Читать книгу Theke, Antitheke, Syntheke - Rudolf Oeller - Страница 12

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Freitag, 7. Februar

im Gasthof zur Sauren Wiese

Alle waren da. Die Stimmung war trotz des grauen Wetters gut. Pasak benahm sich ausnahmsweise nicht daneben, der Knochenbrecher hatte seinen Dragoner mitgebracht, der in der letzten Woche Geburtstag gefeiert hatte. Sie verriet aber nicht ihr Alter. Ich wollte schon eine blöde Bemerkung machen, aber Hans hinderte mich mit einem Fußtritt daran.

Pumpe verkündete, dass er diese Woche wegen des Geburtstags von Dragoner und nächste Woche für den runden Geburtstag von Block Jane eine Runde spendieren werde. Jane hörte das nicht gerne, nickte aber freundlich und verbat sich jegliche offizielle Feier. Dass sie nicht mehr dreißig war, wussten wir, und für fünfzig war sie noch zu knackig. Charly ahnte, was Hans und ich dachten. Er grinste und raunte zu uns herüber: „Am geilsten sind die Weiber kurz bevor sie aus dem Leim gehen, hat schon Charly Bukowsky, selig, gesagt. Ich denke, er hatte recht.“ Zum Glück hörte das nur unser Wirt Blues.

Fat Lot bestellte sich ein großes Gulasch mit einem halben Liter Weihnachtsbock. Blues hatte das letzte Fass Bockbier, das er noch hatte, extra für uns zurückgehalten.

Che und Dragoner unterhielten sich angeregt mit Charly, der wieder einmal einen seiner Rettungseinsätze Länge mal Breite zum Besten gab. Mittendrin brüllte Che in die Runde: „Eyy Leute, hört euch das an, das glaubt ihr nicht.“

Charly ließ sich nicht lange bitten und legte los:

„Ihr kennt doch alle den Berggasthof Bruckerbauer. Ich hatte am letzten Samstag Nachtdienst und wollte mich um 1 Uhr schon etwas aufs Ohr legen, als unser Motorola-Piepser meldete, dass sich beim Bruckerbauer eine Tussi die Füße verbrannt hat. Wir sind dann nichts ahnend raufgefahren. Das dauerte eine Weile, denn der Bruckerbauer liegt auf über tausend Metern Seehöhe und bei dem starken Wind, der da gerade wehte, kommt kein Hubschrauber, schon gar nicht in der Nacht.“

„Jaja, wissen wir ja eh“, unterbrach ihn Fat Lot, „komm zum Wesentlichen.“

Charly kam jetzt in Fahrt. „Als wir ankamen, saß die Patientin schon heraußen und lächelte uns ganz lieb an. Die Lampe neben der Türe war zu schwach, also checkte ich ihre Stelzen mit der Taschenlampe. Da hat mich fast der Schlag getroffen. Die Haut an den Fußsohlen war weg. Völlig weg. Der Rest hatte wunderbares Röstaroma. Totales wipe out bis zur Muskulatur. Ich dachte schon den Hubschrauber anzufordern, aber in der Rettungsleitstelle erklärte mir Fredi, dass wegen des Schneefalls und wegen des starken Windes heute kein Pilot da rauffliegen würde. Also haben wir die Lady in den Rettungswagen getragen und ihre Füße in Schnee gepackt. Mir ist nichts Besseres eingefallen.“

Auch ich war früher Rettungsfahrer, ein paar Jahre sogar Ausbildner, besser: Lehrbeauftragter, wie es offiziell heißt, aber ich hatte schon vor zehn Jahren aufgehört.

Ich fragte Charly: „Was ist denn passiert? Hat die Braut auf der Herdplatte beim Bruckerbauer einen Tabledance hingelegt?“

„Nicht ganz, aber nah dran“, sagte Charly, „da lief ein Angstbefreiungsseminar der Volkshochschule, und die Teilnehmer mussten lauter Dinge machen, die eine Selbstüberwindung erfordern. So eine Art Dschungelcamp für Nicht-Promis. Am Samstagnachmittag mussten die Teilnehmer als letzte Übung barfuß über glühende Holzkohlen laufen.“

„Was!?“, Janes Entsetzen war echt. Hans und ich mussten heimlich grinsen, denn wir kannten den Trick.

