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Für schulmüde Jungs ist eine Lehre perfekt

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«Ich war mit Abstand der faulste Schüler der ganzen Oberstufe», sagt Sven Schütz. Der 25-Jährige schliesst demnächst sein Studium als Maschinenbauingenieur an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Brugg mit einem Bachelor ab. Er kann sich gut vorstellen, später den Master anzuhängen oder eines Tages noch etwas anderes zu studieren. Denn inzwischen hat ihn der Ehrgeiz gepackt.

Das war nicht immer so. Als 16-Jähriger erfüllte Schütz sämtliche Klischees eines schulmüden Jungen: Die Schule hing ihm zum Hals raus, Französischwörter lernen war ihm ein Graus und Hausaufgaben machte er aus Prinzip nicht. Das zeugte nicht etwa von mangelnder Intelligenz. «Ich sah schlicht keinen Sinn darin, für die Schule zu lernen.» Jeder Versuch, Sven zu mehr Einsatz zu motivieren, lief ins Leere. So wehrte er als 11-Jähriger auch den kleinen Bestechungsversuch seiner Eltern ab, die ihm 200 Franken boten, wenn er sich wenigstens an die Kantonsschulprüfung anmeldete.

Die Schule konnte bei Schütz nicht punkten. Nach der auf absoluter Sparflamme durchlaufenen obligatorischen Schulzeit entschied er sich deshalb für eine Lehre als Konstrukteur. «Ich habe mich als Kind sehr für Aviatik interessiert und baute in meiner Freizeit unzählige Modellflug­zeuge.» Das Planen, Entwickeln und Zeichnen von Maschinen war ihm folglich vertraut. «Am Anfang war die Lehre extrem spannend», erinnert sich Schütz. «Ich wurde aus der Bedeutungslosigkeit meines Teenageralltags gerissen und war auf einen Schlag von vielen erwachsenen Ingenieuren umgeben.» Es sei ein gutes Gefühl gewesen, bereits nach wenigen Monaten Lehrzeit einzelne, von ihm gezeichnete Teile an einer millionenteuren Maschine zu sehen. Und endlich gelang es dem rebellischen Jugendlichen, sich als Teil eines Ganzen zu sehen und sich auch mal unterzuordnen.

Auf die anfängliche Begeisterung folgte allerdings bald die Ernüchterung: Nach dem ersten Lehrjahr merkte Schütz, dass er als Konstrukteur zwar einen interessanten Beruf haben, aber nicht der selbstbestimmte, unabhängige Macher sein würde, als den er sich in seinen Teenagerfantasien gesehen hatte. «Ich bin mit falschen Vorstellungen in die Lehre gestartet», stellt Schütz fest. Er habe sich ausgemalt, er sei bereits nach vollendeter Lehre eine Art Ingenieur. Im Laufe der Lehre habe er aber schnell gemerkt, dass er auch als ausgebildeter Konstrukteur bloss Befehlsempfänger bleiben würde. Als ihm dann während der Vorschule zum militärischen Fallschirmspringer ein hoher Militär auch noch klipp und klar sagte, dass er ohne Matura unmöglich Fallschirmaufklärer-­Offizier werden könne, erlitt Schütz' Selbstbewusstsein erstmals ernsthafte Kratzer. «Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich mich wohl etwas mehr anstrengen musste, wenn ich meine Ziele erreichen wollte.»

Das gab den Ausschlag. Schütz erwachte aus seinem Sparmodus. Ebenso konsequent wie er sich zuvor verweigert hatte, machte er sich jetzt ans Lernen. Während des dritten und vierten Lehrjahres besuchte Sven Schütz den Vorkurs für Weiterbildungen, der ihn zu einer prüfungsfreien Aufnahme in die Berufsmaturitätsschule (BM) nach der Lehre berechtigte, absolvierte gleich anschliessend die technische BM und startete schliesslich sein Studium als Maschinenbauingenieur.

