Читать книгу Seewölfe Paket 7 - Roy Palmer, Fred McMason - Страница 17

2.

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Der Kapitän der Zweimastgaleone „Tierra“, Jesus Maria de Aragon, blickte seit einer Viertelstunde durch das Spektiv und musterte das lächerlich kleine Eiland, das sich an Backbord befand.

Zu sehen gab es nicht viel. Dicht am Wasser lag eine umgestürzte Palme, ein paar Büsche befanden sich in der Nähe und etwas Dunkles lag in Wassernähe.

Aber sie alle hatten deutlich einen Knall gehört, dessen Ursprung nur von dieser kleinen Insel stammen konnte.

De Aragon gab dem Rudergänger Befehle, und die Galeone, die mit achterlichem Wind auf Südostkurs lief, ging in den Wind und luvte an.

„Es muß jemand auf dieser Insel sein“, sagte De Aragon zu seinem ersten Offizier. „Jeder von uns hat diesen Schuß gehört.“

„Si, Capitan“, erwiderte Lopez, „der Schuß war deutlich zu hören, aber vielleicht war es die Palme am Strand, die umstürzte und diesen Knall vortäuschte.“

De Aragons Lippen wurden zwei schmale Striche.

„Verursachte, wollten Sie sagen, Senor Lopez“, verbesserte der Capitan. „Aber es geht schlecht an, daß eine Palme umstürzt und man den Knall erst sehr viel später hört. Lassen Sie dort vorn Anker werfen. Nehmen Sie das Boot, zwei Männer und rudern Sie hinüber. Ich will wissen, was da vorgeht.“

Lopez nickte, schüttelte aber anschließend sofort den Kopf.

„Wie soll dort jemand überleben, Capitan?“ fragte er leise.

„Das weiß Gott allein, Lopez, deshalb werden wir nachsehen.“

Die Tiefe in Inselnähe ließ sich nicht aussingen, es mußten mehr als hundert Faden sein. De Aragon verzichtete auf das Ankermanöver und ließ die „Tierra“ in den Wind gehen.

Lopez und zwei Männer bestiegen etwas später das Boot und pullten durch mäßig bewegte See dem Inselchen entgegen.

De Aragon lehnte am Schanzkleid des Achterkastells und verfolgte das Geschehen mit dem Spektiv. Die anderen Männer der Crew blickten ebenfalls zu dem Landstrich hinüber.

Der Ausguck wurde gewechselt, der Posten enterte ab und ließ sich beim Capitan melden.

„Es ist möglich, daß ich mich täusche, Senor Capitan“, sagte er, „aber es hat den Anschein, als läge auf der anderen Seite der Insel ein kleines Boot. Man kann über die Insel blikken, aber ein paar Sträucher verdekken die Sicht.“

„Sie sind sich nicht sicher?“

„Nein, deshalb verzichtete ich auf eine Meldung. Wenn es ein Boot ist, dann ist es nicht größer als eine Nußschale.“

„Lopez wird es entdecken“, murmelte der Capitan, „er wird die Insel ganz sicher umrunden.“

Lopez ließ zuerst auf den Strand zuhalten. Die Insel veränderte ihr Gesicht, sobald man näher heranpullte. Anfangs sah sie langgestreckt aus, dann wieder beschrieb sie einen Bogen. Jedenfalls wanderte die umgestürzte Palme aus seinem Blickfeld. Es hatte den Anschein, als wandere sie heimlich davon.

Verblüfft über das Phänomen schüttelte er den Kopf. Die Insel ließ er dabei keine Sekunde aus den Augen.

„Da liegt jemand“, sagte er laut, und die beiden Seeleute wandten die Köpfe, um an Land zu blicken.

„Weiterpullen!“ herrschte Lopez sie an. „Etwas mehr nach Backbord, ihr Strolche!“

Das Boot lief knirschend auf den Strand, und Lopez sprang mit einem Riesensatz in den körnigen Sand.

Zwischen niedrigen Büschen erkannte er eine Gestalt und zuckte zusammen, als er das Gesicht und den Körper sah.

Die beiden Seeleute, die ihm schweigend gefolgt waren, bekreuzigten sich hastig. Breitbeinig blieben sie vor dem ausgemergelten Mann stehen, der sich nicht rührte.

