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9.

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Shane und Ferris hatten im Kaminzimmer noch einen Schluck Riojo-Wein zu sich genommen und von dem Schinken gekostet, bevor sie mit Pinho Brancate und dessen jüngstem Sohn das Haus verlassen hatten. Als sie zum Ziehbrunnen hinter der Herberge marschierten, jeder mit zwei Fäßchen unter dem Arm, wandte Ferris Tucker sich leise an den graubärtigen Riesen.

„Shane, ob der Schinken wohl vergiftet ist?“

„Was, das fällt dir jetzt ein?“

„Mir ist eben erst der Verdacht gekommen. Der Wein, den diese Galgenstrikke uns unterjubeln wollten, scheint ja mit einem Schlafmittel angereichert zu sein.“

„Ferris“, zischte Big Old Shane. „Hast du denn nicht gesehen, wie sich auch Pinho Brancate einen ordentlichen Kanten von dem Schinken zwischen die Kiemen geschoben hat?“

„Darauf habe ich nicht geachtet.“

„Du bist ein gottverdammter Klamphauer. Was hast du mir für einen Schreck eingejagt!“

„Shane, ob es wohl richtig war, den Profos in dem Hinterzimmer zurückzulassen?“

„Natürlich. In seinem Tran wäre er uns jetzt bloß zur Last gefallen. Wir dürfen die beiden Kerle nicht aus den Augen lassen. Wäre Carberry mit von der Partie, hätten sie außerdem mit ihm leichtes Spiel.“

„Du denkst, die greifen uns an?“

„Ja“, antwortete Shane. „Willst du noch mehr wissen?“

„Nein, das reicht mir“, sagte Ferris voll Grimm. „Still jetzt, die Burschen drehen sich nach uns um.“

Die beiden Brancates hatten den Ziehbrunnen hinter dem Haus erreicht. Pinho wandte den Kopf und lächelte seinen „irischen Gästen“ zu, man konnte seine untadeligen Zähne im Mondlicht schimmern sehen, das jetzt durch eine Lücke in den Wolkenbänken fiel. Iporá war bereits damit beschäftigt, den Holzkübel aus der Tiefe des Brunnens heraufzuziehen.

„Das Wetter bessert sich“, sagte der Herbergswirt. „Der Wind hat, merklich nachgelassen, und bestimmt hat sich auch die See beruhigt.“

„Jawohl, es klart auf“, sagte Big Old Shane. Er setzte seine Fässer neben dem gemauerten Brunnen ab, entkorkte die Öffnungen und richtete sich mit einem knappen Blick in den Himmel wieder auf. „Im Morgengrauen können wir dann wohl den Anker hieven, die Bucht verlassen und weitersegeln, um unsere Reise fortzusetzen – wenn alles gutgeht.“

„Ja, wenn alles gutgeht“, echote Ferris Tucker. Er hatte seine Fässer ebenfalls zu Boden gelassen und harrte der Dinge, die da folgen würden.

Iporá hielt plötzlich in seiner Tätigkeit inne und blickte ziemlich entgeistert in den Brunnen hinunter. Seine Stimme klang hohl von den Innenwänden wider, als er zu seinem Vater sagte: „Padre, da ist was – ein Widerstand. Ich kann den Kübel nicht hochziehen.“

Pinho trat neben ihn. „Laß mich mal“, brummte er, aber so sehr er auch zerrte und ruckte, der Kübel ließ sich keinen Zoll höher ziehen.

„Senores“, sagte Pinho Brancate in gespielter Verzweiflung. „Können Sie nicht mal mit anpacken? Zu viert schaffen wir es vielleicht.“

„Oder das Tau reißt“, widersprach der rothaarige Schiffszimmermann. „Hat denn so was die Welt schon gesehen? He, Senor, kannst du mit deinem eigenen Brunnen nicht umgehen?“

Der Herbergswirt überhörte dies geflissentlich. Er schien ganz in seine Tätigkeit vertieft zu sein.

Big Old Shane und Ferris Tucker traten an den Brunnenrand, hüteten sich aber, sich über den Mauersims zu beugen.

Pinho Brancate und sein Sohn fuhren plötzlich zu ihnen herum. Der Kübel, bislang noch von beiden am Seil festgehalten, sauste in die Tiefe und klatschte Sekunden später unten ins Wasser, weil die Portugiesen das Seil losgelassen hatten. Statt dessen hatten sie sich mit dicken Knüppeln bewaffnet, die in eigens dafür angebrachten Eisenhalterungen an der Brunneninnenseite gehangen hatten. Ohne daß die „lieben Freunde“ es gemerkt hatten, hatten die Brancates blitzschnell zu diesen Waffen gegriffen.

