Читать книгу Theke, Antitheke, Syntheke - Rudolf Oeller - Страница 11

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Freitag, 31. Jänner

in der Hopfenklause

Wir waren in die Hopfenklause gefahren. Che mit seinem Bulli, Hans mit dem Honda-Roller, ich mit meiner Suzuki. Die Kälte störte uns nicht, es waren ja weniger als zwanzig Kilometer.

Charly erzählte wieder einmal von seinen Rettungseinsätzen. Kaum jemand hörte zu. Am Ende fragte er so laut, dass es alle hören konnten: „Was mache ich, wenn ich im Urwald eine Schlage sehe? Na? Na? Wenn ich im Urwald eine Schlange sehe, stell ich mich hinten an. HAHAHAA!“

Hans rollte mit den Augen: „In all den Jahren, die ich ihn kenne, hat nie jemand seine Intelligenz in Frage gestellt. Wenn ich es mir recht überlege, hat sie eigentlich nie jemand erwähnt.“

Charly war nicht zu bremsen: „Jetzt, wo ich den Feuerlöscher an der Wand sehe, fällt mir ein irrer Rettungseinsatz ein. Da wollte eine Gruppe Jugendlicher einmal eine Schaumparty machen, und zwar mit Hilfe eines Feuerlöschers. Ein Kerl hat den Löscher aktiviert, aber da kam kein Schaum heraus, sondern ein Pulver, und das mit hohem Druck. Er hat seiner sechzehnjährigen Freundin das Pulver ins Gesicht gejagt. Als wir gekommen sind, hatte die Tussi das Pulver in Mund und Nase und war fast erstickt und ihre Augen haben auch etwas abgekriegt. Ich habe …“

„Jaaa, ist ja gut“, warf ich ein, „wir kennen die Geschichte. Du hast sie schon zweimal erzählt.“ „Dreimal“, korrigierte Hans „Geschwätzigkeit ist keine Schande. Hauptsache man hält den Mund dabei“, ergänzte Hans und fügte an, er werde gleich wieder kommen. „Ich hole nur meine Bücher.“

Pasak, der Meister der sozialen Aufdringlichkeit, wollte mich aufheitern und fragte mich: „Kann es sein, dass du dich in deinem Körper irgendwie unwohl fühlst?“

Ich blätterte weiter.

„Wer, glaubst du, ist von dir enttäuscht?“

Ich blätterte immer noch weiter und wurde langsam ärgerlich: „Ich bin einfach müde. Ich hasse den dunklen Jänner. Kein Advent, kein Weihnachten. Nur Kälte und blöde Sprüche.“

Der Knochenbrecher mischte sich ein und gab Pasak zu verstehen, er solle mich in Ruhe lassen.

Hans kam mit ein paar Büchern unter dem Arm herein und knallte sie auf die Theke. Pasak räumte seinen Gummi weg und machte eine unpassende Bemerkung über Janes Venushügel.

Das war sogar mir zu weit unten: „Bullshit, Jane. Weißt du, das hat der liebe Gott nicht gut gemacht. Allen Dingen hat er Grenzen gesetzt, nur nicht der Geilheit.“

Che gefiel der Ausdruck Bullshit, und er prostete Block Jane zu: „Rudi ist bloß sauer, weil du schön bist, er aber nicht“, meinte er augenzwinkernd.

Ich legte nach: „Schönheit ist nur oberflächlich, aber Geilheit geht durch und durch.“

Irgendwie waren wir an diesem Abend alle nicht gut drauf.

Jane kündigte an, demnächst auch mit Büchern und Zeitschriften erscheinen zu wollen, denn der „Klugschiss der alten weißen Männer“, wie sie es nannte, nervte sie. Junge Themen müssen her. Pasaks Frage, ob es sich um Pornohefte handelt, überhörte Block Jane wie fast alle seiner Anspielungen.