Neben ihm im Sand lag eine Muskete, aus der der kürzlich erfolgte Schuß stammen mußte.

Aber hatte dieser Mann überhaupt noch die Kraft gehabt, eine Muskete abzufeuern? Seinem Zustand nach zu urteilen, war das einfach unmöglich.

Sein Gesicht war eingefallen wie das einer Mumie, die Augen lagen in tiefschwarzen Höhlen, und ein struppiger, mit Sand verklebter Bart bedeckte sein ausgemergeltes Gesicht, von dem Hautfetzen herunterhingen. Der Mann bestand fast nur noch aus Haut und Knochen, überall an seinem Körper waren eitrige Wunden zu sehen.

„Ein Landsmann von uns“, sagte Lopez erschüttert. Er sah es an der zerfetzten Kleidung, die ebenfalls nur noch aus traurigen Resten bestand.

Er bewegte sich nieder, horchte an der Brust des unbekannten Mannes und richtete sich wieder auf, nachdem er schweigend genickt hatte.

„Er lebt noch, wahrscheinlich ist er halb verdurstet und verhungert, und vielleicht kriegen wir ihn nicht mehr durch. Aber der Capitan wird sicher gern seine Geschichte hören. Nehmt ihn vorsichtig auf und bringt ihn ins Boot. Einer bleibt bei ihm, der andere geht mit mir zur Südseite hinüber.“

Unendlich vorsichtig wurde der Bewußtlose aufgehoben und zum Boot getragen, wo sie ihn hinlegten.

Normalerweise hätte Lopez jetzt schnellstens zurückkehren müssen, denn jede Minute zählte für den Unbekannten. Aber er sagte sich, daß es jetzt auch nicht mehr darauf ankäme, denn genausogut hätten sie die Insel ja auch etwas später anlaufen können.

Mit eiligen Schritten lief er voraus, bis er die Insel zur Hälfte umrundet hatte.

Dann sah der Seemann, wie Lopez stehenblieb, als hätte ihn eine unsichtbare Faust getroffen.

Daß dort ein kleines Boot lag, registrierte er fast nur im Unterbewußtsein. Aber er sah den Mann oder vielmehr das, was von ihm noch übrig war, und er schluckte hart.

Vor ihnen im Sand lag ein Gerippe, an dem nur noch ein paar Fetzen ausgedorrtes Fleisch hingen. Reste einer zerfetzten Hose bedeckten die unteren Knochen.

Lopez sagte kein Wort, stumm blickte er auf das Gerippe und wandte sich dann um, um nach dem Boot zu sehen. Dabei fiel sein Blick auch auf die umgestürzte Palme, und er entdeckte die Schalen von zerschlagenen Kokosnüssen.

„Furchtbar“, stammelte der Seemann. „Sie hatten kein Wasser und nichts zu essen. Dann lieber im Kampf fallen.“

„Du sagst es“, murmelte Lopez.

Das Boot war leicht angeschlagen, es zog Wasser, aber es war noch bedingt seetüchtig. Am Heck fand er den Namen und zuckte unwillkürlich zusammen.

„Nuestra Madonna“, stand da in leicht verwaschener Farbe.

„Schnell, zurück an Bord“, sagte er, drehte sich um und lief los. Er achtete nicht darauf, ob der Seemann ihm folgte.

‚Nuestra Madonna‘, dachte er immer wieder, als er in das Beiboot sprang. Der Spanier aus Cadiz war mit ihnen zusammen vor mehr als zwei Jahren losgesegelt. Das letzte Mal hatten sie ihn auf einer der japanischen Inseln getroffen.

Etwas Furchtbares mußte geschehen sein. Vielleicht war der Mann im Boot, der sich jetzt stöhnend bewegte, der einzige Überlebende der ganzen Mannschaft.

Sie pullten sofort los, mit allen Kräften legten sie sich in die Riemen.

Der Unbekannte wurde nach oben gehievt, dann enterte auch Lopez auf, gefolgt von den beiden Seeleuten.

De Aragon blickte aus schmalen Augen auf den halbtoten Mann, dann sah er seinen Ersten an.

