Читать книгу Theke, Antitheke, Syntheke - Rudolf Oeller - Страница 13

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Freitag, 14. Februar

in der Hopfenklause

Die Fahrt über die Grenze in die Hopfenklause war keine gute Idee. Überall lagen dicke Äste herum. Das Sturmtief „Sabine“, das vor einigen Tagen gewütet hatte, machte aus der Straße eine Slalompiste. Am Ende schafften wir es aber. Ich tat mir mit dem Motorrad leichter als Che mit seinem Bulli. Alle bis auf Knochenbrechers Dragoner waren mitgekommen.

Kaum waren Hans und ich da, lagen sich die beiden Rivalen Pasak und Charly wegen irgendeiner Kleinigkeit in den Haaren. Pasak nannte Charly ein impotentes Arschloch, was dieser mit „hirnlose Schwanzkröte“ beantwortete. So ging es eine Zeitlang hin und her. Sie ballten die Fäuste, aber zuschlagen traute sich doch keiner der beiden.

Ich versuchte zu schlichten, aber es brachte nichts. Auch der Knochenbrecher mischte sich ein, woraufhin der Streit erst so richtig losging. Jane und Che hielten sich vornehm zurück und beobachten das Getöse. Monk, der Wirt, meinte nur, sie sollten Dampf ablassen, das sei schon ok, solange das Mobiliar nicht in die Brüche ginge.

„Willst du, dass ich unsere Vereinbarung einseitig kündige?“, rief Charly. Daraufhin ebbte der Kampf ab. Die beiden Streithähne warfen sich noch einige böse Blicke zu und bestellten sich ein Bier. Ich trug das meine dazu bei, indem ich mein Smartphone an die Anlage stöpselte und die Sechziger anklickte. Zuerst erklang „Ring of Fire“ von Eric Burdon, daraufhin folgte „Aquarius“ von Fifth Dimension und andere alte Ohrwürmer. Langsam besserte sich die Stimmung.

Immer wenn sich zwei oder mehr von uns Versagern in den Haaren lagen, fiel mir der Dunning-Kruger-Effekt ein. Die Tendenz, sich selbst zu überschätzen, wurde in den Neunzigerjahren an einer US-Universität von David Dunning und Justin Kruger untersucht. Der Dunning-Kruger-Effekt besagt, dass weniger kompetente Personen dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Das Ausmaß der eigenen Inkompetenz kann nicht erkannt und die Kompetenz anderer Menschen nicht beurteilt werden.

In einer Reihe von Experimenten ließen Dunning und Kruger Versuchspersonen verschiedene Aufgaben aus den Bereichen Logik und Grammatik lösen. Danach wurden die Testpersonen gefragt, wie sie ihre eigene Leistung einschätzten. Die meisten von ihnen lagen daneben. Sogar das schwächste Viertel der Versuchspersonen hielt sich für sehr gut. Personen aus dem besten Viertel schätzten sich zwar auch als gut ein, in Wirklichkeit waren sie jedoch wesentlich besser als sie selbst vermuteten. Wer selbst mangelhaft gebildet ist, kann nicht erkennen, ob andere richtig oder falsch liegen. Man sieht nur die eigene (klägliche) Leistung und überschätzt sie. Wahrscheinlich war das der Grund, warum wir uns alle so gut verstanden.

Die Fähigkeit, andere einschätzen zu können, war bei keinem von uns besonders gut entwickelt. Der wahrscheinlich Einzige, der immer den Durchblick hatte, war Shaasdougn, der Hund von Hans. Ich blickte zu Shaasdougn rüber. Er schaute zu mir herüber und ich wusste, dass er wusste, was ich dachte.

Pumpe und Knochenbrecher haben vor einigen Jahren bei einigen Agenturen und Castingshows versucht, sowas wie eine Karriere als Künstler zu starten. Einer der beiden sang, der andere spielte Gitarre und Mundharmonika.

Herausgekommen ist nichts, die beiden hatten sich überschätzt. Charly sagte man nach, er habe mehrere Anläufe genommen, ein großer Dichter zu werden, aber auch das hatte vermutlich nie funktioniert, zumindest wussten wir nichts davon. Er wich dem Thema beharrlich aus, wenn jemand in der Runde eine Andeutung machte.

Der Dunning-Kruger-Effekt zeigt sich bei Castingshows auf besonders peinliche Weise. Leute wie Pumpe und Knochenbrecher kaufen sich ein Instrument und bemühen sich, ein paar Akkorde zu spielen. Die Begeisterung steigt und früher oder später kommt es zum folgenschweren Fehlschluss, der Schritt zum musikalischen Weltruhm stehe unmittelbar bevor. Laut Dunning und Kruger ist es möglich, durch die individuell richtige Bildung und durch Übung und Selbstdisziplin nicht nur die eigene Kompetenz zu steigern, sondern auch die Fähigkeiten, andere Zeitgenossen besser einschätzen zu können.

Ich prostete Shaasdougn zu, er grüßte mit Schwanzwedeln zurück.