Jetzt steht er kurz vor dem Abschluss. Nach dem Studium will Sven Schütz ein paar Jahre als Maschinenbauingenieur arbeiten, bevor er sein Studium weiterführt. Seine beruflichen Aussichten sind sehr gut. An den sogenannten «Future Days», an denen Firmen künftige (Fach-)Hochschulabgänger anwerben, reisst man sich um Berufsleute wie Sven Schütz.

Die Motivationsprobleme der Teenagerzeit jedenfalls sind Vergangenheit. «Ich habe ein Ziel und will etwas erreichen», sagt Schütz. Kommt dazu, dass ihn heute just die Dinge interessieren, die ihn als Teenager gelangweilt haben – etwa die Allgemeinbildung. «Eines Tages werde ich mich in diese Richtung auf jeden Fall weiterbilden», ist Sven Schütz überzeugt. Hat er das Gefühl, Zeit verschwendet zu haben? «Keineswegs! Für Jungs, wie ich einer war, ist dieser Weg perfekt.» Er habe die Zeit gebraucht. Und: «Ich habe ja alle Möglichkeiten. Das macht diesen Weg so interessant.»

Praktische Intelligenz kann Persönlichkeitseigenschaften umfassen – etwa Zuverlässigkeit, Verantwortungsbereitschaft, Sozialkompetenz, Partizipationsfähigkeit, Teamfähigkeit, emotionale Intelligenz, Intuition –, auch werden darunter vor allem handwerkliches Geschick, räumliches Vorstellungsvermögen, geschickter Umgang mit Materialien verstanden. Der Bildungsforscher Markus P. Neuenschwander, der für die Schweiz die umfassendste Langzeitanalyse über die Wege zur Berufsintegration durchgeführt hat, kommt zum Schluss: «Beispielsweise sind handwerkliche Kompetenzen wichtig für eine handwerklich-technisch anspruchsvolle Lehre. (…) Dieser Befund vermittelt gerade Jugendlichen mit schlechten schulischen Leistungen in Deutsch und Mathematik und aus Realschulen eine positive Perspektive, weil sie in Berufen erfolgreich sein können, in denen Anforderungen jenseits dieser schulischen Leistungen wichtig sind.»16

Für Jugendliche kann die Berufslehre eine Art Befreiung vom ständigen Zwang zu schulischer Leistung bedeuten. Mit handwerklicher und praktischer Aktivität werden Kräfte und Entwicklungspotenziale freigelegt, die die Jugendlichen und ihre Eltern nicht für möglich gehalten haben: «Ich schraube, also bin ich.»17 Die Erfahrung in den Berufsfachschulen zeigt, dass schulisch Schwächere oder «Lernfaule» wieder mehr Lernmotivation und Interesse im Fachunterricht entwickeln, einfach weil sie in ihrer betrieblichen Erfahrung Anstoss und Motivation dazu erhalten. Eltern, die bei der Richtungswahl ihrer fünfzehnjährigen Kinder im Zweifel sind (was normal ist und häufig vorkommt), sollten diese motivierenden Anstösse in ihre Überlegungen mit einbeziehen. Und sie sollten auch bedenken, was wir ausgiebig im Kapitel 3 darstellen, dass die Berufslehre heute in ein durchlässiges Bildungssystem eingebettet ist – immer nach dem Motto: «Kein Abschluss ohne Anschluss».

Neben den in diesem Buch wiedergegebenen authentischen Berufs­porträts von Rahel Eckert-Stauber zeugt eine ganze Reihe anderer publizierter Berufsbiografien vom Entwicklungs- und Talentpotenzial der berufspraktischen Ausbildung.18 Wer in der Praxis steht oder gestanden hat, weiss intuitiv und erfahrungsmässig, was praktische Intelligenz bedeutet. Bei der Auswahl von Lehrlingen etwa kommt diese Intuition bei den Ausbildnern oder zukünftigen Chefs durchaus noch zum Zug.

Die Akademisierungsfalle

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