Читать книгу Theke, Antitheke, Syntheke - Rudolf Oeller - Страница 14

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Freitag, 21. Februar

im Gasthof zur Sauren Wiese

Charly, Blues und ich trafen uns wie vereinbart am Schießstand des Faustfeuerwaffenclubs. Blues hatte seine HK45 mitgebracht. Er besaß die Kurzversion mit 100 mm Lauflänge. Weiters hatte er seine Walther PPK/S mit, die James Bond-Knarre, wie er stolz verkündete. Ich hatte meine 9 Millimeter-Beretta mitgenommen. Blues besaß das gleiche Modell. Blues hatte seine Desert Eagle Kaliber 44 und ich meine Smith & Wesson 44er-Magnum zu Hause gelassen. Wir wollten es beim ersten Mal noch nicht laut werden lassen. 9 Millimeter und Kaliber 45 reichten für den Anfang.

Zuerst erklärten wir Charly einfache Grundregeln, wie etwa, dass man niemals mit der Waffe herumfuchtelt, auch wenn sie ungeladen ist. Dann schärften wir ihm ein, dass am Schießstand die Waffe leergeschossen oder entladen werden muss, bevor man sie ablegt. Dann ging es um die Benützung des Sicherungshebels, das Füllen der Magazine und das Laden. Charly war hochkonzentriert und wiederholte alle Vorgänge mit eigenen Händen. In Hollywoodfilmen und Krimiserien sieht man nie genau, wie das geht. Das ist Absicht, erklärten wir Charly. Er hatte auch schnell kapiert, dass es Waffen gibt, die auch dann noch feuern können, wenn man das Magazin entfernt hat, im Lauf aber noch eine Patrone steckt. Charly staunte auch darüber, dass der Schlitten nach dem letzten Schuss automatisch arretiert wird. Nach ein paar Minuten hatten wir genug erklärt.

Dann begann das Schießen. Blues und ich passten abwechselnd auf Charly auf, denn Anfänger sind oft nervös und machen Blödsinn, aber Charly benahm sich wie ein alter Hase. Mit dem Zielen klappte es noch nicht. Auf fünfundzwanzig Meter Entfernung brachte er von sechs Kugeln nur drei auf die Scheibe, von Treffern ins Schwarze ganz zu schweigen. Blues und ich lachten und trösteten ihn damit, dass kein Anfänger jemals ein Scharfschütze war. Charly durfte mit allen mitgebrachten Modellen schießen. Nach dem fünften Magazin durchlöcherten immerhin alle seine Kugeln irgendwo die Scheibe. Blues und ich applaudierten.

Charly wollte alles wissen, beispielsweise, was es mit den Zahlen 44 bei meiner Magnum und 45 bei Blues’ Heckler & Koch auf sich hat. Blues erklärte, dass es sich dabei um Zoll handelt. Damit misst man in den USA nicht nur Bildschirmgrößen, sondern auch Kaliber. Ein Zoll hat 2,54 Zentimeter. 44er bedeutet 0,44 Zoll, und das macht dann 11 mm. So ein Ding macht Riesenlöcher, wie ich anmerkte, vor allem, wenn man Halbmantelgeschoße verwendet. Charly war begeistert.

Irgendwann nach über hundert verschossenen Patronen hatten wir genug Pulverdampf eingeatmet. Das Schöne an diesem Pulverrauch ist, dass man einen ordentlichen Durst bekommt.

Nachdem wir in der Sauren Wiese angekommen waren, hatte Charly das Bedürfnis, martialische Musik zu hören. Blues hatte in der Musikbox aber kein Heavy Metal lagernd, also hörten wir zur Einstimmung auf den Stammtisch „Street fighting Men“ von den Rolling Stones, „Fire“ von The Crazy World of Arthur Brown und „Highway to Hell“ von AC/DC. Ich drückte als flankierende Maßnahme noch „Riders On the Storm“ von den Doors.

Als die anderen eintrudelten, hatten Charly und ich schon das erste Bier intus. Blues war längere Zeit Unteroffizier beim Militär gewesen. Er kannte sich mit Waffen aus und konnte Charly mehr erklären als ich. Charlys Wunsch, der nie bei einem Militär gedient hatte, war, er wollte auch mit einer Maschinenpistole und einem Sturmgewehr schießen, aber da müsste er in die USA fliegen und bei einem Schützenverein nachfragen, wie ihm Blues erklärte.

Der Abend verlief ruhig, denn Charly und Pasak gingen sich aus dem Weg. Hie und da hatten die beiden ein Problem miteinander, aber niemand wusste, warum.

Der Dragoner nuckelte an einem Cuba Libre, Jane hatte ein Glas ihres geliebten Rieslings vor sich, und wir, die Schwätzer-Machos, tranken Bier. Fat Lot und Pasak schneller als alle anderen.