„Die attraktiven Weiber tragen schon schwer an den hässlichen geilen Böcken“, sagte irgendwer. Pasak konterte: „Dafür sind wir Männer für fast 100 % aller Entdeckungen und Erfindungen zuständig.“ Das wiederum passte Jane nicht. „Blödsinn. Die Gentechnik haben die Frauen erfunden. Diese Französin, wie heißt sie doch gleich, hat etwas Gentechnisches erfunden. Es würde mich nicht wundern, wenn die halbe Genetik von Frauen kommt.“

„Charpentier“, sagte ich, „so heißt sie, aber sie hat nicht die Gentechnik erfunden, sondern eine neue Technik namens CRISPR. In ein paar Jahren wird sie dafür den Nobelpreis bekommen, wie ich vermute, aber an der Entwicklung der Genetik und Gentechnik waren wirklich nur Männer beteiligt.“

„Wissenschaft ist langweilig“, sagte Jane mit Augenrollen.

Ich fischte das Buch „Wissensgeschwüre“ aus dem Stapel heraus, den Hans mitgebracht hatte, blätterte herum und sagte, es stimme nicht, dass Wissenschaftler langweilig sind. Ich begann zu dozieren. Alle Umstehenden lachten, als ich meinen Zeigefinger erhob. „Prost auf den Erklärbär!“, rief Fat Lot und mampfte dabei an seinem Hamburger. Es war schon der dritte heute Abend.

Ich las abwechselnd quer und referierte dazwischen frei:

Der Biochemiker James Watson war an der Aufklärung der Struktur der Desoxyribonukleinsäure wesentlich beteiligt. Watson stammt aus Chicago, promovierte an der Universität Indiana und wurde Mitglied der Fakultät der Harvard University in Boston. Später arbeitete er zusammen mit dem englischen Biophysiker Francis Crick am Cavendish-Labor der Universität Cambridge in England.

„Jaja“, warf Pumpe ein, „ist ja gut, aber es wird dir nicht gelingen, einen einzigen Witzbold unter den Wissenschaftlern zu nennen.“

Damit lief er mir ins offene Messer. Ich nahm einen tiefen Schluck. Nur die Hälfte der Anwesenden hörte noch zu, aber das war mir egal.

Der schrägste aller Wissenschaftsvögel war Dick Feynman. Er studierte am Massachusetts Institute of Technology sowie an der Princeton University. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete er in Los Alamos an der Entwicklung der Atombombe. Später wurde er Professor am California Institute of Technology. Feynman erhielt wegen seiner bahnbrechenden Arbeiten zur „Quantenelektrodynamik“ gemeinsam mit zwei anderen Physikern den Nobelpreis für Physik. Feynman spielte auch eine führende Rolle bei der Kommission, welche 1986 die Explosion der Raumfähre Challenger untersuchte.

Noch weniger hörten zu. Hans blätterte in einem seiner Bücher. Der Knochenbrecher kam herüber zur Theke und hörte mir zu. „Aus Mitleid“, wie er trocken anmerkte.

James Watson war auch ein Schlitzohr. Die Nobelpreisträger Watson und Feynman sind immer das geblieben, was man am ehesten als Rotzbuben bezeichnen kann. Die New York Times nannte Feynman den brillantesten, respektlosesten und einflussreichsten Physiker der Nachkriegszeit. Beide Nobelpreisträger haben Bücher geschrieben. In beiden Büchern wird der Betrieb rund um die Forschung in frecher Weise beschrieben. Auf ungewohnt offene Art zertrümmerten beide Männer den Mythos von den vergeistigten Arbeitern im muffigen Labor.

Jane bestellte einen Welschriesling, und Fat Lot spielte den Gelangweilten. Mein Vortrag war ihnen zu fad. Ich blätterte weiter, da hellte sich mein Gesicht auf. Ich fuhr mit erhobener Stimme fort, denn ich hatte jetzt etwas Lustiges gefunden. Als ich verkündete, dass nun eine Geschichte über einen Nobelpreisträger käme, der von der US-Army für geisteskrank erklärt worden war, hörten alle zu.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges benötigten die USA zusätzlich Soldaten für die Besatzungsarmeen in Europa. Die US-Army kratzte im Sommer 1945 alles zusammen, was sie bekommen konnte, und holte die jungen Männer zur Musterung. Auch ein gewisser Richard Feynman ging durch die medizinische Diagnosestraße, um am Ende am Schreibtisch eines Psychiaters zu landen.

