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Niemand kann eine Insel verlassen, eine Insel ist ein Kosmos im Taschenformat, wo die Sterne im Gras unter dem Schnee schlafen. Aber es kommt vor, dass jemand es versucht. Und an einem solchen Tag weht ein sanfter Ostwind. Hans Barrøy hat Segel gesetzt, ein braun imprägniertes Schratsegel. Die ganze Familie ist dabei, außer dem alten Martin, der von dieser Reise nichts hält.

Sie wollen Barbro abliefern.

Barbro ist dreiundzwanzig und muss endlich in Dienst gehen. Sie haben ihr eine Stelle besorgt.

Nachdem sie am Kai bei der Handelsstation vertäut haben, geht Ingrid mit Barbro an der Hand hinauf zum Laden und zur Ortschaft, wo die Bäume in den Himmel wachsen und die Häuser angestrichen sind und so dicht nebeneinander stehen, dass man ohne Mantel von einem zum anderen gehen kann.

Barbro will niemanden außer Ingrid an der Hand halten, denn sie weiß, was geschehen wird, und sie bleibt vor dem Laden stehen, und alle Blicke richten sich auf sie, die Inselbewohnerinnen, sie sind hier an Land so selten zu sehen.

Ingrid ist fein angezogen, mit blauem Kleid und grauer Strickjacke, mit grünen Eiskristallen an Kragen und Ärmeln. Barbro trägt ein gelbes Kleid und eine Friesjacke, die zu kurz ist, sie sagt, sie will Kandiszucker.

Hans ist ihr nachgelaufen und sagt ja, sie kann Kandiszucker bekommen. Aber nach dem Besuch im Laden will sie nicht weiter zum Hof gehen, wo die Hausfrau, Gretha Sabina Tommesen, versprochen hat, sie als Magd einzustellen, wenn es sie nicht mehr kostet als das Essen und ein Bett. Hans und Maria müssen Barbro weiterschleppen, während Ingrid ganz hinten geht und verstohlene Blicke auf die Kinderschar wirft, die ihnen in einiger Entfernung folgt. Sie hat schon einige von ihnen gesehen, aber nur kurz, in der Kirche und im Dorf, sie weiß den Namen von zweien, erkennt vier Gesichter, aber keins davon lächelt, und sie starrt nicht lange hin, dann läuft sie hinter den anderen her in den Garten, der das weiße Haus mit der schweren dunklen Füllungstür umgibt, die sich nun öffnet und sie in einen anderen Erdteil eintreten lässt.

Aber dort schafft es Gretha Sabina Tommesen, Barbro dreimal »die Idiotin« zu nennen, während sie die Kammer zeigt, in der Barbro zusammen mit der anderen Magd schlafen soll, die ebenfalls von den Inseln stammt, nur ist sie viel jünger als Barbro. Sie erklärt, dass die Idiotin damit rechnen muss, zur Handelsstation geholt zu werden, wenn der Hering kommt, und sei es mitten in der Nacht, wie alle Frauen im Haus.

»Kannse Fisch ausnehmen?«

»Sicher«, sagt Maria. »Se kann auch kochen und karden und spinnen und Socken stricken ...«

»Isse reinlich?«

»Das sehnse doch.«

»Verstehst du, was ich sage, Barbro«, ruft sie Barbro zu, die nickt und zu einer Kristalllampe hochschaut, die über ihrem Kopf hängt, ein Sternenhimmel, in dem die Augen so tief versinken, dass sie dort bleiben und der Nacken steif wird. Als nun Gretha Sabina Tommesen zu Maria sagt, dass die Schwägerin nicht damit rechnen darf, andere Kleider zu bekommen, als sie selbst mitgebracht hat, sieht Hans die Schwester an – deren Blick noch immer auf das neue Sonnensystem gerichtet ist – und fasst einen Entschluss, nimmt sie an der einen Hand und ihren kleinen Koffer in die andere und geht wieder hinaus, macht auch jetzt den Umweg zum Laden und wartet, bis Maria und Ingrid sie eingeholt haben.