Irgendwann entspann sich ein Gespräch zwischen Pasak, Pumpe und Blues. Es ging um „erektile Dysfunktion“. „Das ist halt sowas wie Dyslexie, nur am Pimmel halt“, sagte Blues, „aber das kann man ja dank Viagra, Cialis usw. in den Griff bekommen. Bei Dyslexie geht das nicht.“ Pumpe ärgerte sich über die vielen Fremdwörter. „Könnt ihr bitte auf eure blöden Obergescheitwörter verzichten?“ Blues bescheinigte Pumpe daraufhin eine intellektuelle Dysfunktion, was nicht einmal die anderen verstanden.

Hans hatte das richtige Kapitel im richtigen Buch parat. Er las vor.

Das Kürzel „dys“ klingt so wie sein Inhalt. Es ist etwas Negatives. „Dys“ ist Griechisch und bedeutet so viel wie „schlecht“ oder „von der Norm abweichend“. Dyslexie bedeutet Probleme mit dem Lesen, Dyskalkulie bezeichnet Rechenschwäche, Dyspraxie wird bei Kindern mit Bewegungsproblemen diagnostiziert und erektile Dysfunktion kann man mit Viagra & Co bekämpfen.

Pumpe gab sich damit zufrieden. Der Knochenbrecher war zu uns gestoßen, auch Charly. Der brummte: „Dys-Scientismus wäre eine berechtigte Wortschöpfung. Es geht um einen wissenschaftlichen Analphabetismus, der sich großteils im Bereich der Mathematik und Statistik, aber auch in anderen Bereichen zeigt.“ Charly hatte doch tatsächlich ein technisches Magazin eingesteckt, schlug eine Seite auf und las vor:

In einer Tageszeitung war kürzlich zu lesen, dass es in Wien im Jänner um 337 % zu warm war. Wer zu schnell gelesen hat, sah wahrscheinlich 337 Grad, aber das kann nicht stimmen, denn das liegt über dem Schmelzpunkt von Blei. Bleigießen mit Hilfe der Wintersonne geht nicht. Der Prozentfehler war auf simple Weise zustande gekommen. Die Journalisten hatten einfach wild drauf los gerechnet und dabei danebengegriffen.

Die Durchschnittstemperatur liegt in Mitteleuropa im Jänner um die 0,8 °Celsius. Letztes Jahr war es 2,7 ° zu warm. Die Rechnung 2,7 dividiert durch 0,8 ergibt 3,37 und das sind die erwähnten 337 %. Das ist schon eine Schlagzeile wert. Wenn wir die eher unbekannte Kelvin-Skala verwenden, die bei –273,15 °C beginnt, bekommen wir ein anderes Ergebnis. Die Durchschnittstemperatur im Jänner wäre dann 274 Kelvin. Rechnen wir die Erwärmung (plus 2,7 Kelvin) aus, erhalten wir nur 1 % Zuwachs. Diese kleine Zahl liefert leider keine brauchbare Schlagzeile. Jetzt nehmen wir uns die in Amerika übliche Fahrenheit-Skala vor. Unsere Jänner-Durchschnittstemperatur wäre dann 33,4 °F(ahrenheit). Die Temperatur lag im Jänner um 5,4 °F über dem Durchschnitt. Das ergibt eine Zunahme um 16 %. Wir haben also drei verschiedene Wachstumswerte: 1 % (Kelvin), 16 % (Fahrenheit) und 337 % (Celsius). Keine der Zahlen sagt etwas aus, denn die Verwendung von Prozentzahlen bei Temperaturskalen ist ähnlich sinnvoll wie der Vergleich von Eisenbahnfahrplänen mit Speisekarten. Es wurden, einfach gesagt, Äpfel durch Gurken dividiert.

Es entspann sich eine ausnahmsweise niveauvolle Diskussion über Experten und Dysperten, wie Charly sie nannte. Die mathematischen Kenntnisse unter gewissen „Dysperten“ sind tatsächlich nicht berauschend. Leider sind naturwissenschaftliche Kenntnisse genauso schwach gestreut. Zahlen und Namen kann man nachschlagen, aber mehr nicht. Naturwissenschaftlich-mathematisches Denken kann man dagegen nicht in Büchern finden, wie uns Dysperten weismachen wollen. Analytisches Denken muss genauso wie Musik, Sprachen, Sport und andere Fähigkeiten laufend trainiert werden. Wikipedia ist nutzlos für Dyslektoren, Dysperten und andere Dys-Zeitgenossen.

Jane hatte die letzten Sätze mitgehört und uns daraufhin als „Dys-Erotiker“ bezeichnet. Offenbar fand sie das witzig. Der Dragoner nickte kichernd.