„Erzählen Sie!“

„Wir fanden ihn zwischen Büschen, er war es, der die Muskete abgefeuert hat, Capitan. Noch ein Mann befindet sich auf der Insel, aber er ist schon seit einigen Tagen tot. Die beiden stammen von der ‚Nuestra Madonna‘!“

Der Capitan, ein hagerer schlanker Mann von vierzig Jahren, zuckte sichtlich zusammen.

„Von der ‚Nuestra Madonna‘ stammen sie? Woher wissen Sie das?“

„Am Strand liegt ein kleines Beiboot, auf dem der Name steht. Die beiden haben es hoch auf den Sand gezogen, aber es ist leck.“

Inzwischen hatte der Capitan Anweisung gegeben, daß sich der einzige Mann an Bord, der etwas von Medizin verstand, um den Kranken kümmern solle.

Jetzt wurde Virgil in den Schatten gelegt, und man flößte ihm kleine Schlukke Wasser ein.

De Aragon stand mit abwesendem Blick dabei, und versuchte sich in Gedanken auszumalen, was hier passiert sein mochte.

Ein Beiboot mit zwei Männern, die eine Muskete bei sich hatten und hier auf dieser kleinen Insel gelandet waren, mußten nicht unbedingt Meuterer gewesen sein, die man ausgesetzt hatte. Dann hätten sie sicher nicht das Boot behalten dürfen. Außerdem pflegte der Capitan der „Nuestra Madonna“ Meuterer an die höchste Rah des Schiffes hängen zu lassen. Der Capitan war in der Beziehung nicht zimperlich.

Nein, hier hatte sich etwas anderes abgespielt, den Mann umgab ein Rätsel, das De Aragon gern gelöst hätte.

Er blickte wieder in das Gesicht des Mannes, der sich jetzt unruhig hin und her bewegte.

„Wird er es überleben, Miguel?“ fragte der Capitan den Mann, der sich um den Unbekannten kümmerte.

„Er hat hohes Fieber und die Auszehrung. Ich weiß nicht, ob er die nächsten Stunden überleben wird.“

„Sie werden alles tun, damit er überlebt.“

Lopez blickte den Capitan an.

„Anweisung zum Weitersegeln, Capitan?“ fragte er leise.

„Nein. Vorerst noch nicht.“ De Aragon winkte ab. „Wir kreuzen hier und tasten uns dabei an die Insel heran, bis wir Ankergrund haben. Das wäre alles. Lassen Sie die Mannschaft in der Kuhl zusammentreten, Lopez.“

„Si, Senor!“

Lopez wunderte sich, weil er nicht wußte, was der Capitan plante.

Etwas später starrten einundzwanzig Männer stumm auf den Mann im Schatten, der mehr als halbtot war.

De Aragon schritt die Front der Mannschaft ab. Die Hände hatte er auf den Rücken gelegt.

„Seht euch diesen Mann genau an“, befahl er. „Versucht, ihn euch ohne Bart vorzustellen, etwas voller im Gesicht. Hat ihn schon mal jemand gesehen?“

De Aragon wollte sich Gewißheit verschaffen, ob er es hier mit einem Besatzungsmitglied der „Nuestra Madonna“ zu tun hatte oder nicht. War das nicht der Fall, hatte er auch keine Lust, weitere Nachforschungen anzustellen. Kannte ihn aber jemand aus seiner Crew, und das war sogar höchst wahrscheinlich, weil die Kerle ständig zusammengehockt hatten, dann wollte er das Geheimnis um das spanische Schiff lüften, koste es, was es wolle.

Geduldig wartete er ab und drängte keinen, auch wenn sie lange vor dem Mann standen und ihn anblickten.

Andererseits vermochte De Aragon sich nicht vorzustellen, daß es sich um fremde Männer handelte. Wie sollten die wohl zu dem Beiboot gekommen sein?

Ein Mann meldete sich.

„Verzeihung, Senor“, sagte er, „ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte Virgil sein, ein Seemann aus dem Norden Spaniens. José glaubt auch, ihn zu kennen.“

„Vortreten, alle beide!“

Gehorsam traten die beiden Männer heran.