Nach anfänglich harmlosen Fragen wurde das Gesicht des Seelendoktors ernst: „Haben Sie das Gefühl, dass Leute Sie anstarren?“ Richard bemerkte, dass einige auf einer Bank wartende Burschen zu ihm herüberschauten. „Sicher“, meinte Richard, „da schauen gerade einige zu mir herüber.“ Der Psychiater blickte nicht auf und machte Notizen. Dann fragte er: „Hören Sie manchmal Stimmen in Ihrem Kopf?“ „Sehr selten“, meinte Richard und wollte seine Antwort erläutern, da kam schon die nächste Frage. „Führen Sie Selbstgespräche?“ „Ja“, meinte Richard, „wenn ich mich rasiere und nachdenke, kann das schon passieren.“ Der Psychiater notierte weiter und fuhr fort: „Wie ich sehe, ist Ihre Frau verstorben. Sprechen Sie manchmal mit ihr?“ Richard ärgerte sich wegen dieser Frage, blieb aber ruhig. „Wenn ich in den Bergen wandere und an meine Frau denke, dann spreche ich manchmal mit ihr.“ Der Psychiater kritzelte in seinen Protokollen. „Ist irgendjemand aus Ihrer Familie in einer Nervenheilanstalt?“, fragte der Psychiater. „Yeah, eine Tante ist im Irrenhaus.“ Nun wurde der Psychiater böse, weil ihn der Ausdruck Irrenhaus nervte. Eine Zeitlang ging das Gespräch in dieser Art weiter.

Schließlich fragte der Psychiater: „Welchen Wert messen Sie dem Leben bei?“ Richard sagte spontan: „Vierundsechzig.“ Der Arzt fragte verblüfft: „Warum haben Sie Vierundsechzig gesagt und nicht Dreiundsiebzig?“ „Hätte ich Dreiundsiebzig gesagt, dann hätten Sie mir die gleiche Frage gestellt.“ Damit war das Gespräch beendet. Als Richard seine Papiere heimlich durchblätterte, stand da zu lesen: „Gehörhalluzinationen, glaubt, dass ihn die Leute anstarren, führt Selbstgespräche, spricht mit der verstorbenen Frau, Tante mütterlicherseits in der Nervenheilanstalt.“

Der spätere Professor und Nobelpreisträger Richard Feynman, Mitentwickler der Atombombe in Los Alamos und einer der brillantesten Physiker aller Zeiten, wurde von der US-Army für psychisch instabil und somit untauglich erklärt.

Ich blickte in die Runde. Jane lächelte anerkennend und gähnte. Hans mischte sich ein, weil auch er eine Geschichte über Feynman kannte, aber da hörte niemand mehr zu.

Die Gespräche verflachten jetzt – wie fast immer zu fortgeschrittener Stunde.

Gerade als wir alle einen kollektiven Hänger bekamen, stöpselte der Knochenbrecher sein Smartphone an die Stereoanlage. Es ertönte „I’d Do Anything for Love“ von Meat Loaf. Während der Song lief, kam der Dragoner bei der Türe herein, und alle wurden munter.

Der Dragoner bestellte einen Cuba Libre, und das bedeutete, dass der Abend noch länger dauern würde.

Mir fiel ein, dass ich schon ein halbes Jahr nicht mehr auf dem Schießstand war. Ich kritzelte auf einen Zettel „Shooting mit Blues“ und legte ihn in meine Geldbörse. Jane bemerkte das und sah mich vorwurfsvoll an. Ich hatte ihr schon ein Dutzend Mal erklärt, dass das Schießen nichts mit „Rumballern“ zu tun hat. Es sei eher eine zutiefst kontemplative Sache, denn wenn man schlecht zielt und keine ruhige Hand hat, trifft man nicht einmal die Scheibe.

Es bildeten sich ein paar Grüppchen, die angeregt plauderten. Hans und ich blätterten in unseren Büchern und versanken in einer Melancholie, die ihren Höhepunkt erreichte, als „Heroes“ von David Bowie aus den Boxen schallte.

Hans sagte das Codewort „Ibrahim“, und das bedeutete Aufbruch. Hans und ich bestiegen unsere Zweiräder und fuhren vor allen anderen nach Hause, was selten vorkam.

Theke, Antitheke, Syntheke

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