Das Versteck der Knüppel war Pinhos glorreiche Erfindung. Er war sehr stolz darauf, denn schon mehrfach hatte es sich als eine wahrhaft grandiose Einrichtung bewährt.

Die Freundlichkeit war wie weggewischt aus Pinhos und Iporás Mienen. Ohne Warnung droschen sie auf den ehemaligen Schmied von Arwenack und Hasards rothaarigen Schiffszimmermann ein. Sie dachten, leichtes Spiel zu haben, weil sie das Überraschungsmoment ausnutzen – aber bei Shane und Ferris waren sie an die Falschen geraten.

Überrascht waren die beiden keineswegs, sie hatten ja mit einem Ausfall der zwielichtigen Portugiesen gerechnet. So erfolgte ihre Reaktion jetzt gedankenschnell. Ferris sprang zur Seite. Iporá schlug mit dem Knüppel ins Leere und wurde durch die Wucht des Hiebes aus dem Gleichgewicht gebracht. Es riß ihn nach vorn.

Big Old Shane blockte den brutalen Schlag des Vollbärtigen ab, indem er den rechten Fuß hochschwingen ließ. Seine Stiefelspitze traf Pinhos Knüppelarm an dessen Unterseite, und zwar so heftig, daß der bullige Mann aufstöhnte.

Den Knüppel ließ er aber nicht los.

Ferris war herumgefahren und hatte sich auf Iporá geworfen. Dadurch wurde der Halunke nun vollends aus der Balance gebracht, er fing sich nicht mehr, sondern landete bäuchlings im Matsch vor dem Brunnen. Ferris’ große Faust landete mit dumpfem Laut in Iporás Nacken, aber der Bursche wurde nicht bewußtlos. Er konnte einiges einstekken. Lesen und Schreiben hatte Brancate seinen Sprößlingen nicht beigebracht, vom Rechnen ganz zu schweigen. Wohl aber praktische Nahkampfmethoden! Iporá wälzte sich herum, wehrte Ferris’ Hagel von Hieben ab und versuchte, den Knüppel wieder hochzubringen und ihn dem Rothaarigen mitten ins Gesicht zu schlagen.

Shane duckte sich und vollführte eine halbe Körperdrehung, als Pinho Brancate erneut den Knüppel auf sein Haupt niedersausen ließ. Das Rundholz, dicker und schwerer als ein Belegnagel oder eine Handspake, verfehlte Shanes Kopf und knallte auf seine linke Schulter. Greller Schmerz zuckte durch Shanes Körper, aber er hatte sich in der Gewalt und schaffte es, Brancates Waffe festzuhalten, ehe dieser das Holz wieder zu sich zurückziehen konnte.

Shane und Pinho zerrten an beiden Enden des Knüppels. Pinho trachtete den graubärtigen Riesen bis an den Brunnen zu befördern und ihn gegen die Mauer prallen zu lassen. Shane ließ sich nicht vom Fleck bewegen. Es war ein Ringen der Giganten, sie rissen beide wie verrückt an dem Rundholz, aber das Kräfteverhältnis schien fünfzig zu fünfzig zu sein. Sie liefen rot in den Gesichtern an, und ihre Schläfenadern traten schwellend hervor.

Ferris landete einen Hieb auf Iporás Schulter. Für einen Augenblick war der Portugiese gelähmt, und Tucker ergriff seine Chance. Mit einem weiteren Schlag fegte er Iporá den Knüppel aus den Fäusten, er segelte ein Stück durch die Nachtluft und blieb auf dem Untergrund liegen – unerreichbar für den jungen Brancate.

Iporá revanchierte sich mit einem Haken und hielt seinen Gegner durch eine Serie von weiteren Boxhieben in Atem.

Ferris kippte hintenüber, sprang aber auf, bevor Iporá sich auf ihn stürzen konnte. Mit zwei Schritten zurück war Ferris beim Brunnen angelangt und wartete den nächsten Angriff ab.

Pinho Brancate zerrte plötzlich nicht mehr an seinem Knüppel, er stieß ihn in die entgegengesetzte Richtung und traf Big Old Shanes breite Brust. Shane keuchte, behielt aber seinen festen Stand bei. Er war außerdem so geistesgegenwärtig, die hölzerne Waffe rasch nach unten zu drücken. Sie schrammte über seinen Leib, aber auch das ertrug er. Brancate stolperte auf Shane zu, beide ließen fast gleichzeitig den Knüppel los, und dann rammte Shane dem Herbergswirt mit einem saftigen Fluch die Faust unters Kinn.

