Читать книгу Theke, Antitheke, Syntheke - Rudolf Oeller - Страница 17

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Freitag, 13. März

in der Sauren Wiese

Nach und nach trudelte die Bande ein. Der Knochenbrecher kam etwas später und teilte uns ungefragt mit, dass seine Henry noch später kommen würde.

Jane ließ gleich zu Beginn des Abends die Welt untergehen und erzählte sofort, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO COVID-19 zur Pandemie erklärt hat.

Hans und ich interessierten uns nicht für Weltuntergangsgeschichten und blätterten schweigend in unseren Büchern, zeigten auf die eine oder andere Stelle und lasen leise Textstellen, von denen wir wussten, dass das die anderen Prolos ohnehin nicht verstehen würden. Jane ließ nicht locker und fragte immer wieder, ob jetzt die Menschheit aussterben würde. Irgendwann stieß irgendwer das Thema Nostradamus, Astrologie usw. an.

Das Thema interessierte mich nicht, doch Hans fischte eine Zeitschrift aus seiner Tasche und las laut vor, obwohl ich deutlich meinen Daumen nach unten gedreht hatte.

Die Seher haben für 2019 keine Katastrophe ausgelassen, das Motto lautete, irgendwas werde schon passieren. Neben den üblichen Vulkanausbrüchen, Erdbeben, Tsunamis und Waldbränden schrammten auch realitätsnahe Prognosen am tatsächlichen Geschehen vorbei: Wie zum Beispiel ein harter Brexit, das Ende von Facebook oder der Rücktritt der deutschen Bundesregierung im Frühjahr 2019. Beim US-Präsidenten waren die Prognosen der Seher chaotisch: Trump tritt zurück (Rose Smith), Trump bleibt Präsident (Susan Rowlan), Trump wird Opfer eines Anschlags (Nikki Pezaro, Craig Hamilton-Parker und andere). Die originellsten Vorahnungen waren die Entdeckung eines Riesenaffen à la King Kong, ein ins Weiße Haus einbrechender Papagei und der gleichzeitige Bundesligaabstieg von Bayern München und Borussia Dortmund.

Die in den Regenbogenmedien beliebten Promiprognosen produzierten wie immer Wer-mit-wem-Geschichten. Dabei ist ein wiederkehrendes Muster zu erkennen: Promipaare trennen sich, Singles finden einen Partner, bei Älteren werden Gesundheitsprobleme, bei Frischvermählten eine Schwangerschaft vorhergesagt. Es gab auch Mutmaßungen, die kaum überprüfbar sind. Angela Merkel soll im November laut Astrologin Elizabeth Teissier an Rücktritt gedacht haben und Helene Fischer hat sich laut Astrologin Susy Schädler irgendwann wieder für Florian Silbereisen interessiert.

Echte Prognosen sind langfristig unmöglich, und wenn sie zutreffen, so handelt es sich um Zufallstreffer. Die Mehrzahl der Astrologen wagt sich daher seltener an exakte Ankündigungen.

Nicht alle lachten, denn wir hatten in unserer Runde in paar heimliche Hobby-Esoteriker und Nebenberufs-Astrologen.

Pasak setzte eines drauf: „Jede Religion schlägt in ihrer Unbedarftheit Esoterik und Astrologie um Längen.“ Das wiederum machte Jane wütend. Sie war zwar nicht bigott religiös, über ihr Christentum ließ sie jedoch nichts kommen. „Beim Alten Testament der Bibel kenne ich mich zu wenig aus“, sagte sie zu Pasak, „aber ich glaube an jedes Wort, das im Neuen Testament geschrieben steht.“

Mit dieser Aussage lief sie Pasak ins offene Messer.

„Du glaubst jedes Wort? Ehrlich? Ein wesentlicher Teil des Neuen Testaments ist die Geschichte der Auferstehung. Bei Matthäus kommen zwei Frauen zum Grab von Jesus. Daraufhin erscheint ein Engel, wälzt den Stein weg und setzt sich auf den Stein. Bei Markus kommen drei Frauen zum Grab. Der Stein ist bereits weggewälzt, ein Engel sitzt im Grab drinnen und spricht zu den Frauen. Lukas berichtet, dass mehrere Frauen zum Grab gehen, das Grab leer finden, worauf zwei Männer erscheinen und zu ihnen sprechen. Bei Johannes kommt nur eine Frau zum Grab, findet es leer, geht zu den Jüngern, worauf diese kommen und staunen. Engel oder Männer erscheinen bei Johannes keine mehr.“

Jane war verblüfft. „Wieso weißt du solche Details?“, fragte sie mit erstauntem Gesicht, doch Pasak winkte ab: „Ich kann lesen.“ Dann setzte Pasak nach:

