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Was auf einer Insel an Land getrieben wird, gehört denen, die es finden, und Inselbewohner finden vieles. Es kann sich um Kork und Tonnen und Hanf und Treibholz und Flottholz handeln – oder um grüne und braune Glaskugeln, die im Meer Fischernetze festhalten –, wie sie, wenn der Sturm sich ausgetobt hat, der alte Martin Barrøy aus den Tanghaufen wühlt, und sich dann damit in das Bootshaus setzt, um sie mit neuen Netzen zu umwinden, sie werden dann wie neu. Es kann sich auch um ein hölzernes Spielzeug für Ingrid handeln, um Fischkästen und Ruder, Fischhaken, Schnurschnellen, Schöpfkellen, Bretter und Bootsreste. In einer Winternacht wurde ein ganzes Steuerhaus an Land geschwemmt. Sie zogen es mit dem Pferd nach oben und stellten es im Süden auf der Insel in den Garten, und nun kann Ingrid auf dem Stuhl des Kapitäns sitzen und am Steuerrad aus Messing und Mahagoni drehen, während sie auf die Wiesen und Mauern schaut, die sich in Wellen über die Insel ziehen.

Es sind nicht weniger als acht Mauern.

Sie sind aus Steinen gebaut, die aus dem Erdreich nach oben steigen wie die Glaskugeln aus dem Meer, nur viel langsamer, die Steine brauchen viele Winter dazu, und dann können sie sie im Frühjahr aufsammeln und auf die Mauern legen und sie noch höher machen, die Mauern, die die Insel in neun Wiesen einteilen, oder Gärten, wie sie das nennen. Der Südgarten wird am meisten heimgesucht, dort bricht das Meer mit seinem ganzen Ungestüm herein. Dann folgt der Busengarten, von dem niemand weiß, woher er seinen Namen hat, aber es kann an den grünen Graskuppen und den erhöhten Ackerstellen liegen, die großen und kleinen Frauenbrüsten ähneln und die die Schafe nach der Mahd rund und schön weiden. Dann der Steingarten, weil es dort mehr Steine gibt als anderswo. Der Rosengarten, weil das Gras dort rot ist wie unreife Vogelbeeren. Der Stallgarten umgibt die Häuser, der Garten Eden schaut nach Norden, ist aber trotzdem der fruchtbarste, wo die Kartoffeln angebaut werden, dann der Schorfgarten, der Nordgarten und der Notgarten, die alle ihren Namen verdient haben, auch wenn der Nordgarten der grünste von allen ist und Bootshaus und Landungsplatz umhüllt wie ein riesiger grüner Fäustling.

Sie finden tote Tümmler und Alken und von stinkenden Gasen zum Bersten gefüllte Kormorane, sie waten durch fauligen Tang und finden halbe Schuhe und einen Hut und einen Krug und Bruchstücke von fremden Leben, Zeugnisse von Überfluss, Schlendrian, Verlust und Verschwendung und von Unglücken, die Menschen getroffen haben, welche ihnen unbekannt sind und denen sie niemals begegnen werden. Ab und zu finden sie auch eine unfreiwillige Botschaft, die sich nicht entziffern lässt, einen Mantel aus England, die Taschen voller Zeitungen und Tabak, einen Kranz von einem feuchten Grab in der Tiefe des Meeres, die französische Trikolore an einer zersplitterten Fahnenstange und einen schleimigen Kasten mit den intimsten Besitztümern einer exotischen Frau.

Ein seltenes Mal finden sie auch eine Flaschenpost, die eine Mischung aus Sehnsüchten und Geständnissen enthält und an andere gerichtet ist als die, die sie finden, die aber, wäre sie an die richtige Adresse gekommen, die Empfänger dazu gebracht hätte, Blut zu weinen und Himmel und Erde in Bewegung zu setzen. Jetzt öffnen die Inselbewohner sie in ihrer ganzen Nüchternheit und ziehen die Briefe heraus und lesen sie, falls sie die Sprache verstehen, und machen sich auch Gedanken über den Inhalt, kleine vage Gedanken – eine Flaschenpost ist eine geheimnisvolle Vermittlerin von Sehnsucht, Hoffnung und ungelebtem Leben –, und danach legen sie die Briefe in die Kiste für das, was weder besessen noch weggeworfen werden kann, und sie kochen die Flasche aus und füllen sie mit Johannisbeersaft, oder sie stellen sie einfach als Beweis für ihre eigene Leere auf die Fensterbank im Stall, so dass das Sonnenlicht hindurchscheint und grün wird, ehe es sich neigt und sich auf den trockenen Grashalmen auf dem Boden zurechtlegt.

