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Oberkellner Skrivánek und die Kunst des Vorausahnens

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Die größeren Anforderungen als der weithin bekannte Gast, die Prominenz, stellt oftmals der unbekannte Gast. Selbstverständlich will auch er genauso zuvorkommend bedient werden, natürlich ist er es nicht minder wert, dass man sich nach Kräften um ihn kümmert und ihm die gebührende Aufmerksamkeit widmet, und so soll dies auch auf diesen Seiten geschehen.

Das wunderschöne Buch Ich habe den englischen König bedient des tschechischen Autors Bohumil Hrabal, mir bis dato unbekannt, habe ich von einer deutschen Verlegerin nach einem sehr anregenden Gespräch als Präsent erhalten, und die außergewöhnlichen, ja fantastischen psychologischen Erkenntnisse der Romanfigur Oberkellner Skřivánek haben mich so beeindruckt und beflügelt, dass ich ihn zum Vorbild erwählt und mir vorgenommen habe, ein wenig bei ihm zu stibitzen. Natürlich war es mir unmöglich, stets bereits im Voraus so detailliert über das Begehr des Gastes Bescheid zu wissen wie Oberkellner Skřivánek, der schon nach einem kurzen Blick auf den Gast weiß, was er bestellen wird. Und nicht etwa nur, dass es Kaffee sein wird; er ist sich auch sofort über die Art des Kaffees im Klaren – ob kleiner Brauner, Fiaker, Schale Gold oder Teeschale et cetera. Mit neunundneunzigprozentiger Treffsicherheit.

Ich habe mich in meinen Kellnerjahren weniger darauf spezialisiert, schon beim Eintreffen des Gastes vorauszuahnen, was er konsumieren wird, sondern habe das Hauptaugenmerk zunächst mehr auf seinen Charakter gelegt. Ist es ein angenehmer Gast, ein Problemfall oder wird es ein Gast sein, der sehr viel Zuwendung und Aufmerksamkeit, im besten Sinne, erwartet? Das herauszufinden war immer die erste Aufgabe. Welchen Verlauf wird unsere Begegnung nehmen? Diese Überlegungen anzustellen war für mich quasi eine sportliche Betätigung; ein Test, wie weit sich die Menschen tatsächlich im Voraus in Schubladen einordnen lassen. Außerdem halfen sie mir, im Umgang mit dem Gast den richtigen Ton einzuschlagen.

Mit dem Orakel, was der Gast wohl zu essen und zu trinken gedenke, konfrontierte ich mich demgegenüber erst bei Tisch. Auf eine ziemlich genaue Treffsicherheit bei diesem Kopfspiel war auch ich bedacht. Ob ein Gang oder zwei, war meist einfach zu eruieren. Ebenso ob Fisch oder Fleisch. Auch wer wohl den preiswerteren sogenannten Business Lunch wählen würde, ließ sich leicht erraten. Die meisten Menschen signalisieren schon aus der Entfernung ihre Befindlichkeit, ihre Tagesverfassung, ihren momentanen Gemütszustand. Eine Frisur, ob Mann oder Frau, erzählt eine lange Lebensgeschichte. Die Kleidung vertritt eine Lebensanschauung. Die kann aber auch gebrochen sein: Es ist mir oft untergekommen, dass etwa die Schuhe eines Herrn die Aussage des Anzugs ins genaue Gegenteil verkehrten. Dann wurde es kompliziert. Ansonsten hatte ich meist leichtes Spiel. Wenn es mir gelungen war, eine »Krawallschachtel« zur Räson zu bringen und positiv umzustimmen, ohne dass sie es bemerkte, dann habe ich mich still und heimlich mit einem innerlichen Schulterklopfen belohnt.

Am aufregendsten – und erfreulichsten – war es, wenn mich diejenigen, die auf meiner internen »Festplatte« als unangenehm registriert waren, mit dem Gegenteil überraschten. Auch die aufgesetzt zuckersüßen Töne waren meist nicht von langer Dauer. Der wahre Charakter kommt immer irgendwann zum Vorschein wie Unkraut, das durch Beton bricht.