„Manche Bücher, darunter die Bibel, wurden rückblickend geschrieben. Im vorliegenden Fall ging es den Verfassern der Evangelien weniger darum, genaue Fakten zu dokumentieren. Die Autoren wollten Glaubensansichten darstellen. Sie glaubten daran, dass Jesus auferstanden war. Da es keine Augenzeugen gegeben hatte, mussten sie die Geschichte nach ihrer Vorstellung nacherzählen. So entstanden verschiedene Berichte. Welcher von ihnen wortgetreu richtig ist, wissen wir nicht.“

Charly erhob seinen Zeigefinger: „Unser Pasak verschweigt uns da was.“ Charly hatte recht. Pasak redete normalerweise ganz anders. Diesmal klang es so, als ob er Philosophie oder Theologie studiert hätte. Damals wusste ich nicht, wie nahe ich der Wahrheit war. Pasak ahnte unsere Gedankengänge, es schien ihm unangenehm zu sein: „Ein Bier für den oder diejenige, die das Thema wechselt.“

Der Dragoner kam mit lautem „Hallooo!“ herein, bestellte einen Cuba Libre und legte mit einem Witz los: „Neulich habe ich den Polizeinotruf gewählt. Ich verlangte einen Sprengmeister, weil im Bett neben mir ein Blindgänger liegt.“

Wir lachten höflich. Pasak klopfte sich auf die Schenkel. Nur der Knochenbrecher konnte nicht lachen. Stattdessen schaltete er schnell und lieferte seinerseits: „Wenn eine Frau mit ihren unteren Lippen eine Walnuss knacken kann, sollte sie mit dem Bodybuilding aufhören.“ Da der Dragoner eine stämmige Figur hatte, wussten wir, wer gemeint war. Der Dragoner lächelte bemüht, ein paar riefen: „Prost!“

Der Dragoner und Jane unterhielten sich für den Rest des Abends angeregt, wobei sie sich brav mit Jeanine und Henriette anredeten. Der Dragoner pumpte einen Cuba Libre nach dem anderen ab, Jane blieb bei ihrem Weißwein.

Es war schon spät, als sich die Runde allmählich auflöste.

Hans und ich kramten noch in unseren Büchern herum, als Blues mit einer Mappe daherkam und fragte, ob das einem von uns gehörte. Ich erklärte ihm, dass er das früher hätte fragen sollen, als noch alle da waren, aber er meinte nur, dass er nicht immer an alles denken könne. „Das liegt seit zwei Wochen hier, irgendjemand muss es vergessen haben.“

„Wer sagt, dass das einem von uns gehört?“

„Keine Ahnung. Ihr seid doch die Bücherwürmer.“

Hans hatte inzwischen die Mappe geöffnet. Darin lagen lose Blätter vergilbtes Büttenpapier, einige Blätter waren verklebt. Es sah aus wie ein Teil eines kaputten Buches, das darauf wartete, neu gebunden zu werden. Der Titel „Teras“ auf dem ersten Blatt hatte Hans neugierig gemacht.

„Teras?“, fragte ich.

„Ja, Teras ist Griechisch und bedeutet Ungeheuer, wie wir inzwischen wissen. Es geht eventuell um einen Seher.“

„Na sowas! Schon wieder Astrologie. Was hat er denn gesehen?“

Hans blätterte herum. „Weiß ich nicht. Es scheint um den baldigen Weltuntergang zu gehen. Klingt cool.“

„Weltuntergang? Wenn’s nicht mehr ist! Respekt! Wer hat denn das Zeug geschrieben?“

„Ein gewisser Zacharias Amesreiter aus Nürnberg, so steht es auf dem Deckblatt, aber die Hauptperson des Buches scheint ein geiler Wandermönch namens Paolo zu sein.“

Jetzt war ich voll dabei. Endlich einmal etwas richtig Abgefahrenes.

Hans blätterte herum. „Besagter Amesreiter war angeblich Mitglied eines Geheimordens namens Mercurius Trismegistus. Keine Ahnung, wer oder was das ist.“

In der Zwischenzeit hatten Hans und ich zu lesen begonnen, was uns einige Mühe bereitete, denn es handelte sich um eine alte Schrift, wie sie im 17. Jahrhundert oder vielleicht auch früher verwendet wurde. Einige Seiten waren in deutscher Kurrentschrift verfasst. Aus purer Neugier fotografierten wir einen Teil des Buches mit meinem Smartphone.

„Ok“, sagte ich zu Blues, „wir kümmern uns darum. Wir fragen einfach unsere Theken-Prolos der Reihe nach. Das Buch dürfte eine Rarität sein. Sowas ist kein Allerwelts-Schinken.“

Hans und ich waren die Letzten im Lokal. Hans begann vorzulesen.