„Hatte dieser Virgil irgendein besonderes Kennzeichen? Habt ihr mal etwas bemerkt? Seht ihn euch genau an, ich will wissen, was hier vorgefallen ist.“

„Virgil hatte die Ohrläppchen durchstochen, Senor Capitan. Ein Feldscher hat ihm gesagt, daß er dann besser hören würde, er war auf einem Ohr fast taub.“

„Seht nach, ob das stimmt!“

Der eine kniete sich hin, schob die langen strähnigen Haare zur Seite und nickte sofort. Als er auch das andere Ohr durchstochen fand, richtete er sich auf.

„Er ist es, kein Zweifel, Senor Capitan.“

„Du bist deiner Sache sicher?“

„Ganz sicher, ich weiß es.“

In diesem Augenblick schlug der Mann die Augen auf. Sie waren seltsam klar, aber es hatte den Anschein, als sähe er nichts, denn sein Blick ging durch die Männer, die ihn schweigend umstanden, hindurch in unbekannte Fernen.

Mühsam verzog er die Lippen, bis seine schwärzlichen Zahnstummel sichtbar wurden.

„Schnell weg, Steuermann“, sagte er klar und deutlich, „sonst töten sie uns.“ Sein Mund verzerrte sich noch mehr. „Wasser“, hauchte er, „die anderen geben mir keins.“

Sie flößten ihm wieder Wasser ein, vorsichtig, in kleinen Schlucken.

Dieser Virgil scheint ein unglaublich zäher Bursche zu sein, dachte der Capitan. Er sah aus, als wäre er schon vor ein paar Tagen gestorben, aber seine Stimme klang unwahrscheinlich klar. Er stammelte auch nicht, aber nachdem er getrunken hatte, fiel er wieder in sich zusammen und blieb erschöpft liegen.

„Bringt ihn nach achtern in meine Kammer“, befahl De Aragon. „Du bleibst bei ihm, und wenn er noch etwas getrunken hat, flößt du ihm Brühe ein, aber nicht zuviel, damit er sich nicht übergibt.“

Während Virgil nach achtern gebracht wurde, studierte De Aragon zusammen mit dem ersten Offizier die Seekarten.

„Irgendwo hier, ganz in der Nähe vielleicht, muß etwas Schreckliches mit dem Schiff passiert sein“, sagte De Aragon. „Vermutlich ist das Schiff von Wilden angegriffen worden, oder Piraten haben es überfallen.“

Er fuhr mit dem Finger die Karte entlang.

„Das hier ist die Insel Kalimantan1), eine sehr große und völlig unerforschte Insel, die die ‚Nuestra Madonna‘ auf südwestlichem Kurs passiert hat. Den Karten nach gibt es hier ein gigantisches Inselreich, und deshalb werden wir an der Küste entlangsegeln, bis wir zwischen diesen beiden Inseln hier den Weg in den Indischen Ozean gefunden haben. Ich werde damit aber warten, bis dieser Mann zu Kräften kommt, damit er uns die Geschichte erzählen kann. Ich möchte laufend über seinen Zustand unterrichtet werden, Lopez.“

„Si, Capitan. Eine Frage bitte.“

„Fragen Sie!“

„Was geschieht, wenn wir herausfinden, daß Wilde das Schiff angegriffen haben?“

De Aragon lächelte hochmütig. Seine Mundwinkel krümmten sich verächtlich.

„Daß Sie diese Frage überhaupt stellen, Lopez. Eine Antwort darauf erübrigt sich fast, und Sie werden sich diese Antwort auch denken können. Selbstverständlich werden wir zu einer Strafexpedition rüsten und dieses anmaßende Gesindel bis auf den letzten Mann ausrotten. Das geschieht in diesem Fall im Auftrag seiner Allerkatholischsten Majestät, des Königs von Spanien.“

„Aber – aber“, stotterte Lopez, „wir haben doch keinen regulären Auftrag dazu.“

„Einen derartigen Auftrag haben wir immer, Lopez“, sagte De Aragon überheblich. „Das ergibt sich von selbst.“

Lopez kannte seinen Capitan. De Aragon behandelte seine Leute nicht gerade schlecht, aber er verstand keinen Spaß, wenn es um unerforschte Länder oder Eingeborene ging. Dann heimste er im Auftrag der Krone alles zusammen, ohne Rücksicht auf Verluste, und dann war für ihn alles Gesindel, dem man Anstand beibringen mußte. Zumeist brachte er ihnen diesen Anstand mit den Schiffskanonen bei, und der Rest wurde von den Seeleuten besorgt, einfachen Männern, die nicht im Kriegsdienst standen.

