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Die Häuser auf Barrøy stehen in einem schiefen Winkel zueinander. Von oben her sehen sie aus wie vier Würfel, die irgendwer achtlos verstreut hat, dazu gibt es einen Kartoffelkeller, der im Winter zum Iglu wird. Zwischen den Häusern liegen Steinplatten, es gibt Gestelle, auf denen Kleider getrocknet werden, und Graswege führen strahlenförmig nach allen Seiten, aber eigentlich bilden die Häuser einen Keil gegen den Wind, damit sie nicht umgeworfen werden können, selbst wenn sich das ganze Meer über die Insel ergießt.

Niemand kann sich dieses sinnvolle System als eigenes Verdienst anrechnen, es ist das Ergebnis von kollektiver und ererbter Weisheit, erbaut aus teuer erkaufter Erfahrung.

Aber nicht einmal ein historischer Geniestreich kann verhindern, dass sich im Winter eine Flutwelle aus kompaktem Schnee zwischen Wohnhaus und Stall schiebt, durch die sie sich mit Wassereimern und Melkeimern hindurchkämpfen müssen, wenn sie zu den Tieren und wieder ins Haus wollen. Sie nennen diesen Schnee Welle und verfluchen ihn wie nur wenige andere Phänomene, denn die Welle erhebt sich gern dann, wenn die Nerven blank liegen, im Januar und Februar, im Dezember, ja, im März, eine Mauer aus Sulzschnee zwischen Tieren und Menschen, und Schneeschaufeln hilft nichts, auch wenn sie es trotzdem tun, denn alles wird sofort wieder zugeweht. Die Männer schaufeln Schnee, die Frauen schleppen Wasser und Milch, und meistens müssen die Frauen die ganze Runde um Haus und Stall drehen, und das ist eine lange Wanderung, wenn sie sich in den Windböen nicht einmal aufrecht halten können.

Aber die Häuser haben nicht immer so dagestanden wie jetzt, zwischen der Baumgruppe und dem Beerengarten auf dem höchsten Felsrücken, sie standen weiter unten, in einer einige hundert Meter weiter gelegenen Bucht, die Karvika genannt wird. Dort gibt es jetzt nur noch zwei Grundmauern und die von Tang und Sand überdeckten Reste eines Anlegers. Daran denkt im Alltag niemand auf der Insel, sie wissen eigentlich gar nichts darüber, dass dort einst jemand gelebt hat. Doch selbst in einem Leben zu Fuß auf festem Boden gibt es Augenblicke, da man in anderen Bahnen denkt als den gewohnten, und da geht es einem auf, dass es eine Erklärung dafür geben muss, weshalb die Häuser nicht noch immer drüben in der Bucht stehen, wo sind sie geblieben, diese Häuser, und warum stehen sie dort nicht mehr?

Die Erklärung ist mit ziemlicher Sicherheit tragisch, vielleicht ist sie entsetzlich.

Der alte Martin hat hier die längsten Wurzeln, ist die Quelle mit dem höchsten Status, und er hat ja seine Ansichten darüber, warum und wann die verlorene Zivilisation verschwunden ist, es geht hier um seine eigenen Ahnen, und er erinnert sich auch an ein paar Bruchstücke aus seiner Kindheit, einige Bilder und Sätze und Berichte. Aber er ist nicht mehr der Glaubwürdigste unter ihnen, das liegt an seinem hohen Alter und der natürlichen Schwäche, die nicht nur das Gedächtnis verzehrt, sondern auch seltsame Einfälle und Wunderlichkeiten mit sich bringt, die einen alten Mann in den Augen der Jüngeren lächerlich machen, so dass jede Generation ihre eigenen Wege gehen und sich an das erinnern kann, woran sie sich erinnern will. Auch sie führen sicher irgendwohin, diese neuen Wege, schlimmstenfalls in denselben Kreisen, nur dauert es eben noch so lange.

Aber auch wenn sie rein gar nichts über die Ruinen von Karvika wissen oder wenn sie keine Erklärung dafür haben, was einst zwei Häuser waren und jetzt keine mehr sind, haben sie doch Respekt vor den Ruinen. Sie machen einen Bogen darum, die Kinder spielen dort nicht, die Vögel bauen dort kein Nest, nicht einmal die Eiderenten, und die Menschen kommen nicht auf die Idee, sie abzureißen und die Steine für andere Bauten und Grundmauern zu verwenden, zum Beispiel für die, die sich zwischen den Gärten dahinziehen. Lieber suchen sie sich neue Steine, damit die Reste dort wie ein Denkmal oder ein Friedhof stehen können, unheimlich und überwuchert von Brennnesseln und Weidenröschen, und das Gefühl von etwas aussondern, das zu kalt und zu heiß zugleich ist. Wenn man vom Hügel auf die Ruinen hinabblickt, sehen sie aus wie chinesische Zeichen, geschrieben mit zwei verschiedenen Händen. Im Winter sind sie von Schnee bedeckt, dann werden die Zeichen noch deutlicher, vor dem fauligen braunen Gras, ehe auch das Gras weiß wird.

Die Unsichtbaren

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