Hans ahnte, was in meinem Kopf vorging. Er holte sein iPhone heraus, tippte ein wenig herum und hielt es mir vor die Nase. Auf YouTube ertönte der Dunning-Kruger-Blues von Tommy Krappweis.

Zwei Gläser Bier später fiel aus irgendeinem Grund das Wort „Ketzer“. Hans und ich waren gerade in unsere Bücher vertieft, als zwischen Charly und Pasak wieder ein Streit losbrach. Jetzt mischte sich auch Fat Lot ein, dadurch wurde die Sache völlig unübersichtlich. Charly hatte schon ordentlich getankt, als er Pasak einen faschistischen Apostaten schimpfte, was dieser mit einer Schimpfkanonade beantwortete. Wörter wie Ketzer, Abtrünniger, Idiot, Versager und noch Schlimmeres flogen über die Antitheke. Später fragte ich Charly, was er mit dem faschistischen Apostaten gemeint hatte, aber Charly wischte das beiseite: „Nix. Hat nix zu bedeuten. Genauso gut könnte ich ihn einen ehemaligen Söldner nennen.“ Ich wusste damals nicht, dass sich Charly da verplappert hatte. Da er schon zu viel getankt hatte, nahm ich ihn nicht mehr ernst.

Als Pasak, der ebenfalls nicht mehr nüchtern war, Charly vorwarf, seine Vergangenheit zu verheimlichen, flogen die ersten Fäuste. Charly rann das Blut aus der Nase und Pasaks Hemd war zerrissen. Hans und ich gingen dazwischen und zogen die beiden Verrückten auseinander. Fat Lot wollte sich einmischen, aber Hans verhinderte das. Um die Situation zu beruhigen, holte ich aus dem Bücherstoß den Schinken „Ketzer und andere Denker“ hervor und begann zu dozieren. Hans, Pumpe und der Knochenbrecher bewachten inzwischen die Streithähne, die wie bei einem Boxkampf grollend in ihrer Ecke saßen.

Ich begann zu lesen:

Ein weniger bekanntes Opfer kirchlicher Gewalt war der Mönch Filippo Giordano Bruno. Filippo Bruno wurde 1548 bei Neapel geboren, studierte Logik und Dialektik und trat mit siebzehn Jahren in den Orden der Dominikaner ein, wo er den Ordensnamen Giordano erhielt und zum Priester geweiht wurde. 1563 war das Konzil von Trient zu Ende gegangen, seither machte die Kirche Ernst mit der Gegenreformation. Die Dominikaner waren vom Papst ausersehen worden, Abweichler vom rechten Glauben gnadenlos zu jagen. Ausgerechnet in diesem Orden lebte und wirkte Giordano Bruno, einer der größten Freigeister seiner Zeit.

Alle waren froh, dass ich die beiden Spinner mit meiner neunmalklugen Rede im Zaum hielt. Ausnahmsweise hörten jetzt alle zu.

Schon im Alter von achtundzwanzig Jahren hatte Bruno durch ungewöhnliche Auslegungen der Heiligen Schrift den Verdacht der Ketzerei erregt. Er wanderte in der Folge nach Norden, wo sich die Reformation bereits durchgesetzt hatte. Auf dem Weg nach Lyon erreichte ihn die Nachricht von seiner Exkommunikation. In Genf fand er einen protestantischen italienischen Gönner und erhielt eine Anstellung als Universitätslehrer. Bereits drei Monate später wurde er wegen einer Streitschrift in den Kerker gebracht, aber nach einigen Debatten wurde er wieder entlassen. Verärgert über die calvinistischen Spießer und „Mucker“ ging Bruno nach Toulouse, wo er an der Universität die Studenten mit seinen packenden Vorlesungen über Philosophie begeisterte.

1581 ging Giordano Bruno an die weltberühmte Universität von Paris. König Heinrich III., ein Gönner der Wissenschaften und Freund italienischer Kultur, verschaffte Bruno eine Professur. Schon ein Jahr später musste Bruno nach England gehen, weil er in Frankreich durch eine Komödie über das sittenlose Leben in italienischen Klöstern Unmut erregt hatte. In London schrieb er sechs philosophische Dialoge, die erneut den Zorn seiner kirchlichen Gegner erregten. Nach Jahren des Wanderns wurde der vagabundierende Philosoph 1592 schließlich von der kirchlichen Inquisition verhaftet und in Rom eingekerkert.

Bruno starb im Februar 1600. Auf dem Campo de’ Fiori, dem Blumenmarkt von Rom, wurde er öffentlich verbrannt.