Bei Lopez war das anders. Er verabscheute Gewalt, und es war ihm peinlich, sich das von den Einheimischen zu nehmen, was ihnen nicht zustand, und sie anschließend auch noch zu „bekehren“, wie De Aragon sich ausdrückte.

Andererseits, überlegte Lopez, geschah diesen Wilden ganz recht, wenn sie sich anmaßten, Schiffsbesatzungen zu überfallen, die vielleicht nichts anderes wollten als Trinkwasser und Proviant.

Er grübelte über das Thema nicht weiter nach. Auf diese Art behielt er ein ruhiges Gewissen, denn alle Entscheidungen nahm De Aragon ihm ohnehin ab.

Einen Ankerplatz fanden sie jedoch nicht. Rings um die Insel fiel der Meeresboden steil ab in unergründliche Tiefen, und an die Insel selbst traute De Aragon sich nicht heran, aus Angst, die „Tierra“ würde auf ein unsichtbares Riff laufen.

„Was ist mit Ihnen, Lopez?“ hörte er die harte Stimme des Capitans neben sich. „Sie haben doch etwas auf dem Herzen, Sie wollen etwas loswerden, nicht wahr?“

Für Lopez war das Thema Strafexpedition längst erledigt. Er brauchte nur Befehlen zu gehorchen, aber etwas anderes beschäftigte ihn seit einer ganzen Weile.

„Ja, ich – ich wollte zuerst nicht darüber sprechen. Es handelt sich um diesen Virgil.“

De Aragon beugte sich neugierig vor.

„Ja – was ist mit ihm?“

„Ich weiß nicht recht, Capitan, aber da war noch der andere Tote auf der Insel.“

„Lassen Sie mich keine Rätsel raten, Lopez. Reden Sie, was hat es mit dem Mann auf sich?“

„Dem anderen Mann fehlten ein Bein und der Arm.“

De Aragon kniff die Augen zusammen. Sein Gesicht verschloß sich.

„Zum Teufel“, entfuhr es ihm endlich, „wollen Sie damit etwa sagen, daß dieser Virgil seinen Kumpan gefressen hat?“

„So drastisch wollte ich es nicht ausdrücken, Capitan. Auf der Insel gibt es sonst nichts zu essen, außer einer Handvoll unreifer Kokosnüsse. Mich schaudert bei dem Gedanken, einen Mann an Bord zu haben, der vielleicht …“

„Allerdings, doch darüber will ich nicht urteilen. Wer weiß, welches Drama sich auf der Insel abgespielt hat. Hoffentlich werden wir es bald erfahren. Es kann ja aber auch sein, daß der andere seine Gliedmaßen bei dem Kampf verloren hat und schon tot war, als sie die Insel erreichten.“

Das hoffte Lopez auch, denn wenn er darüber nachdachte, drehte es ihm den Magen um. Aber was wußte er schon von Leuten, die ohne Wasser und Lebensmittel auf einer winzigen Insel dahinvegetierten.

Zwei Stunden später war Virgil bei Bewußtsein, und zwar auf eine Art, die sich der Feldscher nicht erklären konnte.

De Aragon ging nach achtern und blickte mit gemischten Gefühlen den Mann an, der ihn eher an eine Leiche als an ein menschliches Wesen erinnerte.

Der Mann hockte aufrecht in der Koje und schien zu grinsen.

„Ich begreife das nicht“, sagte der Feldscher, „normalerweise müßte er tot sein. Aber er benimmt sich so, als fehle ihm nicht das geringste.“

„Schon gut. Hauptsache, er kann reden.“

De Aragon schickte den Feldscher hinaus und wandte sich dem Mann zu, der ihn ruhig und gelassen anblickte.

„Ich bin der Kapitän“, sagte er. „Sie befinden sich an Bord der ‚Tierra‘, nachdem wir Sie von der Insel geholt haben.“

„Die Insel“, sagte Virgil ausdruckslos. „Haben Sie den Steuermann auch mitgenommen? Antonio heißt er.“

„Das war der Steuermann des Schiffes? Er ist tot, Sie müßten das doch wissen.“

De Aragon musterte den Mann scharf, doch keine Reaktion erfolgte.