Die Lektüre erschien uns gleichermaßen blöd wie dämonisch. Es gab kein Impressum, und es fehlte auch eine Jahreszahl. Lediglich dieser Amesreiter, ein geheimnisvoller Mercurius, und dieser Mönch namens Paolo Corvo wurden erwähnt. Ich hatte nie von denen gehört.

DIE ROTE MAGIE von Professor Zacharias Johannes Jakobus Amesreiter aus Nürnberg.

LITERA I

Bruder Paolo schreibt über sein Leben.

Meine Brüder!

Wir haben die Bruderschaft des Mercurius Trismegistus gegründet, und Ihr sollt meine Gründe erfahren, warum ich das getan habe.

Mein Name ist Paolo Filippo Corvo. Meine Mutter nannte mich Filippo. Ich bin in der Nähe von Neapel geboren. An meinem vierzehnten Geburtstag bin ich in den Orden der Dominikaner eingetreten, und dort erhielt ich den Klosternamen Paolo. Meine Mitbrüder nannten mich zu Beginn „Bruder Paolo“, später auch Bruder Corvo. Das bedeutet Rabe. Ich habe mich schon früh der Kunst der Alchemie gewidmet und der Rabe gilt als ein besonderes Tier der Alchemisten. Der Rabe ist das Symbol geheimer Kräfte, ein Bild der Veränderung und Umwandlung.

Wenn mein irdisches Leben zu Ende gehen wird, werden mich die Büttel der Inquisition als „Ouroboros draco“ verspotten – als den Weltendrachen, das Zeichen der ewigen Erneuerung. Der Inquisitor – ein geiler Rattenbock und hemmungsloser Knabenschänder – wird mich beschuldigen, ein „Teras“, ein Monstrum, zu sein. Das Heilige Officium wird auf Befehl des Heiligen Vaters Paulus V. – als Kardinal Camillo Borghese selbst ein ehemaliger Inquisitor – von mir ein Geständnis zu erzwingen versuchen. Ich werde nicht gestehen, ich werde kein Urteil unterschreiben, und ich werde keine Abschwörungsformel lesen, weil ich geheime Essenzen besitze, die meine Seele und meinen Willen stärken und mich von allen Schmerzen befreien. Ich werde der Folter, und sei sie noch so grausam, widerstehen.

Im Kloster las ich die Evangelien, die Philosophie des Aristoteles und die Theologie des Thomas von Aquin. Besonders aber widmete ich mich der Alchemie. Da ich auch heimlich die Philosophien des Heraklit, des Epikur und des Demokrit studierte und zu diesem Zweck verbotene Bücher aus der Bibliothek entwendete, bestrafte mich mein Abt – ein einfältiger und ungebildeter Tor – und ließ mich sechs Monate zur Buße in den Kerker stecken. Nach Verbüßung meiner Strafe verließ ich über Nacht das Kloster und ging auf Wanderschaft in Richtung Norden.

Im Kloster St. Medardi zu Soissons, in dem ich mich ein Jahr lang aufhielt und den Mönchen zeigte, wie man Testamente und Schenkungsurkunden brauchbar verfasst, gab es nach meiner Abreise eine große und bedeutende Werkstatt für falsche Dokumente. Viele Pfaffen verschmähen kein Mittel, um reich zu werden, denn sie hatten es längst erkannt, dass Geld Macht bedeutet. Zudem wollten sie gut leben. Ihre Gelübde wussten sie damit trefflich zu vereinigen, und was die Stifter der Klöster gegeben hatten, wurde von ihren Nachfolgern so eingerichtet, dass es ihnen zu einer Quelle des Erwerbes und Wohllebens wurde.

Die Messe war, wie die Mönche lehrten, die einzige Labung für die armen Seelen im Fegefeuer, die mächtigste Schreckgestalt für den Teufel. Sie war für einen bestimmten Geldbetrag zu haben. Die Bettelmönche, wie ich vor wenigen Jahren einer war, taten es noch wohlfeiler. Wir lasen die Messe für die Hälfte.