Pinho Brancate taumelte zurück, strauchelte und fiel auf den Rücken. Er breitete die Arme aus, und es hatte den Anschein, als ob er der Bewußtlosigkeit und Kapitulation nahe war.

Ferris ließ den anstürmenden Iporá auflaufen, packte ihn dann jählings am Hals und schob ihn mit aller Macht an seiner Körperflanke vorbei auf den Brunnen zu. Da nutzte es nichts mehr, daß Iporá entsetzt aufstöhnte und wild gestikulierte. Ferris dirigierte ihn so auf den gemauerten Sims zu, daß Iporás Kinnlade mit dem Stein kollidierte.

Iporá brach zusammen. Ferris stieß einen Laut der Genugtuung aus.

Shane schritt mit ausgebreiteten Armen auf den liegenden Pinho Brancate zu.

„Laß dich umarmen, Compadre“, sagte er grollend. „Mich kannst du nicht ins Bockshorn jagen. Du bist noch längst nicht erledigt. Stell dich, damit ich dir den Rest geben kann.“

Brancate warf sich im Matsch herum und begann zu kriechen. Er gelangte plötzlich an eine kleine Erhebung, die weder Shane noch Ferris zuvor entdeckt hatten. Der Buckel entpuppte sich als ein aus Steinen zusammengefügtes längliches Gebilde, das oben durch ein Brett abgedeckt war. Ehe Shane es verhindern konnte, hatte der bärtige Portugiese das Brett zur Seite geräumt und förderte aus dem darunter freiwerdenden Hohlraum etwas zutage.

Eine Flinte.

Genauer, ein Tromblon. Big Old Shane identifizierte den Typ der Waffe einwandfrei, als Brancate auf ihn anlegte und den Hahn spannte. Charakeristisch für diese auch Blunderbuss oder Blunderbüchse genannte Flinte war die trichterförmig erweiterte Mündung. Auch die Seewölfe verfügten an Bord ihres Schiffes über solche Tromblons. Wenn sie mit gehacktem Blei und Eisen geladen waren, entwickelten diese Schießeisen eine verheerende Wirkung.

Also noch ein geheimes Waffenversteck, das der ausgekochte Brancate für alle Fälle in der unmittelbaren Nähe seines Hauses angelegt hatte! Er spielte den Harmlosen, Gutmütigen, aber er war für alle Eventualitäten gerüstet. Shane brauchte sich keinen Illusionen hinzugeben. Selbstverständlich war das Tromblon geladen, und es befand sich dank der Abdeckung des Verstecks auch in völlig trockenem Zustand. Es regnete nicht mehr, folglich gab es wirklich keine Hoffnung, daß die Waffe etwa durch Feuchtigkeit unbrauchbar geworden war.

„Was habt ihr mit meinem Sohn getan?“ schrie Pinho Brancate. „Ich bringe euch um, ihr dreckigen Bastarde! Ich mache euch fertig – so, wie ich alle anderen Hurensöhne abserviert habe, denen ich die Taschen leerte! Verreckt!“

Er war außer sich vor Wut und hatte jede Beherrschung verloren. In seinem Zustand war er zu allem fähig, auch zum Amoklauf. Shane konnte seine Pistole nicht zücken, Brancate hätte auf jeden Fall zuerst abgedrückt. Und Ferris? Von dem war auch keine Hilfe zu erhoffen. Er stand neben dem Brunnen, war durch das Mauerwerk nicht gedeckt und befand sich zudem noch in einer Schußlinie mit Big Old Shane, so daß der Portugiese sie mit einem einzigen Schuß aus dem Tromblon niederstrecken konnte.

Brancate erhob sich mit haßverzerrtem Gesicht.

Er wußte nicht, daß seine drei Töchter, die gefesselt und geknebelt in einer Kammer des oberen Geschosses lagen, jedes seiner Worte verstanden hatten und in diesem Augenblick für sie eine Welt zusammenbrach, weil sie immer geglaubt hatten, der Padre und die beiden Brüder verschonten ihre Opfer.

Brancate bemerkte ebensowenig, daß rund drei Yards über ihm der Seewolf eins der engen Fenster geöffnet hatte und auf ihn niederblickte.

Charutao hatte Ben Brighton zwar sofort nach dem Abstieg in die Stall- und Kellerräume bewußtlos schlagen wollen, aber Hasards Erster und Bootsmann hatte ihm keine Gelegenheit dazu geboten. Immer wieder hatte er nach dem Brancate-Sproß geblickt – und Charutao zögerte aus berechtigtem Anlaß, sich mit dem stämmigen Mann anzulegen. Zu griffbereit ragte der Kolben der Radschloßpistole aus Bens Gurt auf, und sicherlich wußte der „Ire“ auch vorzüglich mit der Waffe umzugehen. Also war Vorsicht geboten, Charutao mußte schon warten, bis Ben ihm den Rücken zuwandte.