Virgil nickte nur. „Ich dachte es mir fast.“

Seine Stimme klang ruhig und fest. Nur beim Atmen rasselte es in seiner Brust.

„Erzählen Sie, was sich an Bord zugetragen hat, Virgil. Was ist aus der Mannschaft und dem Schiff geworden?“

Virgil blickte zu Boden. Lange Zeit gab er keine Antwort.

„Wir landeten an der Küste von Kalimantan oder wie die Insel heißt, wenn es überhaupt eine Insel ist. Wir wollten Wasser und Proviant an Bord nehmen.“

„Es ist eine Insel, eine sehr große. Was geschah dann?“

Virgils Hände zitterten plötzlich. Über seinen Körper, lief ein kühler Schauer. Sein Gesicht war von Angst gezeichnet.

„Ein Trupp ging an Land“, sagte er keuchend. „Sie sollten sich nach Wasser und Früchten umsehen. Als der Trupp bis zum späten Nachmittag nicht zurück war, ließ der Capitan eine Suchmannschaft zusammenstellen.“

„Und die kehrte ebenfalls nicht zurück?“

„Nein, wir haben nichts mehr von den Männern gehört.“

„Weiter“, sagte der Capitan drängend.

Virgil bereitete es sichtlich Mühe, zu sprechen. Seine Worte stockten, manchmal brach er mitten im Satz ab und starrte vor sich hin.

„Schließlich waren wir nur noch zwölf Mann an Bord. Wir alle hatten Angst, und so befahl der Capitan, daß jeder schwer bewaffnet wurde. Er ließ Schüsse aus den Culverinen abfeuern, aber wir erhielten keine Antwort. Die ganze Insel schwieg und schien wie ausgestorben zu sein. Ein weiterer Trupp ging vorsichtig an Land, und diese Männer kehrten wenig später auch zurück. Sie brachten Köpfe mit.“

„Köpfe?“ fragte De Aragon entsetzt.

„Ja, auf der Insel gab es Wilde, die unsere Leute in einen Hinterhalt lockten und ihnen die Köpfe abschlugen. Die Körper waren jedoch nirgends zu finden. Sie müssen sie mitgenommen haben.“

„Kannibalen, Menschenfresser“, sagte De Aragon. „Bestien in Menschengestalt.“ Er schüttelte sich angewidert.

„Mir – mir ist so merkwürdig“, sagte Virgil. „Warum wird es plötzlich so dunkel?“

„Sie haben sich überanstrengt“, erwiderte der Capitan mitfühlend. „Legen Sie sich wieder hin, ich lasse Ihnen etwas zu essen bringen.“

Virgil schüttelte den Kopf.

„Nein, nein, ich muß das loswerden“, sagte er hastig. „Jetzt kehrt auch die Erinnerung wieder. Wir fanden von den Wilden keine Spur mehr, aber wir sahen ein Dorf, das sie verlassen hatten. Nachts schwirrten plötzlich Brandpfeile durch die Luft, und plötzlich waren sie da, an Deck. Das Schiff wimmelte von nackten Leibern, und diese Teufel erschlugen einen nach dem anderen, obwohl wir alle Waffen einsetzten, die wir hatten.“

De Aragons Gesicht war zu einer steinernen Maske geworden. Die Wangenmuskeln traten scharf hervor.

„Wissen Sie, wo der Ort liegt?“ fragte er.

„Weiter südlich, es ist, glaube ich, nur das eine Dorf, jedenfalls das allererste. Glauben Sie mir, Senor Capitan, ich habe nie in meinem Leben etwas Schlimmeres gesehen. Wenn wir zehn von ihnen umgebracht hatten, tauchten zwanzig andere auf. Der Steuermann und ich sprangen ins Wasser und zogen uns in das Boot, in dem auch eine Muskete lag. Ein paar konnten wir noch töten, dann entdeckten sie uns in dem Moment, als einer von ihnen gerade den Capitan erschlug. Die Galeone muß untergegangen sein, denn sie stand in hellen Flammen, als wir mit dem Boot lossegelten. Außer uns beiden hat keiner das Massaker überlebt.“

De Aragon ließ sich seinen unbändigen Zorn nicht anmerken. Er stand auf und nickte.