Wir wechselten das Thema. Charly und Pasak kehrten wieder an den runden Tisch mit ihren Gläsern zurück, Fat Lot bestellte eine Bratwurst mit Pommes und Hans holte ein Buch von Noam Chomsky hervor. Wir begannen, uns leise über Chomsky zu unterhalten, weil das niemanden außer uns interessieren würde. Noam Avran Chomsky ist ein amerikanischer Sprachwissenschaftler. Er war Assistenzprofessor für moderne Sprachen und Linguistik am Massachusetts Institute of Technology. 1961 wurde er Professor. Chomsky entwickelte eine Theorie, nach der Sprachkompetenz das Ergebnis einer angeborenen menschlichen Fähigkeit ist. Chomskys Forschungsinteresse galt einer Universal-Grammatik, die den weiten Bereich der menschlichen Sprachen erklärt.

Chomsky wurde nicht nur als Sprachwissenschaftler, sondern auch als politischer Aktivist und Autor bekannt. Er wandte sich gegen die Beteiligung der USA am Vietnamkrieg und ist einer der Kritiker der Globalisierung. „Ich mag diesen Rebellen“, sagte Hans, und ich gab ihm recht. Kaum war das Wort „Rebell“ gefallen, kam Pasak neugierig an die Theke und fragte nach, wen wir da meinten. „Nichts für dich und die anderen“, speiste ihn Hans trocken ab.

Doch da war es schon zu spät. Die ganze Macho-Bande kam daher, denn jeder von uns war ein selbsternannter Rebell. Jane und der Dragoner blieben im Hintergrund und schauten belustigt zu uns herüber.

Ich erklärte den Umstehenden, dass Chomsky ein jüdischer Professor jenseits der Neunzig ist, gleichzeitig aber auch als Anarchist und Rebell gilt. „Sein Intelligenzquotient ist höher als der von Pasak, Che, Fat Lot, Pumpe und Knochenbrecher zusammengerechnet“, sagte Hans. „Das ist leicht“, ergänzte ich, schnappte mir das Buch „Sprache und Verantwortung“ und las vor.

Ich wurde häufig von Universitäten aufgefordert, in Seminaren und Kolloquien über mathematische Linguistik zu sprechen. Keiner hat mich je gefragt, ob ich die angemessenen Legitimationen hätte, um über diese Themen zu reden. … Was sie wissen möchten ist lediglich, was ich zu sagen habe. Keiner hat je Einwände gegen mein Recht zu reden erhoben und gefragt, ob ich einen Doktorgrad in Mathematik habe. … Die Diskussion drehte sich um den Gegenstand, nicht um mein Recht, ihn zu diskutieren. Auf der anderen Seite wird in einer Diskussion oder Debatte über gesellschaftliche Fragen … dieser Einwand ständig erhoben, häufig auf erheblich giftige Weise. Ich wurde wiederholt aufgefordert, meine Qualifikation nachzuweisen, oder gefragt, „was für eine Fachausbildung haben Sie, die Sie berechtigt, über diese Angelegenheit zu reden?“ Es wird vorausgesetzt, dass Leute wie ich, die von einem beruflichen Gesichtspunkt her Außenseiter sind, nicht berechtigt sind, über derartige Dinge zu reden. … In der Mathematik, in der Physik beschäftigen sich die Leute mit dem, was man sagt. Nicht mit den Beglaubigungen, die man hat. … Ganz allgemein gesprochen scheint es gerechtfertigt zu sein, wenn man sagt, je reicher die intellektuelle Substanz eines Gebietes ist, desto weniger besteht Interesse an Qualifikationsnachweisen und desto größer ist das Interesse am Inhalt.

Che hatte wie immer den Durchblick: „Chomsky beschreibt hier eine Binsenweisheit. Je substanzloser die Kritik, desto persönlicher ist sie. Das kennen wir aus Talk-Shows.“

„Conny, was gibt’s?“, schrie der Dragoner mit schmerzhaft schriller Stimme herüber. „Nix, Henry.“ Der Knochenbrecher nannte seinen Dragoner nicht Henriette, sondern Henry, „es geht um Rebellen, also um uns.“ „Alter Angeber!“, rief Dragoner zurück. Jane musste lachen.

Pumpe fand den Text interessant. „Habt ihr noch mehr von der Sorte?“, fragte er. „Kennst du Sir Popper?“, war meine Gegenfrage, „der dachte ähnlich wie Chomsky.“ Popper kannte wiederum der Knochenbrecher. „Ja, das war doch ein Philosoph, oder?“

Hans kramte in beiden Bücherstapeln und holte ein vergilbtes Taschenbuch, „Worthülsen für Anfänger“, hervor. Er suchte eine bestimmte Stelle und fand sie auch. „Leute, das wird euch gefallen!“, verkündete er. Der Dragoner und Jane kamen nun auch an die Theke.