„Gemach, gemach“, fuhr Charly fort, „der Trick besteht darin, dass es gar keinen Trick gibt und dass das jeder kann. Unsere Fußsohlen sind dick genug, es kostet lediglich etwas Überwindung. Die sind am Nachmittag auch alle drüber gelaufen, und es ist nichts passiert. Am Abend …“

„… haben sie dann zum Abschied zu viel abgepumpt“, warf Hans ein.

„Genau, lieber Hans. Die ganze Bande stand unter Rotweinästhesie, als sie ein Kohlenbingo veranstalteten. Wer am langsamsten über die glühenden Kohlen geht, hat gewonnen.“

„Und deine Patientin hat gewonnen!“, warf Jane ein.

„Richtig. Ich bin froh, dass wir sie mit ihren Grillstelzen lebend im Krankenhaus abliefern konnten.“

Pumpe und Pasak waren etwas blass geworden im Gesicht. Sie mochten Testosteron im Übermaß in der Blutbahn haben, aber Horrorgeschichten waren nicht ihr Ding, vor allem wenn Blut, Gedärme oder etwas in der Art auch nur angedeutet wurden. Pasak und Pumpe waren sich daher einig, als Pasak verlangte, das Thema zu wechseln. Ich verkniff mir jede Bemerkung, denn mir machen solche Gruselgeschichten nichts aus. Hans zwinkerte mir zu.

Irgendwann nach einigen Runden Bier begann Pasak unmotiviert zu stänkern. Er schimpfte auf unseren Staat, der angeblich zu wenig für die verarmten Menschen übrig hatte. Dann maulte er auf ganz Europa, auf die verdammten Kapitalisten, auf die Juden und am Ende auf das ganze westeuropäische Gesindel. Wir wunderten uns alle, denn so eine antikapitalistische Volksansprache hätten wir eher Che zugetraut.

Ausgerechnet Che war es, der Pasak heftig widersprach. Er begann eine Lobrede auf Europa, die uns alle sprachlos machte. Che wurde dabei immer lauter.

„Ich kann dieses saudumme Geschwätz nicht mehr hören. Zeig mir doch eine Weltregion, die es mit Europa aufnehmen kann! He? Na, was ist? Was haben die großen M – Mozart, Mendelsohn, Mahler – gemeinsam? Was vereint die großen B – Bach, Beethoven, Bruckner und Brahms? Worin liegt das Gemeinsame der großen S – Schubert, Strauß, Schumann und Sibelius? Es ist nicht nur die Musik. Es ist europäische Kunst vom Feinsten.“

Pasak war überrumpelt. Er wollte was sagen, aber er merkte wohl, dass ihm nichts Gescheites einfiel. Che fuhr fort und steigerte sich dabei. Er wurde immer lauter.

„Was haben die Dampfmaschine, der Ottomotor und der Dieselmotor gemeinsam? Was vereint den Stromgenerator, den Elektromotor und den Transformator? Worin liegt das Gemeinsame von Fernrohr, Mikroskop und Fotoapparat? Es handelt sich nicht nur um technische Entwicklungen. Es sind europäische Erfindungen, die den Gang der Geschichte verändert haben. Geniales Wissen kommt aus Europa. Was haben moderne Astronomie, Physik, Biochemie und Genetik gemeinsam? Was vereint Gravitationstheorie, Quantentheorie und Relativitätstheorie? Worin liegt das Gemeinsame von Funkgeräten, Röntgenröhren und LASER? Es sind nicht nur wissenschaftliche Revolutionen und bahnbrechende Erfindungen. Es waren Europäer, die diese Entdeckungen begründet und weiterentwickelt haben.

Der lange Arm europäischer Erfinder reicht bis zur Raumfahrt. Die ersten erfolgreichen amerikanischen Satellitenträger und die Mondrakete Saturn V waren Werke des genialen Deutschen Wernher von Braun. Die ersten sowjetischen Raketen einschließlich des Sputniks und der ersten bemannten Raumkapseln stammen vom Ukrainer Sergej Koroljow.“

Das Gesicht von Che hatte sich leicht rot gefärbt, so erregt war er. Da tönte die Stimme des Knochenbrechers dazwischen: „Mussolini.“ Che war aber nicht zu bremsen.

„Ok, da kamen auch Verbrecher wie Hitler, Mussolini und König Leopold von Belgien aus Europa, aber Schwerverbrecher haben alle Kontinente vorzuweisen. Ich könnte euch da etwas über Südamerika, speziell über Kolumbien, erzählen.“

„Ich dachte, du kommst aus Bolivien?“, fragte ich.

