Читать книгу Was du niemals tun solltest, wenn du unsichtbar bist - Ross Welford - Страница 23

Оглавление

»Hörst du mich, Granny? Ich bin unsichtbar.«

Ich sitze auf der Sonnenbank in der Garage, spreche in mein Handy und habe richtig vermutet. Noch bevor ich Grannys Nummer eingegeben habe, fragte ich mich, ob es nicht vollkommen lächerlich klingt, wenn ich jemanden anrufe und erzähle, dass ich unsichtbar bin.

Das tut es. Sehr sogar.

Versuchen muss ich es trotzdem.

»Ich bin unsichtbar.« Dann schluchze ich wieder.

Langes Schweigen.

Richtig. Langes. Schweigen.

Im Hintergrund höre ich Stimmen.

»Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstanden habe, mein Spatz. Im Moment kann ich nicht groß sprechen, aber du scheinst sehr erregt zu sein. Was ist denn los?«

Ich hole tief Luft. »Ich bin unsichtbar. Vollkommen verschwunden. Ich bin auf der Sonnenbank eingeschlafen, und als ich aufgewacht bin, konnte ich mich nicht mehr sehen.«

»Schon gut, Liebling. Sehr lustig. Das ist aber gerade nicht der richtige Augenblick. Ich muss wieder rein. Mrs Abercrombie verliest gleich das Protokoll der letzten Sitzung. Im Kühlschrank ist kalter Schinken und Lady braucht Auslauf. Ich muss los. Bis später.«

Klick.

Leise schluchzend ziehe ich Unterwäsche, Jeans und ein T-Shirt über und verstumme gebannt, während ich beobachte, wie mein unsichtbarer Körper die Kleidung ausfüllt. Irgendwie beruhigt mich diese alltägliche Handlung (allerdings nur ein wenig – innerlich blubbere ich immer noch wie ein Milchtopf kurz vorm Überkochen) und ich kriege besser Luft, zumindest heule ich nicht mehr.

Auf dem Weg in die Küche sehe ich mich kurz im mannshohen Spiegel. Ich sage »mich«, dabei sehe ich nur eine Jeans und mein rotes Lieblings-T-Shirt durch den Flur laufen. Das könnte lustig sein, wie ein Special Effect aus dem Kino im wahren Leben, ist es aber nicht, da ich es bin, die in den Kleidern steckt. Ich halte die Luft an und muss ordentlich schlucken, sonst heule ich gleich wieder.

Lady liegt in ihrem Korb in der Küche und hebt den Kopf. Sie trottet zu mir und schnüffelt an meinen Füßen beziehungsweise an der Stelle, wo meine Füße sein müssten. Ich beuge mich runter und streichele sie.

»Hallo, mein Mädchen«, sage ich automatisch.

Sie schaut hoch. Ich weiß nicht, ob irgendjemand tatsächlich die Mimik von Hunden deuten kann, aber ich könnte schwören, dass Lady ängstlich und verwirrt dreinschaut. Um sie zu beruhigen, hocke ich mich hin, aber das bewirkt genau das Gegenteil. Ich kraule sie hinter den Ohren, denn das mag sie, doch anstatt mich abzulecken und zum Lachen zu bringen, klemmt sie den Schwanz ein und verzieht sich winselnd in den Garten. Als die Küchentür hinter ihr zuschlägt, sacken meine Mundwinkel nach unten.

Ich wähle noch einmal Grannys Nummer.

Nur die Mailbox.

Ich hinterlasse keine Nachricht.

In meinem Kopf laufen in einer Art Dauerschleife Gedanken, mit denen ich verschiedene Handlungsmöglichkeiten durchspiele.

Die Vorstellung, dass alles doch nur ein Traum ist, habe ich immer noch nicht ganz aufgegeben. Vielleicht ist es einfach ein besonders hartnäckiger Traum, bei dem die normale Prüfung versagt? Ich kneife mich weiter und schüttele den Kopf – all so was eben.

Und als das nicht funktioniert, versuche ich etwas Stärkeres. Ich gebe mir eine Ohrfeige, mitten in der Küche. Zuerst sanft, dann heftig und noch heftiger, und schließlich schlage ich mir mit der rechten Hand so kräftig auf die Wange, dass es laut knallt und sehr wehtut und noch mehr Tränen kommen.

Im Kopf stelle ich eine Liste auf. Das sind die Fakten:

1.Ich bin allein und unsichtbar.

2.Ich träume ganz, ganz sicher nicht. (Kneifen, noch mal – autsch! – schlagen.)

3.Granny geht nicht an ihr Handy. Wahrscheinlich glaubt sie, ich mache nur Quatsch, oder – was ebenso wahrscheinlich ist – sie hat das Handy stumm geschaltet, damit Mrs Abercrombie nicht vom Klingeln gestört wird.

4.Ich könnte dorthin gehen. (Wohin überhaupt? Ich weiß gar nicht genau, wo sie ist. In der Küsterei vielleicht. Die ist in Culvercot, und was mache ich dann da? Gehe ich einfach rein und verkünde, dass ich unsichtbar bin? Nein.)

5.Habe ich eine Freundin, der ich vertrauen kann? Früher war das Kirsten Olen, aber in letzter Zeit? Nein, ich vertraue ihr nicht mehr.

6.Ich bin so durstig, dass es richtig im Hals schmerzt.

Zuerst kümmere ich mich um das, was am leichtesten zu beheben ist. Außerdem bringt es mich auf andere Gedanken.

Ich mache mir erst mal einen Tee. Tee ist Grannys Universallösung für praktisch alle Probleme. Sie hat mir mal erklärt, dass die Zubereitung – Wasser aufsetzen, Tassen hinstellen und so weiter – ebenso effektiv die Nerven beruhigt wie das Teetrinken selbst.

Dann klingelt mein Handy.

Es ist Granny. Juchhuu!

»Wir sind gerade fertig, Esther. Du hast mich noch einmal angerufen. Was ist denn nun schon wieder?« Ihr energischer Tonfall ist nicht gerade leicht zu ertragen – echt jetzt.

»Das habe ich doch schon gesagt: Ich bin unsichtbar, Granny.« Und dann platze ich mit allem raus: der Akne, »Pizzafresse«, dem Spott, der Sonnenbank, meinem Schlaf, dem Aufwachen neunzig Minuten später in einer Schweißlache, dem Blick in den Spiegel, meinem Schrei nach Hilfe …

Mit allem, was bis jetzt passiert ist, bis zu diesem Moment, wo ich hier sitze, Tee trinke und mit Granny spreche. Ein bisschen durcheinander kommt das schon heraus, sicher, aber nicht komplett ohne Sinn und Verstand.

Zuletzt sage ich noch: »Deshalb habe ich dich angerufen. Du musst mir helfen.«

Eine ganze Weile sagt Granny kein Wort.

Was du niemals tun solltest, wenn du unsichtbar bist

Подняться наверх