Die dümmsten Bauern haben die größten Erdäpfel. Diese bekannte Redewendung kann man auch geschwollen ausdrücken: „Die Fertilität von solanum tuberosum ist indirekt proportional dem Intelligenzquotienten des Agrarökonomen.“ Dieser Satz klingt intellektuell einschüchternd und besagt im Grunde nichts anderes als der erste. Die Übersetzung: „Die Fruchtbarkeit der Kartoffel verhält sich anders als die Klugheit des Bauern.“ Es geht hier jedoch nicht um das Denkvermögen von Berufsgruppen, sondern um die leidige Sitte, echte oder vermeintliche Bildung durch unmäßigen Gebrauch von Fremdwörtern in den Vordergrund zu stellen. Es geht um das lästige Unvermögen, einfache Dinge verständlich auszudrücken.

Die erste internationale Sprache der Wissenschaft war Griechisch. Eine große Zahl von wissenschaftlichen Fachausdrücken verdanken wir dem Griechischen. Auch bedeutende Schriften, wie etwa die Evangelien, wurden in griechischer Sprache geschrieben. Latein als Informationsträger des Wissens sollte sich erst später durchsetzen.

Untersucht man die geheimnisvolle Ausdrucksweise der Wissenschaft etwas genauer, so stößt man regelmäßig auf die gleichen griechischen und lateinischen Wörter, die einschlägige Lexika gut erläutern. „Hyper“ (griechisch) bedeutet beispielsweise „darüber“ oder auch „mehr als die Hälfte“. „Hypo“ (griechisch) bedeutet „darunter“. „Tonus“ (lateinisch) heißt „Spannung“. Unter Hypertonie und Hypotonie versteht man in der Medizin nichts anderes als hohen und niedrigen Blutdruck. Innerhalb der Wissenschaften sind definierte Fachausdrücke unverzichtbar. Im Umgang mit Patienten oder mit interessierten Laien unterscheidet sich jedoch der gute Arzt oder Vortragende von den Schwadroneuren. Letztere verstecken sich hinter klangvollen Fremdwörtern. Erstere präsentieren ein Thema so umgänglich, dass auch Nichtfachleute das vermittelte Wissen verstehen.

Die Unsitte, mit Fremdwörtern eine Art Schaumsprache zu erzeugen, ist in den Kulturwissenschaften des deutschen Sprachraumes weit verbreitet. Der Philosoph Sir Karl Popper (1902–1994) hat diese Unart in einem erst vor wenigen Jahren veröffentlichten Brief („gegen die großen Worte!“) angeprangert. Popper „übersetzt“ darin unter anderem Sätze der Philosophen Theodor Adorno und Jürgen Habermas vom Fremdwörter-Kauderwelsch ins Deutsche. Popper kommt dabei mit der Hälfte der Wörter aus. Popper meinte dazu sarkastisch: „Das grausame Spiel, Einfaches kompliziert und Triviales schwierig auszudrücken, wird leider traditionell von Soziologen, Philosophen usw. als legitime Aufgabe angesehen.“ Der wahre Philosoph und Wissenschaftler wählt laut Karl Popper seine Worte so, dass allgemein verstanden werden kann, worum es geht.

Den Text hatten alle verstanden, und sofort begannen Hans und ich mit lustigen Blödeleien, und die Kerle machten mit, ohne sich groß zu blamieren. Das hatte ich denen gar nicht zugetraut.

Hans legte los: „Der Geruchskoeffizient gewisser finanzieller Mittel ist permanent gleich null.“ „Geld stinkt nicht“, rief ich. Großer Applaus.

Hans hatte inzwischen die Seite gefunden, auf der einige entsprechende Texte standen.

Jetzt war ich dran: „Schallwellen werden von dicht stehenden Bäumen reflektiert.“

„Wie man in den Wald hineinruft, so tönt’s einem entgegen“, sagte Jane, die unter lautem Hallo jetzt das Buch übernahm. „Bewohner von transparenten Domizilen sollten keine transzendenten Bewegungen mit fester natürlicher Materie durchführen.“ „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen“, platzte Pasak heraus, der jetzt an der Reihe war. So ging es eine Zeitlang weiter.

Es wurde ein selten lustiger und harmonischer Abend. Ich schrieb infolgedessen ausnahmsweise einen netten Spruch ins Thekenbuch: „Bescheidenheit ist deswegen so beliebt, weil sie die Arroganz erleichtert.“ Hans schrieb darunter: „Diskutiere nie mit einem Irren. Die Leute würden den Unterschied nicht merken.“

Es war schon weit nach Mitternacht, als wir alle nach Hause gingen. Pasak kündigte noch einen „Abstecher“ ins Stiff Bones an. Pumpe ging gut gelaunt mit ihm.

Theke, Antitheke, Syntheke

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