unförmiges und grellbuntes Plätzchen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise.

Die silbernen Schlangen (Bd. 2)

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