Читать книгу Die Unsichtbaren - Roy Jacobsen - Страница 14

12

Оглавление

Der Winter beginnt mit einem Sturm. Der wird Der Erste Wintersturm genannt. Es hat auch vorher schon Stürme gegeben, zum Beispiel im August und im September, plötzliche und erbarmungslose Umstürze im Dasein.

Aber die dauern meistens nicht lange, und in einem von ihnen geht das Laub verloren. Es gibt, wie gesagt, nicht viele Bäume auf der Insel, aber es herrscht kein Mangel an Beerensträuchern und Zwergbirken und Weiden, die im Spätsommer gelbe Blätter bekommen, welche dann in wechselndem Tempo braun und rot werden, so dass die Insel für einige Tage im September einem Regenbogen auf Erden ähnelt. Und so sieht sie aus, als ein plötzlicher Sturm über sie hereinbricht und die Farben ins Meer reißt, und Barrøy in ein braunes, fiependes Pelztier verwandelt, das die Insel bis zum nächsten Frühling bleiben wird, falls sie bei Schneegestöber oder liegendem Schnee nicht aussieht wie eine weißhaarige Leiche, oder der verzaubernde Schnee kommt und verschwindet und wiederkommt und sich in Schneewehen ablegt, wie um das Meer an Land nachzuahmen. Aber sie haben auch solche Stürme schon erlebt, sie können sich sogar an den vorigen erinnern, im vergangenen Jahr.

Der Erste Wintersturm dagegen, der ist etwas ganz anderes.

Er ist jedes Jahr von Neuem gewaltig und kommt mit tiefem Ernst, so einen Sturm haben sie noch nie erlebt, auch wenn es im vergangenen Jahr genauso war. Von hier stammt der Begriff seit Menschengedenken, sie haben nämlich vergessen, wie es war, da ihnen doch nichts anderes übrig blieb, als die Hölle nach besten Kräften durchzustehen und sie sich dann so schnell wie möglich aus dem Gedächtnis zu schütteln.

Jetzt haben sie einen Sturm über sich, der seit mehr als vierundzwanzig Stunden mit unverminderter Stärke wütet, mit Schaumflocken, die wie gelbe Wollbäusche über die Insel fegen, mit Regen, so hart wie Hagel, und mit einer Springflut, die sich einfach nicht wieder legen will. Hans ist dreimal draußen gewesen und hat auch das angepflockt, von dem er nicht geglaubt hätte, dass man es anpflocken könnte. Er hat gesehen, wie ein Schaf ins Meer geweht wurde, ehe er die übrigen in den Bootsschuppen schaffen konnte, sie haben noch nicht geschlachtet und nicht für alle ist Platz im Stall, und im Schuppen pflockt er sie an dem Boot an, das er noch dazu vertäut, es ist lächerlich, worauf ein Mann so alles verfällt, wenn der Erste Wintersturm über ihn hereinbricht.

Er hat auch den Brunnendeckel mit Pardunen gesichert, dafür hat er mehrere Stunden gebraucht. Und dann muss er die neuen Dachrinnen einsammeln, die auf dem Boden verstreut liegen, und schwere Steine darüber wälzen, ehe er wieder nach Hause kriechen kann, und inzwischen ist er so triefnass und fremd im Gesicht, dass Ingrid ihn nicht wiedererkennt.

Sie mag diese Stürme nicht, mit dem Knacken im Haus und den Trompetenstößen im Schornstein, das ganze Universum in Aufruhr, der Wind reißt ihr die Luft aus der Lunge, wenn sie mit der Mutter in den Stall geht, er treibt das Wasser aus ihren Augen und fegt sie gegen Wände und gekrümmte Bäume und zwingt die Familie, in Küche und Wohnzimmer zu schlafen, wo sie dann doch kein Auge zumachen können. Sogar Martin sitzt still, wenn der Wintersturm mit seiner Insel wütet. Er hat die Mütze auf dem Kopf und die riesigen Hände wie leere, bewegungslose Schalen auf seinen Knien liegen, wenn er sie nicht um Ingrid legt, die zwischen ihm und Tisch und Herd und Speisekammer hin und her läuft und auf dem Torfkasten sitzt und die Beine baumeln lässt, ehe sie zum Großvater zurückläuft und mit seinen Händen herumspielt wie mit einem Teddybären.

Die Gesichter der Erwachsenen sind in Stein gehauen. Sie flüstern und werfen verstohlene Blicke und versuchen zu lachen, durchschauen ihr eigenes Theater und werden wieder ernst, denn die Häuser auf Barrøy stehen zwar noch, aber das ist kein Beweis für etwas anderes als den gestrigen Tag, und einmal standen in Karvika Häuser, aber das tun sie jetzt nicht mehr.

Vor allem ist es schlimm, den Vater anzusehen. Wenn Ingrid es nicht besser wüsste, hätte sie glauben können, dass er Angst hat, aber das hat er nie. Ein Inselbewohner hat niemals Angst, dann kann er doch nicht hier wohnen, sondern muss Sack und Pack nehmen und umziehen und wie alle anderen in einem Wald und einem Tal wohnen, das ist eine Katastrophe, ein Inselbewohner ist düster gestimmt, nicht starr vor Angst, sondern vor Ernst.