„Einen Augenblick, Virgil.“

Er ging an Deck und rief Lopez herbei.

„Lassen Sie auf den alten Kurs zurückgehen, Lopez. Wir laufen die Küste an und segeln dicht daran entlang. Jeder Fetzen Tuch wird gesetzt.“

„Si, Senor Capitan, sofort.“

Lopez stellte keine Fragen, aber er ahnte, was vorgefallen war.

De Aragon kehrte in die achtere Kammer zurück und bot Virgil einen Rotwein an, doch der wollte nichts essen und erst recht nichts mehr trinken.

„Ich brauche nichts mehr“, sagte er, „mit mir geht es bald zu Ende, ich fühle das.“

Seine magere Hand griff nach dem Arm des Capitans, und er sah ihm beschwörend in die Augen.

„Wenn Sie das Dorf anlaufen, Senor, dann nehmen Sie sich vor den Teufeln in acht, die ehrbaren Männern die Köpfe abschlagen und ihre Körper verschleppen, um sie zu fressen, sonst ergeht es Ihnen, wie es uns ergangen ist.“

„Keine Angst, wir sind gewarnt. Ich sorge mich um Sie, Virgil, Sie müssen etwas trinken!“

„Vielen Dank. Ich habe mir auf der verdammten Insel den Tod geholt. Er hockt in mir, er lauert auf mich.“

„Quatsch, Sie sind über den Berg, mit Ihnen geht es aufwärts. Erzählen Sie mir, was sich auf der Insel abgespielt hat.“

Virgil lächelte gequält. „Ich sehe es wieder ganz deutlich vor mir. Merkwürdig, nicht wahr? Antonio starb nach ein paar Tagen.“

De Aragon hielt den Atem an, er sagte kein Wort.

„War er schwer verletzt?“ fragte der Capitan schließlich, als Virgil nicht weitersprach.

„Nein, ihm fehlte nichts, er war nur erschöpft wie ich auch. Er muß an Erschöpfung, Hunger und Durst gestorben sein, und ich war jetzt ganz allein. Als ich den Geruch nicht mehr aushielt, schleppte ich seine Leiche ins Meer, doch bald darauf kehrte sie wieder zurück. Eine Welle warf ihn an den Strand. Die Haie müssen seinen Körper zerfetzt haben.“

Jetzt ist das auch geklärt, dachte der Capitan. Dieser Mann mußte durch tausend Höllen gegangen sein.

Normalerweise war es bei De Aragon nicht üblich, daß er sich fast leutselig mit einem Seemann unterhielt. Aber das hier war ein ganz besonderer Fall, und ihm stand ein Mann gegenüber, der mehr Bildung hatte als seine ganze Crew zusammen. Daher war seine Sorge um Virgil echt und entsprang einem natürlichen Bedürfnis.

Er ließ sich noch erklären, wie lange sie unterwegs gewesen waren, und versuchte danach in etwa die Entfernung auszurechnen. Aber er konnte sich auch nach dem Dorf richten, dem einzigen an dem Küstenstreifen, wie Virgil versicherte.

„Legen Sie sich wieder hin“, befahl er. „Wir segeln jetzt nach Kalimantan und werden dieses Dorf finden. Und dann gnade Gott diesen Bestien. Ich werde dort aufräumen.“

Virgil war zurückgesunken und schlief. Immer noch rasselte es in seiner Brust.

Vielleicht schläft er sich gesund, dachte der Capitan. Ein Kerl von solch unglaublicher zäher Kondition würde es überleben, daran zweifelte er keine Sekunde.

Als er an Deck trat, segelte die „Tierra“ unter vollem Zeug nach Süden, der Insel entgegen, und am späten Abend wurde erneut Land gemeldet.

Als es dämmerte, ließ De Aragon bei einer Tiefe von neun Faden ankern. Er wollte nicht mehr weitersegeln, um das Dorf der Menschenfresser nicht zu verfehlen.

An Deck gingen die ganze Nacht über acht Mann Wache, und zwei umruderten alle Viertelstunde in dem kleinen Beiboot das Schiff. De Aragon paßte auf, ihm sollte nicht das gleiche Schicksal widerfahren wie den anderen. Bei ihm war ein Überraschungsangriff durch die Wilden fast auszuschließen.

Seewölfe Paket 7

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