Charutao führte Ben gehorsam in den Nebenraum des Stalles, in dem die Fässer mit der Frischmilch aufgebockt standen. Nebenan war das Rumoren der Kühe, der Maultiere, Schafe und Ziegen zu vernehmen, die den bescheidenen Reichtum der Familie darstellten.

Charutao steckte einen Trichter aus gehämmertem Blech in die Öffnung des Fäßchens, das Ben mitgebracht hatte. Danach schöpfte er aus einem der offenen, vertikal aufgestellten Behälter mittels einer Art Muck Milch und füllte sie um. Glukkernd lief die weiße, fette Flüssigkeit den Trichter hinab.

Dann kam der Augenblick. Durch ein gewolltes Mißgeschick Charutaos lokkerte sich der Trichter. Er löste sich aus dem Spundloch des Fäßchens und landete klappernd auf dem Steinboden. Ben beging einen Fehler, als er sich danach bückte. Der Brancate-Sproß nutzte die Gelegenheit, indem er die Muck ins Faß fallen ließ und sich eine Schaufel griff, die ganz in seiner Nähe an der Wand lehnte.

Er wollte Ben Brighton die Schaufel so fest über den Hinterkopf ziehen, daß dieser für die nächsten Stunden nicht mehr aufwachte.

Aber da war plötzlich eine zweite Hand, die sich um die seine schloß, als er die Schaufel gepackt hatte. Verdutzt wandte Charutao sich um.

Er blickte in das wüste Narbengesicht des Mannes, den Segura und Franca in das Hinterzimmer geführt hatten und von dem alle annahmen, daß er im tiefsten, ohnmachtähnlichen Schlaf lag – alle außer der Abuela.

„Por Dios, der Profos“, konnte Charutao noch stammeln. Dann trachtete er zwar, seine Hand von dem Schaufelgriff zu lösen, aber Carberry klammerte sie fest, hielt den jungen Schurken in seiner Nähe, während er seine andere, freie Faust hochzog und sie auf den Gegner abfeuerte.

Charutao glaubte, von einem der Maultiere des väterlichen Stalles voll ins Gesicht getroffen worden zu sein. Er prallte zurück, stöhnte auf und konnte dann doch endlich rückwärts stolpern, weil Edwin Carberry ihn jetzt freigelassen hatte.

Charutao strauchelte über das halb mit Milch gefüllte Seewölfe-Fäßchen und stürzte, wollte sich dann jedoch wieder aufrappeln. Aber diesmal war Ben Brighton schneller. Ein nicht minder wuchtiger Hieb des Ersten der „Isabella“, und der älteste Brancate-Sohn sank bewußtlos zusammen und streckte alle viere von sich.

Sir John flatterte durch den Kellerraum und stieß die schönsten Flüche aus seiner Sammlung aus, auf englisch und auf spanisch.

„Mann, wie konntest du wissen, daß ich hier unten bin und der Knabe mich niederschlagen wollte?“ fragte Ben.

Carberry grinste säuerlich. „Ein Engel hat euch in dem Kaminzimmer beobachtet, wohl durchs Schlüsselloch des einen Nebenraums. Dann hat er’s mir geflüstert, was hier läuft. Ein Engel, der so um die siebzig, achtzig, neunzig Jahre alt ist.“

„Ed, weißt du auch wirklich, was du sagst?“ erkundigte Ben sich besorgt.

„Ja. Lauf nach oben und sieh zu, daß du Brancates Frau und die Mädchen zurückhältst, damit sie ja nicht nach draußen können, wo Shane und Ferris jetzt wahrscheinlich mit diesem Vollbart und seinem zweiten Sohn alle Hände voll zu tun haben. Mann, nun lauf schon – nach oben, ins Kaminzimmer zurück. Von der Abuela, der Oma, haben wir übrigens keine Hinterhältigkeiten zu erwarten.“

„Und was tust du?“ fragte Ben verblüfft.

„Ich hab hier noch kurz was zu erledigen“, erwiderte der Profos. „Ich will ein kleines Boot kaputtschlagen. Warum, das weiß ich selbst nicht genau. Aber ich hab’s versprochen.“

In diesem Moment war von draußen das Gebrüll Pinho Brancates zu vernehmen. Ben Brighton hielt sich nicht mehr damit auf, sich über Carberrys merkwürdiges Benehmen zu wundern – er stürmte los.

Seewölfe Paket 8

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