Die Eheleute wechseln einen Blick. Er nickt zur Tür hinüber. Sie nickt zurück. Sie gehen hinein und kaufen Zucker und Kaffee, zwei Packungen vierzöllige Nägel, einen Eimer Teer, Sago, Zimt, ein Fässchen Grobsalz, bestellen drei große Säcke Roggenmehl, die in vier Tagen abgeholt werden sollen, und gehen mit ihren Waren wieder hinaus und zum Anleger und steigen in ihr Boot und setzen Segel.

Über der See hängt ein feiner Dunst.

Aber Hans kann seine Schwester nicht ansehen. Er setzt sich auf die andere Seite der Ruderpinne, um das Segel zwischen sich und sie zu bringen. Aber deshalb ist er ja nicht Marias Blick entzogen, sie ist siebenundzwanzig Jahre alt, sie ist stark und kommt von einer anderen Insel, sie hat die Haushaltsschule besucht und hätte überall einen Dienst finden können, aber sie ist auf Barrøy, bei ihm, Hans Barrøy, der fünfunddreißig ist, als er hier versteckt sitzt, vor seiner eigenen Schwester und einer ärgerlichen Scham, sie gehören beide eng zusammen, Scham und Versteck, aber weiterhin ist er Marias Blick ausgesetzt, und der wird nicht weichen, bis Hans zugibt, dass er ein Trottel ist, ein Nicken würde reichen. Dann richtet sie ihren Blick auf die Wellen und hat dieses ärgerliche Lächeln auf den Lippen, das sie nur noch unbesiegbarer macht.

Der alte Martin steht am Steg und nimmt sie mit schrillem Lachen in Empfang.

»Hab ich’s nich gleich gesacht!«

Er watet auf sie zu, hebt den Koffer an Land und führt seine Tochter zu den Häusern, während Ingrid nebenherläuft und vom Dorf erzählt, bis ihre Stimme im Geschrei der Möwen untergeht. Maria und Hans bleiben am Steg stehen und überlegen, ob sie die Karre holen oder die Einkäufe nach oben tragen sollen.

»Das könnwa doch sicher tragen?«

Sie geht vor ihm her. Er lässt die Einkäufe fallen und packt sie bei den Hüften und wirft sie in das hohe Gras, wo nicht einmal Gott sie beide sehen oder Marias halbersticktes Geheul hören kann, und wie sie ihm allerlei Namen gibt, während sie wieder dieses Lächeln hat, das vorhin noch in die Wellen gerichtet war, jetzt hat er es eigentlich wieder hochgeholt. Und danach haben sie keine Lust, weiterzugehen, sondern bleiben liegen und schauen in den Himmel, während sie von einem Tag erzählt, als sie ein Kind auf Buøy war und ein Stall unter dem vielen Schnee auf dem Dach zusammenbrach. Er hört zu und fragt sich, worauf sie wohl hinauswill, wie er das immer tut, was meint Maria und worauf will sie hinaus. Bis Ingrid plötzlich über ihnen steht und fragt, wo sie denn bleiben, Barbro will wissen, was es zu essen geben soll, Hering oder Köhler oder den fetten Butt, den der Vater gestern erwischt hat.

»Ich schneid den Butt klein«, sagt er und erhebt sich und holt doch die Karre und lädt die Einkäufe darauf, und Ingrid noch dazu, und schiebt die Karre bergauf, während Maria liegen bleibt. Sie ist die Philosophin auf der Insel, die mit dem schrägen Blick, da sie von einer anderen Insel kommt und Vergleiche hat, das nennt sich Erfahrung oder sogar Klugheit, aber es kann ihr auch ein gespaltenes Gemüt geben, es kommt darauf an, wie verschieden die Inseln sind.

Die Unsichtbaren

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