Читать книгу Theke, Antitheke, Syntheke - Rudolf Oeller - Страница 5

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Vorwort

Wir waren eine großartige Bande von Stammtischbrüdern an der deutsch-österreichischen Grenze. Es waren auch zwei Stammtischschwestern dabei, Block Jane recte Jeanine und Dragoner recte Henriette.

Wir trafen uns jeden Freitag, selten auch an anderen Wochentagen, im Gasthaus zur Sauren Wiese. An jedem zweiten Freitag im Monat und gelegentlich auch, wenn wir Lust auf Hardrock-Musik hatten, fuhren wir auch in die Hopfenklause zum Rock-Pater Severin jenseits der Grenze oder in die Kneipe Zum Roten Affen in der Nähe unserer Sauren Wiese. Pasak und andere geile Säcke wechselten manchmal noch in den Nachtclub Stiff Bones, wo sie beim Pokern ihr letztes Geld verloren. Dieses Puff lag sinnvollerweise in der Nähe des Pfarrhofs und nur zehn Minuten zu Fuß von unserer Sauren Wiese entfernt. Unsere Lokale lagen auf österreichischem und deutschem Gebiet. Das war ok, denn wir fühlten uns als Europäer, zumal unsere Truppe ohnehin international war. Vor der Coronakrise wechselten wir mit unseren Fahrzeugen von einer Seite der Grenze zur anderen. Ich verließ mich selten auf die Fahrer, sondern fuhr lieber mit meiner Suzuki V-Strom oder meiner roten Harley. Als Deutschland, Österreich und andere europäische Länder im März 2020 das gesellschaftliche Leben auf null drehten und sogar unsere Lokale offiziell schließen mussten, haben wir Nieten uns zu einer Clique von Rebellen entwickelt. Wir brachten unsere Wirte dazu, für uns heimlich zu öffnen, denn wir ließen uns alles nehmen, nicht aber unseren Stammtisch und unsere Freiheit. Mit linken oder rechten Ideologien hatte das alles nichts zu tun. Unsere Wirte veranlassten während der kritischen Wochen sogar eine Verdunkelung wie im Krieg. Erstaunlicherweise ist keinem der verwegenen Grenzgänger bei unseren Fahrten über eine Forststraße etwas zugestoßen, aber das ist Vergangenheit.

Wir waren zehn. Mit unserem Wirt Blues sogar elf. Hie und da stießen auch der Pfarrer, den wir Kaiphas nannten, und unser Vereinspsychiater Psycho zu uns. Gelegentlich kamen auch einer der Gemeindeärzte und unser Orts-Sheriff Werner. Wenn weniger los war, gesellten sich noch die Wirte zu uns: Blues, der eigentlich Peter hieß, Wirt in der Sauren Wiese, Monk, der in Wahrheit Paul hieß, Wirt in der Hopfenklause, und Pavi, der mit bürgerlichem Namen Götz hieß, war Wirt im Roten Affen. Den Roten Affen nannten Hans und ich „Potex Rubens“, was so viel wie Roter Arsch bedeutet. Daraus leitete sich der Spitzname Pavi – von Pavian – ab. Pavi, ein Witzvogel bestenfalls mittlerer Intelligenzstufe und Meister der geschmacklosen und öden Witze, trägt es mit Humor.

Wir waren eine verschworene Truppe, fast schon ein Dream Team. Drink Team trifft es allerdings besser. Wir starteten voll Hoffnung ins Jahr 2020, am Ende wurde es eine teils fröhliche, teils depressive Reise in den kollektiven Tod.

Wer war mit dabei?

Ernesto vulgo Che war seit Jahren Arbeiter mit angeblich bolivianischen Wurzeln in der Brauerei Pettingerbräu. Er war bis zu der Flucht des Staatspräsidenten Evo Morales ein Fan von ihm. Che träumte gelegentlich von einer gleichgeschlechtlichen Weltrevolution, wusste aber nicht, wie diese ablaufen sollte. Er liebte Jane auf seine Weise und sprach gerne über das Buch der Bücher, die Bibel. Er war ein liebenswerter südamerikanischer Schwuler mit theologischen Kenntnissen und tiefem christlichen Glauben. Nach seiner Einäscherung erfuhren wir über ihn etwas Unerwartetes.