Aber an einem Herbstmorgen findet Hans Barrøy einen ganzen Baum, den der Sturm hochgeschoben und an der Südspitze der Insel abgelegt hat. Einen riesigen Baum. Hans Barrøy traut seinen Augen nicht.

Jetzt senkt sich das Meer im Rhythmus des Windes, und der Baum liegt da wie das Skelett eines urzeitlichen Ungeheuers, ein Walrumpf, mit intakten Wurzeln und Zweigen, aber ohne Nadeln oder Rinde, die hat das Meer verzehrt, eine weiße Tonne Harz, so wertvoll draußen in der Welt, da man damit die Bögen berühmter Geiger einreiben kann, damit ihre Töne rein werden. Es ist eine russische Lärche, die durch Jahrhunderte am Ufer des Jenissei in der Einöde südlich von Krasnojarsk herangewachsen ist, in der die Taigawinde ihre Spuren hinterlassen haben wie ein Kamm in fettigem Haar, bis eine Frühlingsüberschwemmung mit Zähnen aus Eis den Baum in den Fluss warf und ihn mit sich führte, drei-, viertausend Kilometer nordwärts in die Karasee, und ihn in die Krallen der salzigen Ströme legte, die ihn nach Norden bis an den Rand des Eises brachten, und dann weiter nach Westen, vorbei an Nowaja Semlja und Spitzbergen und bis zu den Küsten von Grönland und Island, wo wärmere Strömungen ihn aus dem Griff der Kälte rissen und wieder nach Nordosten trieben, in einem mächtigen, die halbe Erde umfassenden Kreis, vollendet in einem Jahrzehnt oder zwei, ehe ein letzter Sturm ihn auf eine Insel an der norwegischen Küste warf, so dass er in einer Dämmerung im Oktober von Hans Barrøy gefunden werden kann, der ihn in stummem Staunen betrachtet.

Ein so gewaltiger Baum ist in dieser Gegend noch nie angeschwemmt worden.

Hans Barrøy läuft nach Hause und holt die Familie.

Sie machen sich daran, die Beute zu teilen, sie entfernen die Zweige und zersägen Wurzeln und Äste und stapeln sie an der Nordwand des Stalles auf, als Brennholz, dann machen sie sich über den Stamm selbst her, Holzscheit um Holzscheit. Doch dann liegt da plötzlich eine römische Säule von gut dreizehn Metern und sie können sie noch immer nicht mit Pferd und Flaschenzügen und der Kraft von fünf Menschen auf den Hof schaffen. Sie vertäuen die Säule und gehen nach Hause und überschlafen die Sache, erschöpft, müde und zufrieden.

Und bei der nächsten Springflut können sie den Baum noch einige Meter höher ziehen, doch da bleibt er dann liegen, eine umgestürzte Marmorsäule.

Hans und Martin schneiden noch zwei große Holzstücke zurecht, sie brauchen einen ganzen Tag dazu, und sie sehen, dass das mit Harz gefüllte Kernholz immer noch rotglühender wird, je näher sie dem Zentrum kommen, hart wie Glas und doch porös unter der Messerklinge. Sie schaben es ab und zerkrümeln es zwischen den Fingern und nehmen einen Geruch wahr, bei dem sie einsehen, dass es unmöglich wäre, dieses Wunderwerk zu zerhacken, nur um es in einem Ofen zu verbrennen. Der Baum ist eine Einheit, die bewahrt werden muss, irgendwann werden sie Verwendung dafür haben, in einer anderen Zeit, oder sie werden ihn verkaufen können, er muss doch ein Vermögen wert sein.

Mit einer letzten Kraftanstrengung wälzen sie ihn auf drei Laufrollen, damit er nicht das Gras berührt, schlagen auf jeder Seite vier Pfähle in den Boden, treiben Bolzen durch die Pfähle und ins Holz. Und da liegt die Säule noch heute, hundert Jahre später, eine weiße Walze vor dem Meer. Es mag aussehen, als habe jemand sie vergessen, es mag aussehen, als habe sie einmal eine Funktion gehabt, als sei sie unentbehrlich gewesen.

Die Unsichtbaren

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