So gern wir Mönche auch nahmen, so ungern ließen wir uns etwas nehmen. Jeder, der dies versuchte, wurde von uns kurzerhand verflucht. Ich benützte dazu eine von mir erdachte Formel, die von anderen Mönchen begierig kopiert wurde. „Sein Name sei vertilget aus dem Buche des Lebens; und alle Plagen Pharaons sollen ihn treffen – der Herr werfe ihn aus seinem Eigentum, und gebe solches seinen Feinden. Sein Teil sei bei dem Verräter Judas, seine Äcker werden wie Sodom verderben, sein Haus wie Gomorrha. Die Luft schicke Legionen Teufel über ihn. Er sei verflucht vom Fuße bis zum Haupte, dass ihn die Würmer mit Gestank verzehren und seine Eingeweide ausschütten wie Judas. Sein Leichnam werde verzehrt von den Vögeln und wilden Tieren, und sein Gedächtnis von der Erde verzehrt. Verflucht seien alle seine Werke, verflucht sei er, wenn er aus- und eingeht, verflucht sei er im Tode wie ein stinkender Hund, und wer ihn begräbt, sei vertilgt. Verflucht die Erde, wo er begraben wird, und er bleibe bei den Teufeln im höllischen Feuer!“ Bei diesen Worten verging jedem frommen Christen der Appetit, einen Mönch oder ein Kloster zu besteuern!

Nach meinen Wanderjahren als Bettelmönch besann ich mich meiner philosophischen und theologischen Ausbildung und stellte mich in größeren Städten als Lehrer dieser ehrwürdigen Wissenschaften vor. Ich besuchte Wien, Prag, Toulouse, Paris, London und Frankfurt und andere Orte, wo mir gönnerhafte Menschen, Fürsten, Äbte, Gesandte und Professoren ihre Bibliotheken und Räume für meine Studien zur Verfügung stellten und wo ich berühmte Gelehrte traf, mit denen ich oft heftige Disputationen führte. An den Universitäten in Paris und London durfte ich Philosophie und Theologie lehren. In dieser Zeit verfasste ich Texte über das unendliche All, die Entstehung der Welt und die Gesetze der Natur und die neue Lehre von einem „Deus evolutus“.

Während dieser Jahre lernte ich auch schöne und edle Frauen kennen, die ich mit meinen ungewöhnlichen Gedanken für mich gewinnen konnte. Viele von ihnen liebten zuerst meine sinnlichen Worte, und dann meine Philosophie. Ich fand Zugang zu ihrem Geist, zu ihren Herzen und schließlich zu ihren Körpern, und so durfte ich vielen von ihnen beiwohnen, so oft ich Verlangen danach hatte.

Die Tage gehörten den Büchern und den alchemistischen Forschungen, die Nächte den gebildeten und wollüstigen Frauen und Mätressen der Fürsten, Bischöfe und Kaufleute. Die Zeit war gleichermaßen erfüllt mit den Begierden des Geistes und des Leibes. Ich sage, dass es eine unermessliche Schande ist, die Freuden des Leibes als Sünde zu bezeichnen. Ich spreche daher jedes Mitglied unserer Bruderschaft von den vermeintlichen Sünden des Bauches frei, solange kein Gewaltverbrechen damit verbunden ist.

Meine ars amandi gefiel den Frauenzimmern. Es vergingen die Nächte mit geistreichen Gesprächen und dem lustvollen Geschrei meiner Konkubinen. In vielen Fällen musste ich mich der Schweigsamkeit des Küchenpersonals und der Dienerschaft versichern. Die Diener wurden mit Geld, das weibliche Küchenpersonal mit Liebeskünsten zum Schweigen gebracht. Mein Laster blieb nie für länger als einige Monate geheim. Immer dann, wenn die betrogenen Männer meines wollüstigen Tuns gewahr wurden, musste ich die Flucht ergreifen. Ich wurde auch einige Male gefangen und in den Kerker geworfen, aber es fanden sich stets Frauenzimmer, die mich mit Geld heimlich auslösten. Ich musste zuweilen versprechen, bald wieder zu erscheinen, aber das hätte in vielen Fällen meinen Tod am Galgen zur Folge gehabt.

Die letzten Jahre meines freien Lebens verbrachte ich an der Hochburg des lutherischen Glaubens, der Universität Tübingen, wo ich am evangelischen Stift arbeiten durfte. Den Aufenthalt an diesem Ort sowie die Inhalte meiner Vorlesungen an der Universität werden mir die Frömmler und Starrköpfe der römischen Inquisition vorwerfen. Nicht nur meine Philosophie ist für das Heilige Officium ein Ärgernis, sondern auch meine Lehrtätigkeit an einem Ort des Lutherischen Glaubens.

Hans schlug die Mappe zu, denn Blues hatte alle Lichter bis auf die Thekenlampe gelöscht. Er wollte uns höflich darauf aufmerksam machen, dass es Zeit war, zu gehen.

Hans und ich beschlossen, dem Inhalt des Buches auf den Grund zu gehen. Wir nahmen die Sache nicht allzu ernst, aber das hätten wir tun sollen.

Hans und ich fotografierten alle Seiten mit unseren Mobiltelefonen durch und gaben die Mappe an Blues zurück. Dann gingen wir nach Hause und schenkten dem Text keine weitere Beachtung.

Theke, Antitheke, Syntheke

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