Der Ernst will sich auch erst legen, nachdem das Familienoberhaupt noch einmal draußen war und mit Blut im Gesicht hereinkommt und mit einem Grinsen sagt: »Is ja bloß gutes Wetter.«

Sie brauchen einen Moment, um zu begreifen, dass das ein Witz sein soll, und als sie ihm das Blut abgewischt haben und sehen, dass es nur eine Schramme am Kinn ist, und als er um Kaffee bittet und sagt: »Die alte Eberesche lehnt sich ein bisschen nach Osten«, da begreifen sie, dass der Wind sich auch dieses Mal vom entsetzlichen Südwesten nach Westen gedreht hat, und das ist das erste Anzeichen dafür, dass sich ein Orkan in einen normalen Sturm verwandeln und sich danach nach Norden drehen und schließlich zu einer scharfen Brise zusammensacken wird, ehe er sich endlich so beruhigt, dass sie wieder Wasser in den Stall tragen können, ohne dort mit leeren Eimern anzukommen.

Barbro und Maria können die Eimer fast halb voll zu den Tieren bringen, während Hans nachdenklich in der Küche stehen bleibt und die Wunde an seinem Kinn betastet und ihn eine plötzliche Eingebung erfüllt, und er sagt zu Ingrid, sie solle mit ihm kommen und das Meer ansehen, damit sie lernt, sich nicht davor zu fürchten, jetzt, wo es ganz besonders heftig ist, ganz besonders lehrreich.

Er weiß nicht, wie er auf diese Idee gekommen ist.

Das weiß sie auch nicht. Aber er zieht sie an, während Martin den Kopf schüttelt, und bindet ihr ein Seil um den Leib. Sie gehen hinaus unter den zornschnaubenden Himmel und kämpfen sich nach Süden, waten gegen die Strömung durch einen Fluss aus Wind und Wetter, klettern mühselig über drei Mauern und ducken sich im Windschutz, um Atem zu holen, bringen eine weitere Mauer hinter sich, während der Vater vor jedem Hindernis lacht und Ingrid sich beide Hände vors Gesicht halten muss, um atmen zu können, und so geht es hoch auf die kleine Anhöhe hinter dem russischen Baumstamm, der letzten Schanze, ehe das Gebrüll über sie hereinbricht – wütende Wände aus Wasser, das sich in der schwarzen Nacht aufgetürmt hat und sich auf sie zuwälzt und an Stein und Strand und Felsen zerschlagen wird, dass Muscheln und Eis und Sand sie nur so anfauchen, denn das hier kann niemand ansehen oder begreifen oder erinnern, die Posaunen des Jüngsten Tages, da können sie auch gleich alles wieder vergessen.

»Is nich gefährlich«, schreit der Vater ihr ins Ohr.

Aber das hört sie nicht. Sie hören beide nichts. Er schreit, sie solle mit dem Körper spüren, dass die Insel sich nicht von der Stelle bewegt, auch wenn sie zittert und Himmel und Meer umkalfatert werden, eine Insel geht niemals unter, auch wenn sie bebt, sie ist unerschütterlich und ewig, im Erdball selbst verankert. Ja, es ist eine fast religiöse Erkenntnis, die er in diesem Augenblick mit seiner Tochter teilen will, da er keinen Sohn hat und jeden Tag sicherer wird, dass er auch niemals einen bekommen wird, dass er sich mit einer Tochter abfinden und ihr das grundlegende Prinzip klarmachen muss, dass eine Insel niemals untergeht, niemals.

Später wird Ingrid sich über diesen Abend wundern, das werde ich nie vergessen, wird sie sagen, aber dann ist der Sturm längst abgeflaut, und nur das Unerschütterliche ist noch da, die Frage, ob eine Insel mehr ist als ein Sandkorn. Diese Frage wird nicht durch den Vater ausgelöst, sondern durch die Mutter, die sie, als sie sich wieder nach Hause geschleppt haben, mit lautem Geheul empfängt und sich darüber beschwert, dass sie nicht einmal in den Stall gehen kann, ohne dass dieser Idiot von Mann das Kind in Lebensgefahr bringt, wenn er noch weitere solche Einfälle bekommt – dann sind wir geschiedene Leute und ich ziehe weg!

Nicht zum ersten Mal wird in diesem salzverkrusteten Haus ein solcher Satz gesprochen, sie haben Nerven aus Stahl, aber zum ersten Mal begreift Ingrid, was das bedeutet: Eine Insel kann man verlassen.

Sie fängt an zu weinen und es dauert seine Zeit, bis Maria begreift, dass es nicht der Sturm ist, sondern ihre eigenen Worte, die Ingrid so verstört haben, sie bedeuten doch nichts, sind nur Geräusch und Schnaufen. Aber sie bringt es nicht über sich, das zu sagen, dass sie natürlich Barrøy niemals verlassen werden, das ist eine unmögliche Vorstellung, vor allem jetzt, da Der Erste Wintersturm vor den ächzenden Wänden sein Todesröcheln ausstößt, dann gerät man aus dem Gleichgewicht und kann nicht wissen, dass man nicht wegkommt, wenn man erst auf einer Insel wohnt, dass eine Insel festhält, was sie hat, mit den Kräften, die sie hat.

Die Unsichtbaren

Подняться наверх