Heinrich vulgo Charly. Charly ist den Schriftstellern Charles Bukowsky und Karl May entnommen. Er war angeblich pensionierter Briefträger und ehrenamtlicher Rettungsfahrer und Sanitäter. Den Briefträger hatte Charly erfunden. Er war nur als Student bei der Post gewesen. In Wahrheit hatte er mehrfach studiert, ohne ein Studium jemals zu beenden. Danach lebte er von Gelegenheitsjobs. Er erzählte uns gerne die wildesten Geschichten aus seinem Blaulichtleben. Charly hat nach eigenen Angaben in seinem ganzen Leben nur ein halbes Dutzend Bücher gelesen, die er immer wieder als seine Lieblingsbücher bezeichnete: „Der Mann mit der Ledertasche“ und „Faktotum“ von Charles Bukowsky und Bücher von Karl May. Erst später bekamen wir mit, dass er eine schillernde und vielseitig begabte Persönlichkeit war und viel mehr Bücher gelesen hatte, als er zugab. Wenn Charly zu viele Bockbiere getrunken hatte, mutierte er zum Sonderling, aber das war er auch ohne Bier. Wir nahmen ihn nicht immer ernst, was sich nach seinem Tod als Fehler herausstellen sollte.

Horst vulgo Pumpe war gebürtiger Berliner, Bodybuilder und selbsternannter Womanizer. Den Namen Pumpe bekam er, weil er gerne „Bölkstoff“ – wie er es nannte – abpumpte und im Fitnessstudio seine Muskeln aufpumpte. Wahrscheinlich nahm er Anabolika, aber darüber sprach er nie. Er war mit sechsundvierzig Jahren in Frührente gegangen, übte Gelegenheitsjobs aus, war belesen und sah wegen seiner Glatze, seiner langen Nackenhaare und seiner Nerd-Brille unverwechselbar komisch aus. Er hatte, so wie Hans und ich, ab und zu etwas zu lesen dabei, darunter auch Illustrierte und Fachzeitschriften über Modelleisenbahnen und Tauchen. Er erschien uns manchmal als Verschwörungssektierer, ein andermal als ernsthafter Gesprächspartner. Er war ein Träumer auf der ständigen Suche nach Anerkennung. Er war der ruhigste und am wenigsten nervige Typ von uns. Wir waren alle geschockt und traurig, als er uns für immer verließ.

Jeanine vulgo Jane war eine dunkelhaarige Schönheit mit einem eigenartigen bayrisch-österreichischen Misch-Akzent und Ansichten, die in Richtung Feminismus gingen. Wir nannten sie scherzhaft unsere jungfräuliche Nymphomanin, was sie nie dementierte. Sie fühlte sich zu uns Männern hingezogen, gleichzeitig wirkte sie blockiert. Sie ließ sich gerne vom schwulen Che, ihrem Arbeitskollegen in der Brauerei, bewundern. „Block Jane“, wie wir sie manchmal nannten, erschien uns etwas simpel gestrickt, aber das war nur vorgetäuscht, wie wir nach ihrem Ableben erkennen mussten. Sie hatte ein Herz aus Gold, trank gerne Weißwein und fuhr nach unseren Treffen viel zu schnell nach Hause. Beides sollte ihr zum Verhängnis werden. Ich weine nie bei Begräbnissen oder Hochzeiten. Als ich von ihrem Tod erfuhr, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten.

Konrad vulgo Knochenbrecher war Physiotherapeut. Sein Name kam von seinen Behandlungsmethoden, die angeblich nur von Masochisten geschätzt wurden, aber das war lediglich ein running gag in unserer Runde. Er verabscheute seinen Spitznamen, fügte sich aber seinem Schicksal. Er fuhr einen roten Ford Mustang mit V8-Motor, den mein Freund Hans nach Konrads Tod erbte. Wir mochten den Knochenbrecher, obwohl er, so wie Pasak und Pumpe, ein Angeber mit Machogehabe war. Was soll ich zu seinem Tod sagen? Er war ein guter Physiotherapeut, der mich vor Jahren in kurzer Zeit von meiner „frozen shoulder“ heilte. Er war jedenfalls einer von uns. Sein Tod war ein herber Verlust.

Henriette vulgo Dragoner war die Frau von Konrad. Sie war gebürtige Wienerin mit breitem Wiener Dialekt, holte Konrad meist um Mitternacht ab, blieb aber manchmal auch etwas länger. Sie beschwerte sich selten über unsere derben Witze, sie war mir also sympathisch. Gelegentlich war sie eine Nervensäge, mit der man aber laut lachen konnte, vor allem wenn sie zu viel Prosecco oder Cuba Libre intus hatte. Die in Wien übliche Bezeichnung Dragoner ist willensstarken Frauen vorbehalten – um es euphemistisch zu sagen. Als wir an ihrer Urne standen, wurde mir klar, dass die Welt für mich weniger bunt, weniger originell und weniger witzig sein würde.