Che ging nicht darauf ein und lief zur Hochform auf. Er sprach, nein, er hielt eine Ansprache, die jedem Geschichtsprofessor zur Ehre gereicht hätte.

„Die ersten großen europäischen Philosophen gab es bei den Griechen, die ihre Art des Denkens an die Römer weitergaben. Die Zeit der Völkerwanderung brachte einen Rückschlag, aber dann kam das Mittelalter, wo der Keim für die Renaissance und die Aufklärung gesät wurde. Beides sind europäische Phänomene, die besonders Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien zuzuordnen sind. Das Zeitalter der Aufklärung, für die Namen stehen wie David Hume und Isaac Newton, Johann Wolfgang von Goethe und Immanuel Kant, Baruch Spinoza, Denis Diderot und Jean-Baptiste D’Alembert.“

Alle hörten jetzt zu. Jane saß mit offenem Mund da. Pasak konnte seinen Zorn und seine Scham kaum verbergen, dass ihm ausgerechnet ein schwuler südamerikanischer Brauereiarbeiter die Show stahl. Che fuhr fort:

„In Europa liegt der Ursprung des freien und aufgeklärten Denkens, es ist die Heimat freier Wissenschaften, freier Kunst, freier Gesellschaften und freier Menschen. Niemand wird uns dieses Erbe der Freiheit nehmen können, auch nicht kleinliche Politiker mit ihrem Drang zu immer mehr Vorschriften. Es lebe die Freiheit, es lebe das freie Denken und es lebe auch das Bier! Nieder mit den Feinden Europas!“

Che hatte das Glas erhoben. Donnernder Applaus ertönte, und wir prosteten uns alle zu. Der Einzige, der still in seiner Mappe herumkramte, war Charly.

„Eyy Charly!“, rief ich, „hat dich Ches Vortrag nicht interessiert?“

Charly erschrak, räumte seine Mappe weg und fragte mich, ob er mal zum Schießen mitkommen dürfe. Offenbar hatte er Che nicht zugehört.

„Du willst was?“

„Ich will wissen, ob ich mit einer Pistole umgehen kann. Ich weiß, dass ihr im Faustfeuerwaffenclub Gäste mitnehmen dürft.“

„Ja, das geht. Willst du jemanden umlegen?“

„Nein. Ich will nur einmal im Leben mit einer echten Knarre schießen. Den Knochenbrecher, Pasak und Pumpe habt ihr doch auch schon mal zum Schießen mitgenommen.“

„Ok, ok.“ Ich winkte Blues heran und fragte ihn nach dem nächsten „Ballermann“, wie wir es nannten. Wir vereinbarten mit Charly ein Schießtraining samt Einführung am 21. Februar um 19 Uhr am Schießstand. Anschließend würden wir zum Stammtisch gehen.

Hans hatte sich mit Che unterhalten und einen Buchtitel aufgeschrieben. Es ging um europäische Geschichte.

Hans, Pumpe und ich gingen zum Wurlitzer. Kurz darauf ertönten „Saved by the Bell“ von Robin Gibb, „Put a little love in your heart“ von Jacky de Shannon und „Honky Tonk Women“ von den Stones. Es wurde noch ein lustiger Abend.

Blues und ich vereinbarten, zum Schießen nicht die Artillerie mitzunehmen. So nannten wir unsere großkalibrigen Waffen, wie die „Desert Eagle“ und meine Smith & Wesson. Beide hatten Kaliber 44 und machten ordentliche Löcher. Wir wollten es bei Charly mit Kaliber 9 Millimeter ruhiger angehen lassen.

Bevor ich ging, schrieb ich ins Thekenbuch: „Es gibt Fach- und Mehrfachidioten.“ Ich klopfte Che auf die Schulter, lobte ihn ausdrücklich für seinen sensationellen Europavortrag, betonte mindestens dreimal, dass das nicht ironisch gemeint sei, und bat ihn, ausnahmsweise etwas ins Thekenbuch zu schreiben. Che überlegte mehrere Minuten, dann schrieb er hinein: „Religion wird ihre alte Macht nicht wiedergewinnen, bis sie Änderungen ebenso ins Gesicht sehen kann wie die Wissenschaft.“

Ich war beeindruckt.

Theke, Antitheke, Syntheke

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