Es war still geworden. Jane applaudierte. Che war begeistert. „Genau das ist es, was Europa so stark gemacht hat. Immer und immer wieder haben Ketzer die Mächtigen aufgemischt. Galileo Galilei war auch ein großer Ketzer vor dem Herrn, aber er war kein Atheist. Das hat die Kirche offenbar nicht verstanden.“

„Marx und Lenin waren auch grandiose Ketzer“, warf Pasak ein. Das gefiel wiederum Hans und mir nicht. Auch Charly ärgerte sich. „Marx und Lenin waren Verräter der Demokratie“, sagte Hans düster, „sie haben alles Mögliche in Frage gestellt, aber das freie Denken war nicht ihr Ding.“

Pasak scharrte mit den Hufen und wollte schon was sagen, als ihm Jane einen bösen Blick zuwandte und mich fragte, ob ich etwas über Galileo Galilei zum Besten geben könne. „Rede so lange, bis Pasak sich beruhigt“, raunte sie mir zu. Das tat ich schon deshalb, weil ich damals ein wenig in Jane verliebt war und weil Pater Severin, der Dorfpfarrer, während des Vortrags über Giordano Bruno zu uns gestoßen war. Severin ist sein Klostername bei den Zisterziensern. Wie er wirklich heißt, wusste keiner von uns. Es ist auch egal.

Ich blätterte im Buch herum, dann fand ich die Stelle, die ich gesucht hatte. Ich begann zu lesen und bemühte mich dabei, böse Stellen zu umschiffen, denn ich wollte Pater Severin nicht allzu sehr wehtun.

Der italienische Mathematiker und Physiker Galileo Galilei blickte zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch sein Fernrohr und staunte: Die Mondoberfläche hatte Gebirge und Täler wie die Erde. Offenbar war die Erde nichts Einzigartiges im Universum, wie man immer geglaubt hatte. Der Planet Jupiter hatte sogar eigene Monde. Damals musste man die Lehre des Philosophen Aristoteles für wahr halten, dass sich ausnahmslos alles um die Erde dreht. Es bewegte sich aber etwas um Jupiter. Aristoteles war damit widerlegt. Der Planet Venus zeigte Phasen wie der Mond. Das war ein Hinweis, dass sich die Venus nicht um die Erde bewegte, sondern um die Sonne. Zu schlechter Letzt zeigte die Sonne Fleckenmuster. Sie war nicht so rein, wie Aristoteles behauptet hatte.

Kopernikus hatte schon hundert Jahre zuvor nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt des Universums vermutet. Diese These schien nun bestätigt. Einige Dominikanermönche wurden hellhörig und machten ihre Ordensbrüder in der Inquisition darauf aufmerksam, dass die Ideen des Kopernikus von Ketzern unterstützt würden, was auch der Fall war.

„Ketzer“, lallte Pasak und erhob einen Zeigefinger. „Ketzer sind wichtiger als alles andere. Marx war auch ein Ketzer.“ Pater Severin lächelte milde. Pasak sank in sich zusammen. Ich las weiter.

Einige Jahre später publizierte Galileo das Buch „Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme“, in dem zwei Gelehrte die alte aristotelische Lehre der Kirche und die neue Lehre des Kopernikus verteidigten. Galileo nannte den Vertreter der kirchlichen Lehre „Simplicio“, was weder der Inquisition noch Papst Urban VIII. gefiel. Am 22. Juni 1633 wurde Galileo Galilei in der römischen Kirche Santa Maria Sopra Minerva zu lebenslangem Hausarrest verurteilt.

Ich überflog rasch und schweigend einige böse Absätze über die Kirche, dann fuhr ich fort.

Historiker glauben, dass die Kirche damals Angst hatte. Galilei hatte mit dem wissenschaftlichen Experiment einen Weg gefunden, Naturgesetze zu entdecken. Aristoteles und Platon stiegen in die 2. Liga ab. Das war neu und wurde damals als beklemmend empfunden. Galileis Methode, das Experiment zum Prüfstein zu machen, entwickelte sich zu einem Flächenbrand. Forscher späterer Jahre mussten keine Verfolgungen mehr erleiden. Im Herbst 1992, fast dreihundertsechzig Jahre später, wurde Galilei von Papst Johannes Paul II. rehabilitiert.

Pater Severin bedankte sich für den interessanten Vortrag. Der Knochenbrecher und Pumpe drängten zum Aufbruch. Hans und ich packten unsere Bücher weg und Jane blickte völlig entspannt, denn Pasak und Charly waren eingeschlafen.

Ich griff mir das Thekenbuch und schrieb hinein: „Gewalt ist die letzte Zuflucht der Unfähigen.“ Hans schrieb darunter: „Ich sehe schon den Abgrund am Ende des Tunnels.“ Pater Severin war neugierig geworden. Er las unsere Sprüche, lächelte weise und schrieb ebenfalls etwas darunter – natürlich war es in Latein: „Magna tamen spes est in bonitate die.“ (Dennoch besteht große Hoffnung auf die Güte Gottes.)

Nachdem wir schon alle unsere Jacken angezogen hatten, ging Fat Lot nochmals zur Theke und schrieb ins Thekenbuch: „This silly prattle drives me around the bend.“ (Das dumme Geschwätz hier macht mich noch wahnsinnig.)

Hans und ich verabschiedeten uns mit einem lauten „Die Ibrahim-Loge wünscht euch allen was. Euer Friede sei mit uns.“

„Irgendwann müssen wir ihnen den Ibrahim erklären“, sagte Hans, dann starteten wir unsere Maschinen.

Theke, Antitheke, Syntheke

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