Lothar vulgo Fat Lot war wegen seines enormen Bierkonsums, seines gesegneten Appetits und seiner mangelnden Beweglichkeit übergewichtig. Sein Body-Mass-Index lag nie unter 36. Unter drei Litern Bier pro Abend ging bei ihm nichts, vor allem, wenn er am Pokertisch saß. Er täuschte Bildung durch vordergründigen Gebrauch von Anglizismen und manchmal auch lateinischen Sprüchen vor. Sein Spitzname war eine Folge des Lieblingsspruchs „A fat lot I care“ (ist mir scheißegal). Er versuchte ständig erfolglos, sein Gewicht zu reduzieren, indem er alle paar Wochen eine neue Wunderdiät ausprobierte. Sein Tod war grausam. Im Krematorium mussten sie über eine Stunde länger als üblich brennen, um seine sterblichen Überreste einzuäschern.

Pasak war unter uns Stammtischmachos der lauteste und aufdringlichste. Seinen wahren Namen – genauer: seine vielen Namen – erfuhren wir erst nach seinem Tod. Er versuchte jahrelang vergeblich, Block Janes Beschützer zu sein. Er war der geilste Bock in der Runde und wusste alles besser. Er beleidigte gerne andere, weil er das für witzig hielt und nicht wusste, wo Satire begann oder Ironie aufhörte. Erst spät merkten wir, dass sein Benehmen nur Fassade war. Er hatte verdammt was drauf. Wir waren jedenfalls alle traurig, als er dran glauben musste und als Erster des grandiosen Drink Teams in die Grube fuhr. Das dunkle Geheimnis seines Lebens erfuhren wir erst nach seinem Tod.

Schließlich gab es in der Runde auch noch meinen Freund Hans und mich, die Zwei-Mann-Ibrahim-Loge. Über uns gibt es nicht viel zu erzählen, außer dass wir beide schon in Frührente leben, Musikliebhaber und Leseratten sind und bei jedem Treffen mindestens ein halbes Dutzend Bücher anschleppten, um uns zu unterhalten, manchmal auch, um die anderen zu nerven. Das hat uns eine Menge sensationelle Bezeichnungen beschert, wobei Klugscheißer noch neutral war. Hans hat eine merkwürdig aussehende Rauhaardackelmischung namens Shaasdougn (sprich: Schahsdak’n) und einen Honda-Roller. Ich fahre eine silbergraue Suzuki V-Strom namens Maus und eine dunkelrote Harley-Davidson Road King namens Harry.

Es gibt für mich keine melancholischere Zeit im Jahr als die Zeit der dunklen Tage rund um die Wintersonnenwende. Vor einem Jahr waren wir noch zehn. Jetzt sind wir, Hans und ich, nur noch der traurige Rest. Alle anderen, darunter einer unserer Wirte, haben sich für immer in eine hoffentlich bessere Welt verabschiedet. Zunächst hatten wir geglaubt, es habe sich in allen Fällen um Krankheiten oder Unfälle gehandelt, aber die wahren Hintergründe des Geschehens sind erst am Weihnachtsabend und auch nur durch Zufall ans Tageslicht gelangt.

Wie es zu diesen Ereignissen kam? Das ist eine lange Geschichte, die ich am besten anhand meines Tagebuchs und zahlreichen mit dem Mobiltelefon angefertigten Fotodokumenten im Corona-Jahr 2020 nacherzähle, beginnend mit Weihnachten 2019 und dem ersten Stammtisch dieses verdammten Jahres, an dem wir alle trotz dunkler Ringe unter den Augen noch recht fröhlich feierten.

Es folgten die Tage der Frühjahrs-Coronakrise, ein schöner und biergetränkter Sommer, die vielen Abschiede und das entsetzliche Ende im Dezember. Rückblickend muss ich gestehen, dass uns angesichts der Katastrophen, die wir erlebten, das Virus irgendwann egal war. Wir waren am Ende nur noch zu viert: Hans, unser Freund Psycho, der erst gegen Ende des Drink Teams zu uns stieß, meine Wenigkeit und Shaasdougn, der hässlichste, aber liebenswürdigste Hund in Mitteleuropa. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, begann zu Weihnachten und endete ein Jahr später wiederum zu Weihnachten.

Theke, Antitheke, Syntheke

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