Читать книгу Was du niemals tun solltest, wenn du unsichtbar bist - Ross Welford - Страница 25

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Wann wart ihr das letzte Mal ganz allein auf euch gestellt? Und wie allein wart ihr in diesem Moment wirklich?

War jemand in der Nähe? Vater oder Mutter? Ein Lehrer? Eine Freundin? Hättet ihr jemanden bei Problemen um Hilfe bitten können?

Ich bin sicher nicht die Beliebteste in der Schule, aber es ist ja nicht so, dass mich tatsächlich keiner leiden kann. Das glaube ich nicht.

»Es ist nicht schlimm, wenn man ›still und zurückhaltend‹ ist«, sagte Granny, als sie das einmal auf meinem Zeugnis las (und bis zu diesem Zeitpunkt wäre ich auch nie darauf gekommen, dass es schlimm sein könnte). »Besser, die anderen halten einen für dumm, weil man nichts sagt, als dass man ihre Vermutung durch dummes Geschwätz bestätigt«, fügte sie in typischer Granny-Manier hinzu.

Granny war immer schon »der Anstand in Person« – um noch einen Ausdruck zu verwenden, den sie gern benutzt. Eine wohlerzogene, gebildete Engländerin sollte in jeder Situation wissen, wie man sich benimmt. Das ist ihr Wahlspruch.

Sie hat sogar Bücher darüber. Die haben Titel wie: Manieren im 20. Jahrhundert. Sie sind ganz lustig; die meisten sind zu Grannys Lebzeiten erschienen, sind also noch gar nicht so alt. Da liest man dann Dinge wie:

Wie lautet die korrekte Anrede für eine kürzlich geschiedene Herzogin?

Oder:

Welche Summe hinterlässt man als Trinkgeld für die Bediensteten, wenn man ein Wochenende im Landhaus von Freunden verbracht hat?

Wenn man Granny nicht näher kennt, könnte man sie für zugeknöpft und puritanisch halten – zum Beispiel, weil sie darauf besteht, Dankesbriefe innerhalb von drei Tagen zu schreiben oder immer um Erlaubnis zu fragen, bevor man einen Erwachsenen mit Vornamen anredet. Doch es geht eigentlich nur darum, höflich zu anderen zu sein, und das ist ziemlich nett, nur dass Granny es damit weiter treibt als jeder andere, den ich kenne.

Einmal hat sie mir beigebracht, wie man korrekt die Hand gibt. Genau, es geht ums Händeschütteln.

»Eklig, wie ein toter Fisch!« Das war ihre Beschreibung eines schlaffen Handschlags. »Du musst fester zugreifen. Au. Nicht so fest. Und ich bin hier. Schau mich an, wenn du mir die Hand schüttelst. Freust du dich? Dann zeig mir das. Und … was sagt man?«

»Hi.«

»Hi? Was glaubst du, wo wir sind? In Kalifornien? Wenn man jemanden begrüßt, fragt man: ›Wie geht es Ihnen?‹ So, nun bist du dran: fester, kurzer Händedruck, Augenkontakt, lächeln und ein ›Wie geht es Ihnen?‹«

(Ich habe es versucht, als ich Mr Parker zum ersten Mal traf. Er hat sich gefreut, war aber auch ein bisschen verunsichert, als hätte ihn noch nie ein Schüler auf diese Weise begrüßt, was vielleicht auch der Fall war. Seitdem ist er immer supernett zu mir. Granny meint, das sei ein Zeichen, dass es funktioniert. Ich glaube, es liegt eher daran, dass er mich einfach mag.)

Granny ist gar nicht so alt, aber sie ist altmodisch, auf jeden Fall bei der Kleidung. Sie ist stolz darauf, dass sie noch nie eine Jeans hatte, selbst als sie jung und hübsch war. Ihre Abneigung ist aber kein Protest gegen alles Moderne. Sie verabscheut Jeans, weil sie unvorteilhaft aussehen.

»Trägt man sie eng, sind sie unschicklich, und trägt man sie weit, sieht man aus wie ein ›Gangster Rapper‹.«

Ihr könnt mir glauben, wenn Granny »Gangster Rapper« sagt, ist es, als würde sie eine Fremdsprache benutzen. Man kann die Anführungszeichen quasi hören.

Mit jedem sprechen zu können, ganz egal, aus welcher gesellschaftlichen Schicht er stammt, ist eine Kunst, aber selbst wenn ich sie beherrschte, würde es mir in meiner jetzigen Situation nicht helfen. Es gibt niemanden, mit dem ich über die Unsichtbarkeit sprechen könnte.

Granny. Habe ich schon versucht.

Ich könnte es Flora McStay auf Instagram mitteilen, die jetzt in Singapur lebt.

Hey, große Neuigkeiten. Ich bin unsichtbar. Auf diesem Foto stehe ich neben einem Baum.

Sehr witzig.

Ich bin vollkommen auf mich selbst gestellt. Das ist kein gutes Gefühl.

Was würdet ihr an meiner Stelle tun?

Ich entscheide mich fürs Krankenhaus. Ein Krankenwagen muss her, und zwar schnell. Das ist ein Notfall.

Ich wähle 999.

Was du niemals tun solltest, wenn du unsichtbar bist

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