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Grafik 1.4

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Man beachte in dieser Grafik die hohen Maturitätsquoten in Finnland mit 96 Prozent oder in Belgien mit 82 Prozent. Beide Länder haben durchaus gute Schulen. Finnland etwa steht regelmässig an der Spitze der europäischen Länder im Pisa-Rating, welches die schulisch-kognitiven Fähigkeiten bei Gleichaltrigen nach einem einheitlichen Test rangiert. Trotzdem weist Finnland eine andauernd hohe Jugendarbeitslosenquote von 18 bis 20 Prozent auf. Das Land hat, wie erwähnt, keine duale Berufslehre; und jenen Jugendlichen, die keine Hochschule durchlaufen können, fehlt eine berufspraktische Qualifizierung. Zwar gibt es auch auf der Mittelschulstufe spezielle Bildungsgänge in Finnland, aber sie sind nicht genügend berufsqualifizierend und zu wenig arbeitsmarktnahe ausgestaltet. Mehrere Lehrerdelegationen aus Finnland haben in den letzten Jahren die Schweiz besucht, um unser Berufsbildungssystem zu studieren.

In den Ländern ohne Berufsbildungssystem läuft der «normale» Bildungsweg von der Maturität direkt an die Universitäten, Hochschulen oder technischen Hochschulen, die alle vollschulisch organisiert sind. So kann man beispielsweise in Italien diplomierter Schweisser an einer Hochschule lernen – ohne je in der Praxis gearbeitet zu haben. Oder in angelsächsischen Ländern kann man Pflegefachfrau («Nurse») an der Universität studieren. Die Ausbildung verläuft ohne berufspraktische Integration in die betriebliche Arbeitskultur, denn es fehlen die praktischen Anwendungsmöglichkeiten – oder diese beschränken sich auf ein Betriebspraktikum ohne formale Kompetenzziele.

Solche Hochschulabsolventen sind zwar bezüglich Fachwissen durchaus (mehr oder weniger) gut gebildet, aber es fehlt ihnen das Anwendungskönnen, es fehlen die Skills, die praktischen Umsetzungskompetenzen in Qualitäts- und Präzisionsarbeit. Die Absolventen sind weniger ­arbeitsmarktfähig und beherrschen die anspruchsvollen Anwendungsprozesse der High-Tech-Produktion zu wenig. Diese Entwicklung führte diese Länder in die Akademisierungsfalle: Sie haben zu viele akademisch Gebildete und zu wenig praktisch Ausgebildete und in der Folge signifikant höhere Arbeitslosenquoten. Die Bildungselite erliegt der sozialen Illusion, dass eine höhere Bildung automatisch auch eine bessere berufliche Karriere mit sich zieht.

In Ländern, in denen die Berufslehre nicht bekannt ist, bleiben jene Jugendliche, die den Weg an die Hochschulen nicht schaffen, als «Ungelernte» ohne nachobligatorische Berufsqualifikation am Rande des Arbeitsmarkts sitzen. Sie stecken beruflich zwischen Stuhl und Bank. ­Allenfalls durchlaufen sie ein On-the-job-Training ohne formalen Berufsabschluss, aber es fehlt ihnen das Rüstzeug, um neue Technologien und moderne Verfahrenstechniken rasch übernehmen und anwenden zu können. Wir werden im Kapitel 2 aufzeigen, wie die mangelnde gewerblich-industrielle Berufsqualifikation der Desindustrialisierung der Wirtschaft Vorschub leistet.

Kommt dazu, dass mit dem Bologna-System ein akademisches Bildungsmodell wie eine Glocke über alle Länder Europas – ungeachtet ihrer unterschiedlichen Bildungssysteme – gestülpt wurde und dass nun eine Gleichmacherei erzwungen wird. Vor allem die Systeme der Berufsbildungsländer werden durch die Akademisierungstrends unterlaufen und abgewertet. Zahlreiche Indizien und Trends lassen eine Marginalisierung der berufspraktischen Ausbildung befürchten. Wir werden in den Kapiteln 3, 4 und 5 die Unvereinbarkeitsprobleme zwischen Bologna und den historisch gewachsenen Bildungssystemen ausführlich zum Thema machen.

Die Akademisierungsfalle

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