Wenn zum Beispiel Luise Petersen den Grill betrat, mit teurem Nerzmantel, den Nerzhut weit in die Stirn gezogen (damit man die unordentliche Frisur nicht sieht), minutenlang beim Eingang verweilend, ehe sie zu einem Entschluss findet, wusste ich sogleich: »Heute gibt es Berg-und-Tal-Fahrt.« Damit war ich einverstanden, denn dafür war ich gerüstet. Sie war mein Sparringpartner im Ring, und mein Ziel war es, a priori zu verlieren. Denn: »Wenn der Kellner gewinnt, hat er den Gast verloren.« Wie ich schon eingangs erwähnte, sollte ein Oberkellner viele Berufe und Funktionen nebenbei haben. Heute waren Diplomatie und Ironie gefragt. Ich war mir sicher, nachdem sie mich und die ganze verdorbene Welt in Grund und Boden verdammt hatte, würde mir Frau Petersen ein spezielles Trinkgeld geben. Quasi als Entschuldigung und Entschädigung für ihr selbst erkanntes schlechtes Benehmen. Und doch ging es mir nicht um dieses Extra, mir war es nur darum zu tun, diese Frau für Augenblicke der Bitterkeit des Alltags zu entreißen. Um eine etwas bessere Stimmung zu inszenieren, brachte ich das Gespräch auf das Thema »Hund«. Sie besaß einen kleinen Vierbeiner, bei dem zwischen vorn und hinten keinerlei Unterschied zu erkennen war. Wohl ihr einziger »Gesprächspartner«, außer den Kellnern. Da verzogen sich die Sturmwolken und die Sonne brach durch.

Bei Siegrun Stratemann war es immer sehr einfach zu erkennen, was heute gewünscht wird. Sie war Trinkerin und sich dessen nicht wirklich bewusst. Sobald sie, unausweichlich, ihre ersten Giftpfeile abschoss, die gerne auf ihren Mann gezielt waren, spendierte ich ein Glas »aufs Haus«, dann war die Welt wieder für eine Weile akzeptabel. Nach dem Hauptgericht, das Frau Stratemann gemeinsam mit ihrem inzwischen eingetroffenen Gatten zu sich nahm, war Milde eingekehrt. Die Zeit arbeitete für mich. Geduld (und bisweilen ein guter Trunk) macht aus dem Bären ein Lamm.

Aber zurück zum noch nie gesehenen, völlig unbekannten Gast. Auch er stellte mir in der Regel keine unlösbaren Aufgaben. Das waren keine Sudokus, die nicht zu knacken wären, auch wenn die Lösung bisweilen knifflig war. Beim unbekannten Gast nach kurzem In-Augenschein-Nehmen zu erkennen, welchen Platz er haben und welchen er auf keinen Fall haben will, ist die erste zu erratende Zahl. War die erste Zahl die richtige, dann sind die folgenden schon leichter zu finden. Die nächste Zahl: Will er Beratung oder denkt er, dass ihn ohnedies jeder falsch berät? All das verraten seine Brille und sein Blick. Dafür bedarf es meist noch keiner besonderen psychologischen Kenntnisse. Interessant und kitzelig fand ich es, wenn ich bis in die Zehenspitzen eine Art telepathisches Vibrieren verspürte, das mir signalisierte: Es wird etwas gewünscht, was wir nicht vorrätig haben. Ein einfaches Nein gibt es da nicht. Jetzt bedurfte es Blitzdenken. Was empfehle ich als Alternative für das noch nicht erwähnte Gericht? Irgendein Ausweg muss sich finden lassen.

Es ist auch ein nachgerade unverzeihlicher Fehler, dem Gast schon zu Beginn zu sagen, dass dieses oder jenes Gericht schon aufgegessen, nicht mehr vorrätig ist, denn dann will er es bestimmt haben. Nicht direkt aus Trotz; nein, er glaubt wirklich, dass er gerade heute, hier und jetzt, auf diese Speise, die ihm in vergangenen Zeiten verhasst war, großen Appetit hat.

Eine typische Eigenschaft konnte ich speziell bei Damen feststellen. Selbst wenn sie etwas nicht wollen, so ärgert es sie doch, wenn es eine andere kriegt. Egal, ob es sich dabei um eine Speise, ein Kleid oder einen Mann handelt. Alles wird gleich vom Zahn des Neides benagt.

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